Michael Hackethal

Stille Herzen


Скачать книгу

      Strashin nickte. Der kurze Anruf stellte ein Risiko dar, wenn auch ein unbedeutendes. Viel entscheidender war, dass das Beispiel mit dem Code sich herumsprechen konnte. Man musste ein Exempel statuieren, um weitere Aktionen dieser Art zu unterbinden. Ein Exempel mit entsprechender Wirkung.

      „Es gibt nur eine Lösung“, sagte er ruhig. „Die anderen sollen dabei zusehen, das wird sie abschrecken. Und keine Anrufe mehr.“

      Sergeij nickte.

      „So gut wie erledigt, Wladimir. Soll ich es selbst übernehmen?“

      „Nicht nötig“, sagte Strashin, „die Männer vor Ort können das regeln. Wenn nicht, werden wir sie austauschen müssen. Gegen qualifiziertere.“

      Strashin hob die Hände vor den Mund und legte die Fingerspitzen seiner gepflegten Hände aneinander.

      „Ich habe den Eindruck, dass sie etwas nachlässig geworden sind. Sag ihnen das.“

      Sergeij lächelte dünn.

      „Das war’s. Gib mir Bescheid, wenn es erledigt ist.“

      Sergeij nickte, stand auf und ging zum Ausgang. Er hielt an und wandte sich um.

      „Noch etwas“, sagte er und legte wieder seinen Zeigefinger an die Unterlippe.

      Es schien eine für ihn typische Geste zu sein.

      „Was ist mit dieser Freundin in Odessa? Sollen wir uns um die auch … kümmern?”

      Strashin überlegte nur kurz, dann schüttelte er den Kopf.

      „Mach ihr klar, dass sie für ihre Freundin nichts mehr tun kann.“

      Sergeij nickte und ging hinaus.

      Ein Lächeln spielte um Strashins Mundwinkel. Es war gut zu wissen, dass das Ergebnis seiner jahrelangen Arbeit in den Händen guter Leute lag. Und Sergeij war der zuverlässigste von allen.

      Er stand auf und ging zurück an den Schreibtisch. Sie waren auf einem guten Weg. Und es gab so viel zu tun.

      „Blues a healer“ sang Johnny Lee Hooker, und Santanas Gitarrenläufe krachten aus den Lautsprechern. Eine Flasche Kentucky Straight stand auf dem Wohnzimmertisch, das Handy lag in einer Whiskeypfütze. Koller tanzte quer durch den Raum, eine qualmende Cruzero im Mund, in der Hand ein Glas mit der blassgoldenen Flüssigkeit.

      „Blues a healer“, röhrte Hooker. „It healed me, it heals you.“

      Den Inhalt ihres Kleiderschranks hatte er nach dem dritten Whiskey in einen Koffer gepackt, das würde weitere Entscheidungen deutlich beschleunigen. Sollte sie doch gehen, wenn sie unbedingt wollte.

      Sorry, dass die Bügelfalten gelitten haben, Schatz, du weißt ja, wie ungeschickt ich bin. Nein, ich bin nicht sauer. Ich bin besoffen. Was denn? Ja, ich bin sauer. Ach, wie mies von mir. So ein blöder Bulle ohne Manieren, du hast wirklich was Besseres verdient. Schön, dass du jetzt glücklich bist. Was das jetzt soll? Gar nichts! Doch, das ist nötig, absolut nötig. Lass mich, ich will nur ein bisschen tanzen. Ja, du auch. Tschau. Und lass den Schlüssel hier.

      Die Vorstellung, wie sie reagieren würde, wenn sie jetzt zur Tür hereinkäme und den Koffer sähe, brachte ihn zum Lachen. Es klang nicht allzu fröhlich.

      My woman left me. Ihm wurde schwindlig. Left me one morning. The Blues healed me. Er sank auf das Sofa. I was down, I was down. Er schüttelte den Kopf. It healed me.

      Schön für dich.

      Der schwere Rauch konnte die Leere in Kollers Brust nicht füllen. Und diese Leere breitete sich aus, brannte sich ihren Weg durch seine Eingeweide. Es fühlte sich an, als würden sie von Säure zerfressen.

      Blues is a healer. It can heal you.

      Er würde noch einigen Blues brauchen, bevor der helfen würde. All over the world. Er ließ sich zur Seite sinken und schloss die Augen.

      Fuck you.

