Michael Hackethal

Stille Herzen


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      „Zeig mir deine Hände!“

      Widerstrebend zog Roleder seine Hände aus den Taschen.

      „Die Linke kommt von Herzen, die Rechte macht oft Schmerzen“, sagte der Mann.

      Sein Blick war auf einen Punkt weit hinter Roleders Augen gerichtet.

      „Was meinst du damit?“ hakte Roleder ein.

      „Aaah“, sagte der Mann mit hoher Stimme. Er zog ein wissendes Gesicht und hielt die Holzhand hoch. „Du kennst dich nicht aus. Bist noch zu jung.“

      „Was hast du gesehen?“ fragte Roleder.

      „Einer drin, zwei hinein, zwei heraus, so sieht das aus!“

      Der Mann grinste, doch die Grimasse fiel ebenso schnell in sich zusammen, wie sie sich gebildet hatte.

      Roleder hatte den Eindruck, dass er jetzt kein wildes Zeug faselte, sondern von dem Mord sprach.

      „Wer war der eine?“ fragte er.

      „Eine rechte Hand. Eine starke rechte Hand.“

      „Eine Hand, die Schmerzen macht?“ fragte Roleder in der Hoffnung, den Faden aufgreifen zu können.

      „Viele Schmerzen. Man ist am besten unsichtbar, dann sieht man klar!“ orakelte Breckler.

      Er rutschte unruhig hin und her.

      Roleder wusste nicht, was er sagen sollte. Er erinnerte sich an die Wermutflasche.

      „Ich hoffe, das ist nach deinem Geschmack.“

      „Bitter und süß“, sagte der Mann, „wie das Leben.“

      Er griff zu und öffnete die Flasche. Er hob sie an die Lippen, doch bevor er trank, zögerte er und reichte sie Roleder hinüber.

      Der winkte dankend ab. Breckler trank ein Drittel der Flasche, ohne abzusetzen.

      „Gut“, sagte er.

      Roleder sah ihn an. Breckler kam ihm nicht vor wie ein Dummkopf. Am besten würde Koller mit ihm reden. Er stand auf.

      „Mach’s gut. Ich würde gerne noch mal mit dir reden.“

      „Jaja“, sagte der Mann und blinzelte zu ihm auf. „Alle wollen immer reden.”

      Er kicherte in sich hinein, dann setzte er die Flasche an.

      Roleder ging schweigend davon.

      Sie machten mehrmals täglich Rast. Die Frauen baten Lokman, mit ihnen zu essen, und er fühlte sich wohl in ihrer Gesellschaft.

      Am Abend des vierten Tages saßen sie in einem einfachen Restaurant am Straßenrand und bestellten.

      „Armer Kerl“, sagte eine, die vielleicht achtzehn war. „Du musst wieder zurück, aber wir fahren nach Europa!“

      „Ich würde gerne mitkommen, das könnt ihr mir glauben. Ich war nämlich schon in Deutschland.“

      „Wirklich? Erzähl!“

      Sie bestürmten ihn mit Fragen, und er gab bereitwillig Auskunft. Es war eine gute Zeit gewesen; der Luxus, in dem die Menschen in Deutschland lebten, war ihm unfassbar vorgekommen.

      „Warum bist du nicht geblieben?“ fragte ihn eine.

      „In meiner Heimat gefällt’s mir immer noch am besten“, sagte er.

      „Aber verdienst du denn genug mit deiner Marshrutka?“

      „Ich komme zurecht.“

      „Wie oft bist du die Strecke schon gefahren?“ fragte die Frau, die ihn gebeten hatte anzuhalten. Sie war etwas älter als die anderen.

      „Ich fahre seit fünf Jahren diese Tour“, antwortete Lokman, „mehrmals im Jahr.“

      „Wieso bist du alleine?“

      Die jungen Frauen kicherten und zupften sie am Ärmel.

      „Nun sei doch nicht so neugierig, Zhanna! Du machst ihn ganz verlegen.“

      Sie lachten. Lokman war erleichtert, als eines der Mädchen anfing, von seinen Heiratsträumen zu erzählen. Sie hoffte, einen Mann zu finden und in Europa bleiben zu können.

