Andreas Engelbrech

Am Ende


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Nervenzusammenbruch. Ein paar Mütter waren hin und her gerissen zwischen Entsetzen und Belustigung. Auch die Senora selbst musste mehrmals lachen. Das Ballett, das sie sah, erinnerte sie an ihre Kindheit, als ihre Hamster Nachwuchs hatten. Eines Tages durften die kleinen Hamster dann das erste Mal ihre kleine Höhle aus Heu und Karton verlassen und stolperten ziellos, sich gegenseitig anrempelnd, planlos und tapsig auf den noch ungewohnten Beinen umher.

      Eine Stunde vor dem Mittagessen war die Generalprobe vorbei. Mit bewundernswerter Geduld, ohne einen Schrei der Verzweiflung oder des Entsetzens schaffte es die Ballettlehrerin schließlich,daß sich ihre Schüler beruhigten und konzentriert übten. Jetzt stolperten nicht mehr die tapsigen Hamster über den Parkettboden sondern anmutige Schwanenkinder, voll graziöser Körperbeherrschung.

      Am Eingang des Übungssaales wartete der Beifahrer auf sie. Er stand über Funk in ständigem Kontakt zum Fahrer. Nichts Außergewöhnliches. Alles wie sonst auch. An jedem Samstag im und vor dem Haus der Ballettschule. Über Funk orderte der Beifahrer die Limousine, während er die beiden Ballerinas und die heitere Senora die Treppe hinunter vor die Haustüre in der engen Gasse begleitete. Dort ließ er sie wieder im Fond einsteigen und nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Alles wie immer.

      Die Limousine fuhr das kurze Stück der Küstenstrasse wieder zurück, bis sie auf die Strasse hoch zu ihrem Dorf abbogen. Die Limousine arbeitete sich mühelos die Serpentinen hinauf. Auf der Piazza hielten sie wieder. Das kleine Mädchen, mit dem die Tochter befreundet war, verabschiedete sich und stieg aus. Dann lief sie zum Haus ihrer Eltern. Wieder winkten die Menschen, die allmählich damit begannen, sich in ihre Häuser zur Siesta zurückzuziehen.

      Er saß mit Franco in seinem Arbeitszimmer. Die Post hatte er inzwischen gesichtet. Es waren keine richtig guten Nachrichten dabei. Seit Jahren gab es kaum noch gute Nachrichten. Und selbst wenn es gute Nachrichten waren, musste man sie im großen Ganzen sehen, und dann sah es düster aus. Es waren nicht einmal die Tropfen auf dem heißen Stein. Diese vermeintlich guten Nachrichten.

      „Glaubst Du, dass wir noch welche finden?“, fragte er Franco.

      „Ich weiß es nicht. Es gibt sicher noch welche, aber die will niemand hergeben. Wer einen davon hat, ist so gut situiert, dass er keinen herzugeben braucht.“

      „Wir müssen weitersuchen. Wenn es noch welche gibt, müssen wir sie finden. Je länger wir warten, desto weniger werden es.“ Seine Worte klangen kämpferisch, selbstsicher.

      Franco nickte wieder. Was sollte er noch sagen?

      „Kommst Du zum Mittagessen hoch?“, wollte er von Franco wissen.

      „Gern!“, war die Antwort. Franco gehörte längst schon zur Familie. „Ich muss mir noch ein paar Proben anschauen.“

      Als die Limousine das Dorf verließ, verdeckte eine kleine einsame Wolke die inzwischen mehr als wärmende Mittagssonne. Die Strasse, welche sie befuhren, führte in erster Linie zu ihrem Anwesen und zu den Gärten der Dorfbewohner. In zweiter Linie war es eine Sackgasse, die an einem Parkplatz mit Aussichtspunkt endete, von dem sich ein paar Wanderwege durch die Pinienwälder verzweigten. Hin und wieder konnte man hier Touristen antreffen, die in Autos dem Parkplatz entgegen brausten oder sich auf Fahrrädern die Serpentinen hoch quälten.

      Einen solchen überholten sie kurz vor der Einfahrt zu ihrem Anwesen. Das Tor öffnete sich bereits durch Funk ausgelöst, als die Insassen durch einen Schlag auf die rechte Seite des Fahrzeugs erschraken. Er war nicht besonders laut, aber mit der plötzlichen Erkenntnis verbunden, dass etwas oder jemand gestreift, angefahren worden war. Im Rückspiegel erkannten Fahrer und Beifahrer, dass der Radfahrer auf der Strasse lag. Er bewegte sich, stand aber nicht auf. Viel konnte nicht passiert sein.

      „Lass mich schnell raus, fahr weiter zum Haus, ruf einen Notarzt!“, wies der Beifahrer den Fahrer mit fester und schneller Stimme an.

      "Ja," sagte der Fahrer hochkonzentriert, hielt kurz, um seinen Beifahrer aussteigen zu lassen und gab gleich wieder Gas.

      Während die Limousine durch das Tor die kurze Auffahrt vor das Haus fuhr, rannte der Beifahrer zu dem Verletzten auf der Strasse. Dieser wimmerte und versuchte sich zu bewegen.

