Michael Hackethal

Stille Herzen


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      Sie holte einen Digitalrecorder aus ihrer Handtasche, legte ihn auf den Tisch und schaltete ihn ein.

      Der Häftling schaute sie neugierig an. Dann sagte er mit einem Lachen, das fast verlegen klang:

      „Darf ich erfahren, wie Sie heißen?“

      „Entschuldige“, gab die Frau zurück. „Mein Name ist Estella Corletti, Journalistin aus Bologna, Italien. Und du?“

      Er hätte vom Alter her ihr Sohn sein können, daher sprach sie ihn gleich mit du an.

      „Ich bin Boris, einundzwanzig Jahre alt, aus Priština. Wieso interessieren Sie sich für Frauenhandel?“

      „Das ist eine lange Geschichte, Boris. Mein Mann war Sizilianer, ebenfalls Journalist. Er hat über die Mafia geschrieben. Das hat er nicht überlebt. Als ich versuchte, seinen Tod aufzuklären, bin ich darauf gestoßen, dass jedes Jahr Zehntausende von Frauen aus Osteuropa nach Italien verschleppt werden. Das hat mich schockiert. Mein Mann hat an den Hintergründen dazu gearbeitet und belastende Beweise gesammelt. Nach seiner Ermordung habe ich eigene Recherchen begonnen und die Lieferkette Schritt für Schritt verfolgt. Deshalb bin ich jetzt hier.“

      Boris nickte langsam.

      „Verstehe.“

      Er überlegte einen Moment.

      „Was wollen Sie wissen?“

      „Mich interessiert, wie dieses Geschäft abläuft, wie die Preise sind, wer in Politik und Behörden geschmiert wird, welche Summen dafür gezahlt werden.”

      Der junge Mann lachte lautlos und schüttelte den Kopf.

      „Das ist eine Menge Sprengstoff, Lady. Glauben Sie im Ernst, jemand riskiert seinen Kopf, damit Sie Ihre Story schreiben können?“

      „Manchmal kann man nur staunen, was die Leute alles erzählen“, sagte sie.

      „Das wundert mich. Wer redet, wird zu einem Risiko.“

      „Das kommt darauf an. Wie viele Jahre hast du bekommen?“

      „Drei. Ich wurde beim Schmuggeln erwischt, aber ich war nur ein Handlanger.“

      „Was hast du geschmuggelt?“

      Boris schaute sie ohne jede Verlegenheit an.

      „Frauen.“

      „Seit wann machst du das? Wie hat es angefangen?“

      „Ich bin seit sechs Jahren im Geschäft, angefangen hat es mit Drogen, danach Waffen. Aber mit Frauen verdient man mehr. Viel mehr.“

      „Du hast mit fünfzehn angefangen zu schmuggeln?“

      „Ja. Vorher habe ich von kleinen Diebstählen gelebt.“

      „Kannst du mir Namen nennen von Leuten, die ich ebenfalls fragen könnte?“

      „Darüber müsste ich erstmal nachdenken.“

      „Verstehe. Was genau war dein Job?“

      „In den letzten zwei Jahren habe ich Frauen an der Grenze zu Moldawien abgeholt und mit einem Lastwagen nach Albanien gebracht. Da werden sie an Händler verkauft, für Italien, Tschechien, Österreich und Deutschland.“

      „Wie findet der Verkauf statt?“

      „Wir bringen die Frauen an einen versteckten Ort, möglichst einsam gelegen. Dort werden sie erzogen. Nach einer Woche sind sie so weit, dass man die Händler einlädt. Die kommen mittlerweile jeden Donnerstag. Am Freitag werden die Frauen dann für die Kunden eingeteilt und abgeholt.“

      „Was meinst du damit, sie werden erzogen?“

      Boris schaute kurz zu ihr hinüber. Er legte seine Fingerspitzen zusammen und betrachtete sie konzentriert.

