Michael Hackethal

Stille Herzen


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um zu tun, was ich tun muss. Ansonsten würde ich jede Achtung vor mir verlieren.“

      Boris sagte kein Wort. Seine Miene war versteinert. Die plötzliche Stille lastete schwer auf dem kahlen Raum. Langsam erhob er sich von seinem Stuhl und ging zur Tür. Dort stand er mit gesenktem Kopf, die rechte Faust erhoben, um seine Knöchel auf das Holz zu schlagen. Er verharrte einen Moment lang reglos.

      „Passen Sie gut auf sich auf, Lady“, sagte er mit dem Rücken zu ihr.

      Dann klopfte er an die Tür.

      „Und ich habe noch nicht einmal angefangen, vom Gewissen zu sprechen“, sagte Estella Corletti, ebenfalls ohne sich umzudrehen.

      Sie nahm einen letzten Zug aus ihrer Zigarette, warf den Stummel auf den Boden und zerrieb ihn ungehalten mit ihrem eleganten italienischen Schuh.

      Die Tür wurde geöffnet und Boris ging hinaus. Der Beamte blickte die Signora verwundert an, die Recorder und Zigarettenschachtel in ihre Handtasche feuerte. Er wurde fast von ihr überrannt, als sie hinausstürmte.

      „Arrivederci“, hörte er noch, dann rauschte sie durch eine Stahlgittertür, die man ihr öffnete, und war verschwunden. Der Geruch von kaltem Rauch und Schweiß hing in der verbrauchten Luft. Und ein Hauch Parfum. Unsichtbar, aber nicht zu leugnen.

      Iwanas Hand zitterte, als sie den Hörer auflegte. Sie war kalkweiß im Gesicht. Der Mann hatte seinen Namen nicht genannt, nur gesagt, sie müsse sich keine Sorgen mehr um Eva machen. Es gehe ihr da, wo sie jetzt sei, himmlisch gut. Und es sei wirklich nicht nötig, sich in dieser Sache weiter zu melden. Im Gegenteil, das mache alles nur schlimmer. Ob sie ihn verstanden habe.

      Sie hatte nach einer Pause mit heiserer Stimme gesagt, ja, sie habe verstanden. Gut, hatte er gesagt, dann müsse er sich ja um sie keine Gedanken machen, oder? Nein, war ihre tonlose Antwort gewesen, sie werde sich nicht mehr melden.

      Kluges Mädchen, hatte er gesagt. Und meine Grüße an die Frau Mutter.

      Dann hatte er aufgelegt.

      Ein Tropfen fiel auf den schwarzen Telefonhörer und glitt an ihm herab. Es war kalter Schweiß, der von Iwanas Stirn rann.

      Lokman jagte den Bus durch die Straßen Istanbuls zu Kemals Autohandel. Die Uhr an seinem Handgelenk zeigte viertel nach zehn. Er betete inbrünstig, dass die Zeit für die Zulassung des BMW gereicht hatte.

      Da stand er. Inshallah!

      Er hielt vor dem Autoparkplatz, packte seine alte Sporttasche und sprang aus dem Bus. Er rannte auf den Bretterverschlag zu. Im selben Moment, in dem er die Tür aufreißen wollte, kam ihm Kemal entgegen. Fast wäre er gegen seinen Kugelbauch geprallt.

      Kemal begann sofort zu erzählen.

      „Mann, das war knapp! Ich bin erst seit fünf Minuten wieder hier, da war so viel los auf dem Amt und —“

      „Keine Zeit!“

      Lokman riss ihm Dokumente und Schlüssel aus der Hand und sprintete zu dem BMW. Er winkte zum Dank mit dem Schlüssel und drückte noch im Laufen den Knopf zum Öffnen. Mit quietschenden Reifen schoss er vom Hof.

      Kemal stand verdutzt vor der Tür, in seiner erhobenen Linken eine Papiertüte haltend.

      „— zwei Falafel für unterwegs hab ich auch noch“, murmelte er, „falls …“

      „Plovdiv, Plovdiv“, murmelte Lokman vor sich hin. Bis zur Auffahrt zur Brücke über den Bosporus kannte er den Weg durch die Stadt, danach brauchte er das Navi. Während er durch die Straßen jagte, holte er mit einer Hand das Gerät aus der Sporttasche und schaltete es ein. Er spuckte auf den Saugnapf und drückte ihn an die Frontscheibe.

      Es war nicht einfach, gleichzeitig zu schalten, das Navi anzubringen und wegen der Idioten vor ihm zu hupen. Dauernd fiel das Scheißding wieder runter, weil es nicht an der Scheibe halten wollte. Er brüllte einen uigurischen Fluch der übelsten Sorte.