      Als der Beifahrer bei ihm war, kniete er sich neben ihn, legte seine Hand auf seine Schulter und sprach ihn an: „Wo sind Sie verletzt? Wo spüren Sie Schmerzen?“

      Er erhielt als Antwort lediglich ein Stöhnen, ein Röcheln. Daraufhin beugte er sich noch weiter zu dem Verletzten. „Hilfe ist unterwegs. Ein Notarzt kommt. Können Sie mich hören? Ein Notarzt ist gleich hier!“

      Er betrachtete den Verletzten näher. Kein Blut! Das war gut. Dann konnte es sich wahrscheinlich nur um eine Gehirnerschütterung handeln. Vielleicht auch nur ein Schock. Der Verletzte war noch keine dreißig Jahre alt. Schlank. Vielleicht war es aber auch schlimmer.

      „Können Sie sich bewegen?“, fragte er ihn. Ein lauteres Stöhnen folgte. Unbeholfen versuchte der gestürzte Radfahrer seine Beine zu strecken. Die Arme bewegten sich besser. Während eine Hand an die Hüfte griff, mit der er auf dem Boden lag, zeigte die andere Hand begleitet von Mitleid erregendem Gewinsel Richtung Haus. Der Beifahrer blickte dorthin, konnte aber nichts erkennen. Die andere Hand löste sich wieder von der Hüfte, transportierte einen Gegenstand in Richtung des Beifahrers. Schwarz, glatt, schwer, mit einem langen Rohr.

      Kurz darauf stürzte José, der Beifahrer, selbst auf die Strasse. Nichts war zu hören. Nur der Fall eines soeben noch lebendigen Körpers, der aus der Hocke umfiel. Außer seinem Blut, das auf den Asphalt strömte, bewegte sich nichts mehr an ihm. Der Radfahrer sprang auf, steckte die Pistole in ein Halfter an seiner Hüfte und begann den Beifahrer ins Gebüsch zu ziehen. Hinter einer alten Steinmauer versteckte er den leblosen Körper, durchsuchte seine Taschen und nahm ihm Pistole, Schlüssel und Geldbeutel ab.

      Der Radfahrer rannte aus dem Gebüsch heraus, hob sein Fahrrad auf und trat in die Pedale. Das Tor war noch offen. Kurz vor dem Haus sprang er vom Fahrrad, zog sich eine schwarze Sturmmaske über das blutverschmierte Gesicht und rannte zur Haustür. Unterhalb der Treppe stand die Limousine. Hinter dem Wagen musste er über den leblos daliegenden Fahrer steigen, dessen Taschen er schnell durchsuchte und deren Inhalt er an sich nahm. Schlüssel, Pistole, Geldbeutel.

      Als er seine Beute hastig eingesteckt hatte, stürmte der Radfahrer mit seiner Pistole in der Hand die Treppe hinauf und schloss die Tür hinter sich. Sein Komplize hatte den linken Arm um den Hals der kleinen Balletttänzerin gelegt. Sie stand unbeweglich auf den ziegelroten Fliesen mit den grauen Fugen. Mit der Pistole in der anderen Hand bedrohte er sie am Kopf.

      „Wenn Du schreist oder davonläufst, töten wir Deine Tochter!“, herrschte der Komplize ihre Mutter an. „Wo wird das Tor geschlossen?“

      Sie deutete auf einen Schalter gleich an der Tür. Der Radfahrer betätigte den Schalter, woraufhin sich das Tor geräuschlos schloss.

      „Du führst uns jetzt zu Deinem Mann!“, wies er sie an.

      Sie tat wie ihr geheißen. Sie hatte keinen Zweifel daran, dass die Mörder taten, was sie sagten. Sie hatte gesehen, wie der Mann plötzlich hinter dem Wagen auftauchte, woher er auch immer kam. Sie hatte gesehen, wie der Fahrer ihn anzurufen versuchte und dann zusammenbrach. Die Schüsse waren lautlos. Aber Blut spritzte. Und sie konnte die Pistole mit dem langen Lauf erkennen, auf dem der Schalldämpfer angebracht war.

      Nein, das war nicht der Zeitpunkt für Verhandlungen. Keine Zeit für Tricks. Nur Zeit für Angst. Panische Angst. Die Angst einer Mutter für ihr Kind. Um ihr Kind.

      „Kommen Sie mit!“, sagte sie. Sie versuchte ruhig und beherrscht zu bleiben. Auch für ihre Tochter. „Es wird Dir nichts geschehen. Mami ist bei Dir!“, versuchte sie die Kleine zu beruhigen.

      Sie ging voran. Der Komplize mit ihrer Tochter folgte. Er trug einen schwarzen Nylonrucksack auf dem Rücken. Danach der Radfahrer. Sie ging voran durch einen Flur, der in den Innenhof mündete, durchquerte ihn bis zu der Glastür. Sie hatte keine Augen für die Blumen. Sie roch keinen der Düfte. Kein Gehör für das Plätschern eines kleinen verspielten Brunnens. Keinen Sinn für die terrakottafarbenen Bögen und