fing sie auf und legte sie auf dem Fußboden ab. Sie nahm die Haltung an, in der die Tote gelegen hatte.
Berger hatte Daumen und Zeigefinger um sein Kinn gelegt und beobachtete die Szene aufmerksam.
„Frage: Warum kann sie nicht sehen, dass da unten jemand auf sie wartet?“ fragte er.
„Draußen scheint die Sonne, hier unten ist es dunkel. Ihre Augen können sich nicht so schnell darauf einstellen“, sagte Koller. „Aber ich bin schon länger hier und kann alles sehen.“
„Ok, stopp. Ich will das mal festhalten. Ein Mann und die Frau gehen auf die Mole, die Klappe nach unten ist nicht verschlossen, er öffnet sie, bittet die Frau, die Eisenleiter hinabzusteigen, klettert hinterher. Vielleicht steigt er auch zuerst hinein. Unten —“
„Wieso geht eine Frau freiwillig in dieses Eisending?” Koller stellte die Frage an alle.
„Ich würde das nur tun, wenn ich dem Mann vertraue“, sagte Aylín vom Boden herauf.
„Oder wenn du Angst vor ihm hast und gezwungen wirst“, sagte Roleder.
Berger machte Notizen auf dem Flipchart.
„Warum schneidet er durch das Kleid? Das ist doch ungenau.“
Roleder nahm den Kugelschreiber vom Tisch und führte einen imaginären Schnitt an Aylíns Rippen durch. Sie blickte ihn säuerlich an.
„Wenn er das Kleid erst hochgeschoben hätte, wäre es noch umständlicher gewesen“, sagte Berger. „Die Frau liegt schon auf dem Boden.“
„Vielleicht will er keine Zeit verlieren“, sagte Koller.
„Oder er geniert sich“, sagte Roleder.
„Du meinst, es ist ihm peinlich, ihren Körper zu sehen, aber sie zu töten ist für ihn kein Problem?“
Koller sah ihn zweifelnd an.
„Da ist noch der andere Mann. Was, wenn das ein völlig Fremder ist? Wenn du selbst aber die Frau kennst?“
Aylín schaute Roleder an.
„Wenn ich dich gut kenne?”
Roleder stieg auf ihre Idee ein.
„Wenn du mich liebst?“ fragte er.
„Oder dich hasse“, sagte Aylín.
Einen Moment lang war es totenstill im Raum. Dann wandte Aylín ihren Blick von Roleder ab. Sie stand abrupt auf und klopfte sich Jeans und Bluse sauber, ohne jemanden anzusehen. Koller schaute zu Berger, der nur mit den Schultern zuckte.
„Jetzt spinnt ihr ganz schön rum“, brummte Berger.
„Wer sagt, dass Polizeiarbeit nicht auch Spaß machen darf“, sagte Koller.
„Ich bring mal kurz den Kaffee weg“, sagte Aylín und verschwand.
Koller fühlte mit einem Mal seine Müdigkeit. Es konnte durchaus sein, dass sie einen realistischen Ablauf dargestellt hatten. Was natürlich nur für ihr Gefühl galt. Dem Staatsanwalt brauchte er davon nichts zu erzählen. Aber für das Team war es immerhin so etwas wie ein Anfang in diesem Mosaik, zu dem ihnen praktisch alle Steine fehlten. Ein kleiner Halt im weiten Raum der Möglichkeiten.
Der Morgen war gleißend hell. Lokman sprang voller Energie aus dem Bett, trotz der wenigen Stunden Schlaf. Er duschte und grinste sich im Spiegel an, während er sich rasierte und die Zähne putzte. Auf dem Weg zum Frühstück nahm er zwei Stufen auf einmal.
Zhanna saß alleine mit einer Tasse Tee. Sie nickte ihm zu. Er ging zu ihr hinüber, nahm ihr Gesicht in seine rauen Hände und küsste sie auf die Stirn, bevor sie etwas sagen konnte. Sie sah ihn mit offenem Mund an.
„Was ist denn mit dir los? So kenne ich dich ja gar nicht!“
„Zhanna, würdest du mir deine Handynummer geben?“
Er spürte eine unbändige Kraft in sich. Nichts und niemand würde ihn aufhalten.
Sie notierte ihre Nummer auf dem Blatt eines kleinen Notizblocks. Sie zögerte kurz, bevor sie eine weitere Nummer aufschrieb, und sah ihn eindringlich an, als sie ihm das Blatt reichte.