      „Ich will nicht mehr zurück. Meine Mutter ist tot, bei meinem Vater kann ich nicht bleiben. Ich will Kinder haben, schöne Kleider, ein Haus, ein Auto.“

      Er lachte mit ihnen und wünschte allen, dass sie erreichen würden, was sie sich vorstellten.

      „Wartet, ich mache ein Foto von uns!“ rief eine der Frauen plötzlich, holte ihr Handy heraus und stellte sich neben den Tisch.

      Sie machte mehrere Fotos von den lachenden Mädchen. Daraufhin wollten alle Fotos haben und es entstand ein wildes Durcheinander.

      Auch Lokman holte sein Handy heraus. Es gelang ihm, mehrere Aufnahmen von Zhanna zu schießen, ohne dass sie es bemerkte. Zuletzt blickte sie mit einem Lachen zu ihm herüber, genau in dem Moment, als er sie aufnahm. Ihre Blicke trafen sich.

      Schließlich stand er auf und ging hinüber zum Auto. Es war Zeit weiterzufahren.

      Zhanna setzte sich zu ihm nach vorne. Sie fragte ihn, wie es in Europa mit ihnen weiterginge und was er als nächstes vorhabe. Er war froh, dass ihm jemand die Zeit am Lenkrad verkürzte. Sie redeten stundenlang miteinander.

      „Du brauchst wirklich Urlaub, mein Junge“, meinte Hannes, Polizeipsychologe und Kollers bester Freund aus alten Tagen.

      Sie standen an der Theke einer Eckkneipe in seinem Viertel, die Luft vibrierte von Rockmusik und den Stimmen der Gäste. Hier war Rauchen noch erlaubt. Entsprechend neblig war die Atmosphäre.

      „Das bringt zwar mein Nervenkostüm wieder in Form“, erwiderte Koller, „aber mit Jenna ändert das nichts. Und darum geht es doch.“

      Er leerte sein Glas und bestellte ein weiteres Kölsch bei Charlie, dem Mann hinter der Theke. Der nickte, ohne seine Bewegungen zu unterbrechen. Sekunden später stand es vor ihm.

      „Nein. Das Wesentliche ist, dass es dir gut geht“, widersprach Hannes. „Ob Jenna dazu gehört oder nicht, ist etwas Anderes.“

      Er fuhr sich mit der Hand über das spärliche Haar, das ihm bis in den Nacken hing. Was er an Glatze auf dem Kopf hatte, machte er ringsum wieder wett. Er war so groß wie Koller und wirkte in Jeans und gewölbtem T-Shirt wie ein 68er-Fossil.

      Koller wurde ungehalten.

      „Ich habe Jenna geheiratet, weil ich sie liebe, mein Leben mit ihr verbringen will.“

      „Ja, und dann bist du dauernd weg, weil der Dienst wichtiger ist als deine Frau. Mach dir nichts vor, Mann!“

      Hannes hatte sein nächstes Kölsch schon auf Kinnhöhe.

      „Wir tun, was wir für richtig halten. Meistens jedenfalls. Aber die Konsequenzen hauen uns dann regelmäßig um. Warum eigentlich?“

      Er trank in großen Zügen. Das leere Glas zeigte er Charlie.

      „Bloß, wir akzeptieren nicht, dass unser Handeln ausdrückt, was wir eigentlich wollen. Dabei liegt genau da unsere Verantwortung für unser Leben. Warum hätten wir sonst so gehandelt?“

      Koller verdrehte die Augen. So redete sein Kumpel nur noch, seit er geschieden war. Hannes hatte vier Jahre gebraucht, um darüber hinweg zu kommen, Psychologie hin oder her.

      Koller ging das Gefasel auf die Nerven.

      „Ich bin nie fremd gegangen“, warf er ein, „niemals, und da waren einige Angebote!“

      Seine Aussprache war nicht mehr allzu präzise. Er machte Charlie ein Zeichen, er wollte zahlen.

      „Prima, kannste stolz drauf sein. Und was hat es dir gebracht?” Hannes grinste, dann wurde er ernst. „Das zählt nur, wenn es auch ihr was bedeutet hat.“