      Dank der Beschilderung fand er die Autobahnzufahrt ohne Probleme und war schon fast auf der Brücke, als das Gerät endlich an seinem Platz blieb. Der Akku war geladen, das Kabel konnte er später noch einstecken.

      Er war schweißgebadet, suchte den Schalter für die Klimaanlage und begann sich zu entspannen, als es kühler wurde. Anschließend versuchte er, die Route nach Plovdiv, Bulgarien, einzugeben. Es war unmöglich, das Gerät nahm das Ziel nicht an. Er hämmerte auf das Armaturenbrett, rasend vor Wut.

      „Verkackte Ziegenscheiße!“

      Dann wurde ihm klar, dass das Navi nur Karten für Asien enthielt. Mit einem Aufschrei riss er es von der Scheibe und feuerte es in den Beifahrerfußraum.

      Er würde eins an der nächsten Tankstelle kaufen. Geld hatte er genug. Er beruhigte sich wieder.

      Nach einer Weile ließ er den Blick durch den Innenraum seines neuen Autos wandern. Tatsächlich, der Tank war voll. Zwei kalte Dosen steckten in den Halterungen, vorne rechts rollten zwei Plastikflaschen mit Mineralwasser vor und zurück. Sie stießen an ein Bündel aus Packpapier. Lokman begann sich zu entspannen. Er musste lachen.

      Da hatte er innerhalb weniger Stunden sein gesamtes Leben umgekrempelt. Einfach so. Den Bus verkauft, seine Zukunftspläne abgehakt und sich mit unbekanntem Ziel nach Europa aufgemacht. Es war, als wüsste er genau, was zu tun war. Dabei hatte er nicht die leiseste Ahnung, was auf ihn zukommen würde.

      Nach einer Weile wurde er wieder ernst. Er hatte sich gegen die Organisation gestellt, und das würde Konsequenzen haben. Aber was es auch war, er würde sich nicht kleinkriegen lassen. Nie wieder. Von niemandem.

      An der nächsten Tankstelle kaufte er ein Navigationsgerät, das ihn durch Europa bringen würde.

      Und wenn er mich verarscht hat und die andere Route fährt? dachte er. Dann finde ich sie nie.

      Er fluchte.

      Ich muss es einfach versuchen.

      Noch während die Route berechnet wurde, warf er den Motor an und jagte mit kreischenden Reifen davon. Wie lange würde er brauchen, um den Transit zu finden?

      Pling. Plovdiv, 403 Kilometer, vier Stunden und sechsundvierzig Minuten.

      Er konnte nicht schneller fahren als der Ford, solange er in der Türkei war. Wenn er raste und man ihn anhielte, würde er nur noch mehr Zeit verlieren. Er würde bis zum Abend brauchen, um sie einzuholen.

      Aber dann musste er lachen. Egal wie schnell sie fuhren, sie machten garantiert Rast. Keine Etappe länger als drei Stunden, dafür würden die Blasen der Damen schon sorgen. Das hatte er auf seinen Touren schnell gelernt.

      Nach zwei Stunden begann er, Parkplätze anzufahren und nach dem Transit zu suchen.

      Kurz vor halb drei wurde er fündig.

      Er fuhr langsam an dem Bus vorbei und parkte so weit entfernt wie möglich. Er blieb im Auto sitzen und beobachtete den Transit im Rückspiegel. Niemand war zu sehen.

      Er verspürte ein menschliches Bedürfnis, denn unterwegs hatte er reichlich getrunken. Er griff nach dem Kanister, rutschte auf dem Sitz nach vorne, öffnete den Reißverschluss. Ein dumpfes Plätschern, Mann, das tat gut.

      Sein Blick fiel auf das Papierbündel. Er nahm es hoch und legte es auf seinen Schoß. Erst nachdem er sich mehrmals umgeblickt hatte, öffnete er den Knoten.

      Unter den Lagen von Packpapier kam eine Beretta M9 zum Vorschein, eine Waffe der amerikanischen Armee. Fast ein Kilo tödlicher Stahl.

      Er prüfte die Munition. Es waren zwei unterschiedliche Schachteln mit jeweils fünfzig Schuss 9 mm Munition. Eine enthielt Parabellum NATO Munition, die andere JHP Hollow Point, Teilmantelgeschosse mit Hohlkopfspitze. Die Bleiköpfe waren nicht wie üblich grau, sondern kupferfarben.

      Lokman stieß einen leisen Pfiff aus.

      Wenn ein solches Projektil sein Ziel traf, faltete es sich auseinander und riss ein großes Loch ins Gewebe. Die Schockwirkung war erheblich stärker als bei Standardmunition. Und bei einem