„Ich habe ein zweites Handy dabei, Lokman, für den Notfall.“
„Kluges Mädchen.“
Er nahm ihren Stift und markierte die zweite Zahlenreihe mit einem Ausrufezeichen. Er lächelte ihr zu, dann verstaute er die Notiz in seiner Geldbörse und schrieb ihr seine Nummer auf. Mit großen Schritten ging er zum Samowar, der auf dem Buffett dampfte, und eröffnete sein ausgiebiges Frühstück.
Die Frauen kamen eine nach der anderen herein und wünschten einen guten Morgen. Stimmengewirr erfüllte den Raum.
Lokman saß abseits. Er hatte beschlossen, niemandem von seinem Plan zu erzählen. Nicht einmal Zhanna.
Er fühlte sich stark wie ein Grizzly. Und mindestens ebenso hungrig.
Der alte Bauernhof war wieder bewohnbar gemacht worden, aber man hatte nicht mehr als nötig repariert. In dem früheren Wohnhaus wohnten die Männer, meist waren es fünf oder sechs, manchmal auch mehr. In einem alten Stallgebäude lagen Matratzen für die Frauen, die ehemalige Milchküche war ihr Waschraum. Ein rostiger Wasserhahn krallte sich an der Wand fest, darunter ein altes Becken, dessen Emaillierung fast vollständig abgesprungen war. Ein Kippfenster ließ graues Licht herein, die Scheiben waren blind von Staub und Spinnweben.
Ein verriegelter Schuppen und eine hohe Mauer umgrenzten den Hof, so dass es keinen anderen Weg hinaus oder hinein gab als das große Holztor. Es war immer verschlossen.
Man konnte auch durch das Haus nach draußen gelangen. Doch da waren die Männer.
In der Mitte des Hofes stand eine Holzbank ohne Lehne, aus groben Balken gezimmert.
Es gab keine Nachbarn, der Hof lag mehrere Kilometer außerhalb des nächsten Dorfes, abseits auf einem hohen Berg.
Und dennoch hatte wieder eine der Frauen versucht zu fliehen, war durch das Haus geschlichen, an den Männern vorbei. Die Hunde hatten in dieser Nacht nicht wie sonst im Hof gelegen, sondern in der Küche. Sie hatten erst gebellt, als die Frau die Haustür von außen geschlossen hatte.
Klack. Ein Laut zu viel.
Drei der Männer brachten sie zurück und warfen sie in den kleinen Holzverschlag. Allerdings nicht, ohne ihr vorher die Kleider vom Leib zu reißen. Der fensterlose Verschlag war aus rohen Brettern zusammengenagelt, etwa einen Meter im Quadrat und zwei Meter hoch. Er befand sich an der Nordseite des Innenhofes, so dass die Sonne den ganzen Tag darauf brannte.
Wenn einer der Männer daran vorbeiging, trat oder schlug er dagegen, um die Frau zu erschrecken.
Sie hockte in der Dunkelheit, die Arme um ihre Beine geschlungen. Wenn sie sich ausstrecken wollte, musste sie aufstehen. Sie erhielt keine Mahlzeit, nur einen kleinen Eimer Wasser. Bereits am nächsten Tag war der Gestank aus dem Verschlag unerträglich.
Im dämmrigen Flur des Hauses klingelte das verdreckte Telefon. Schritte ertönten, ein grimmiges Gesicht löste sich aus der Dunkelheit. Eine Hand griff nach dem Hörer.
Der Mann lauschte den Worten im Telefon mit gesenktem Kopf. Zweimal sagte er „Ja“. Gegen Ende des Gesprächs wollte er etwas erwidern, doch der Anrufer hatte schon aufgelegt.
Er ließ den Hörer sinken. Der Ausdruck seiner Augen war nicht länger grimmig. Er war gnadenlos brutal.
Die Frauen waren im Stallraum, als die Türe aufgerissen wurde. Einer der Männer brüllte, sie sollten sofort nach draußen gehen. Ängstlich drängten sie hinaus in die gleißende Helle, bemüht, dem Mann nicht zu nahe zu kommen.
Eine raue Hand packte Eva und zog sie aus dem Pulk der Frauen heraus. Sie wurde zu der Bank gezerrt, ein harter Hieb ins Gesicht schleuderte sie auf die Balken. Ein Mann kam herbei und zeigte mit dem Finger auf sie.
„Beweg