      „Man bricht ihren Willen, damit sie aufhören, sich zu wehren. Sie werden geschlagen, unter die Straßenbahn geworfen, erpresst und ...“

      „Unter die Straßenbahn geworfen?“

      „Ist so eine Redensart der Fenja.“

      „Was ist Fenja?“

      „Russische Gaunersprache. Der Ausdruck bedeutet, sie werden von den Männern vergewaltigt, die sie bewachen.“

      „Du bist doch gar kein Russe.“

      „Man lernt im Laufe der Zeit so einiges von seinen Geschäftspartnern.“

      „Wo finde ich so ein Lager?“

      Boris sah Signora Corletti mit einer Mischung aus Neugier und Skepsis an. Mit der rechten Hand rieb er sich das Kinn.

      „Lassen Sie die Finger davon, Lady. Das ist zu gefährlich.“

      „Meinst du, man würde mich gleich einkassieren?“

      „Blödsinn. Dafür sind Sie viel zu alt.“

      „Danke für das Kompliment.“

      Sie versuchte es mit Humor, doch er verzog keine Miene.

      Seine Augen tasteten ihre Gesichtszüge ab, als wollten sie auf diese Weise herausfinden, welche Gedanken sich dahinter verbargen. Sie nahmen jedes Detail in sich auf. Dunkelbraune Locken, die hinter die Ohren geklemmt waren und ständig nach vorne drängten. Erste graue Strähnen darin. Ihre grünen Augen, traurig und entschlossen zugleich. Das gelegentliche Zucken unter dem rechten Auge, die Fältchen um Augen und Mund. Das energische Kinn unter dem fein geschwungenen Mund, darüber die große Nase. Sie war eine Frau, deren Gesicht einen Eindruck hinterließ.

      „Warum wollen Sie unbedingt ein Loch in Ihren hübschen Kopf bekommen, Lady?”

      Signora Corletti blickte ihn regungslos an. Er war über zwanzig Jahre jünger als sie, aber er redete wie ein erfahrener Gangster.

      Boris entging nicht, dass sie blasser wurde.

      „Wie meinst du das?“ fragte sie.

      Boris beugte sich vor und reckte ihr seine Hände entgegen.

      „Schauen Sie“, sagte er.

      Sie blickte auf seine schmalen, aber kräftigen Fäuste. Beide Handrücken waren von runden Narben übersät, die sie aussehen ließen wie die eines alten Mannes.

      „Ich habe einmal den Fehler gemacht, nachts draußen eine Zigarette zu rauchen. Ein einziges Mal“, sagte er. „Mein Boss hat sie mir auf den Händen ausgedrückt. Immer wieder. Ich durfte keinen Laut von mir geben.“

      Er lehnte sich zurück. Signora Corletti sagte nichts.

      „Haben Sie vielleicht eine Kippe für mich?“ fragte er mit einem schiefen Lächeln.

      Sie nickte. Wortlos holte sie eine Packung aus ihrer Handtasche und schob sie ihm mit einem Feuerzeug zu.

      „Danke.“

      Er riss die Folie auf, zündete sich eine Zigarette an und inhalierte den Rauch tief in seine Lungen.

      „Sie müssen wissen, Lady, dieses Geschäft ist, nun ja – kompromisslos.“

      „Ich weiß, worauf ich mich einlasse“, sagte Signora Corletti.

      Boris zog an seiner Zigarette.

      „Einen Scheißdreck wissen Sie“, sagte er langsam.

      Er blies den Rauch in ihre Richtung und blickte sie unverwandt an.

      „Sie kommen aus Bologna. Das soll eine schöne Stadt sein, habe ich gehört. Eine reiche, ordentliche Stadt in Norditalien.“

      Er rückte seinen Stuhl näher an sie heran und beugte sich vor. Die Spitze seines Zeigefingers tippte auf den Tisch, während er sprach.

      „Das hier ist nicht Bologna, Lady. Falls Sie hier abends auf die Straße gehen und zu viele Fragen stellen, können Sie froh sein, wenn Sie morgens wieder im Hotel aufwachen. Der Kosovo ist fest in der Hand der Mafia.