      Er wusste nicht, ob er Jenna meinte oder sich selbst oder John Lee Hooker. Dann versank er in der Schwärze der Polster.

      Der Anruf kam kurz nach halb neun. Koller wunderte sich, wie schnell er das Telefon in seiner Hand hielt.

      „Es ist Ihr Vater. Er hatte einen Schlaganfall, aber es geht ihm relativ gut. Wir konnten das Schlimmste verhindern.“

      Koller setzte sich auf, schüttelte vorsichtig den Kopf und erhob sich langsam vom Sofa. Der Schreck, den die Nachricht ausgelöst hatte, verringerte schlagartig seinen Kater. Aber ein Puma statt eines Tigers war immer noch genug, um die Welt durch einen dichten Vorhang aus Watte wahrzunehmen.

      Er setzte einen dreifachen Espresso auf, stampfte ins Bad, machte sich frisch, so weit das möglich war, und ging ins Schlafzimmer, um sich umzuziehen. Als er wieder hinaus ging, blieb er stehen. Er drehte sich um.

      Ihr Koffer war weg.

      Als Koller in das Krankenzimmer kam, erschrak er. Sein Vater kam ihm plötzlich so klein und alt vor. Schläuche ragten unter der Bettdecke hervor, seine Augen waren geschlossen. Seine knochigen Hände, die so viele schwere Lasten bewegt hatten, lagen kraftlos auf dem Laken, die dünne Haut ließ Adern und Sehnen deutlich hervortreten. Zwischen seinem Scheitel und dem Bettrand war viel Platz, und auch seine Füße waren vom unteren Ende zwei Handbreit entfernt. Er wirkte verloren in dem riesigen Bett.

      Eine Krankenschwester kontrollierte Tropf und Katheter, beobachtete die Anzeigen auf den Geräten neben dem Bett. Sie begrüßte Koller mit einem Nicken.

      „Er hat einen Hirnschlag erlitten, als er am späten Abend den Müll hinaus brachte“, sagte sie leise. „Ein Nachbar hat gesehen, wie er hinfiel, und sofort den Notarzt gerufen. Wir glauben, der Schaden ist nicht gravierend, aber Genaueres wissen wir erst nach der Auswertung des CTs.“

      „Hat er eine Lähmung?“

      „Wir müssen warten, bis er aufwacht.“

      Koller dankte ihr, zog einen Stuhl heran und setzte sich neben das Bett. Er nahm die Hand seines Vaters und hielt sie in der seinen. Die Krankenschwester ging hinaus. Koller saß am Bett und ließ seine Gedanken mit den Sekunden dahin gehen. Es gab nichts zu tun. Ihm wurde bewusst, wie alleine er sein würde, sollte sein Vater sterben.

      Er verdrängte den Gedanken und schloss die Augen, ließ sich auf dem trägen Strom der Zeit dahintreiben, lauschte auf die Schritte im Gang, den Atem des alten Mannes, das Rauschen des Blutes in seinen Adern. In diesem Zimmer auf der Station fand jetzt, in diesem Moment, sein Leben statt. Und das seines Vaters.

      Zwei kleine Leben, jedes am Rande des eigenen Todes.

      Koller wachte auf mit schmerzendem Nacken. Er hielt noch immer die Hand seines Vaters. Sein Handy klingelte, es war Aylín. Er ließ die alte Hand auf das Betttuch gleiten und ging hinaus auf den Flur.

      „Wo bist du?“, fragte sie.

      „Im Krankenhaus, mein Vater hatte eine Schlaganfall.“

      „Tut mir leid. Schlimm?“

      „Weiß noch nicht. Wie spät ist es? Was gibt’s denn?“

      „Gleich halb eins. Ich habe herausgefunden, wo es diese Art von Tötung gibt, mit Aufschneiden und Herz anhalten!“

      „Du bist ein Genie, Aylín!“

      „Darf ich darauf zurückkommen, wenn es um meine Beförderung geht?“

      „Kein Problem. Sag mir nur, wohin ich dich befördern soll.“

      „Zu freundlich.“

      Er streckte sich.

      „Meinst du, wir haben es mit einer Art Ritualmord zu tun?“

      „Nicht ganz. In der Mongolei werden Schafe auf diese Weise getötet, um ihr Blut nicht zu vergießen. Einige traditionelle Stämme machen das auch heute noch so, vor allem bei rituellen Festen. Ich habe sogar einen Amateurfilm im Netz darüber gefunden.“