überlegte sie fieberhaft, wer alles im Haus war. Die Köchin, aber die war kurz vor dem Essen mit Kochen beschäftigt. Wer sonst? Vielleicht hatte sie aber etwas mitbekommen und die Polizei gerufen! Und wenn? Wie lange bräuchte die Polizei? Die Polizei war genauso weit weg wie die Feuerwehr, die vor einem Jahr wegen eines Fehlalarms angerückt war. Neun Minuten Fahrzeit. Und dann?
Franco war noch da. Sonst niemand. Einer der Gärtner würde am späten Nachmittag noch eine Kontrolle machen. Sonst hatten alle frei. Wochenende.
Franco war da. Sie sah ihn zuerst. Er stand im Labor. Seite an Seite mit ihrem Mann. Beide mit dem Rücken zu ihnen. Sie betrachteten ihren Neuzugang. Erschrocken drehten sie sich um, als die Tür aufgestoßen wurde und die beiden Männer mit den schwarzen Sturmhauben, die nur Öffnungen für Augen und Mund hatten, Mutter und Tochter in das Labor schoben.
Er war im Begriff zu seiner Tochter und zu seiner Frau hinüberzueilen, ein paar Schritte nur. Aber er blieb nach einem Schritt stehen, als er erkannte, dass er genau dies nicht tun durfte.
„Bleib stehen!“, wurde er schon angeherrscht. „Hände hoch“
Beide Männer nahmen die Hände hoch. Ruhig bleiben. Keine Angst zeigen. Aber auch keine falschen Bewegungen.
„Wenn Ihr tut, was wir wollen, wird Euch nichts passieren.“ Die Stimme war fest entschlossen. Keine Unsicherheit, keine Anzeichen für Diskussionen. Und mit einem Deut der Pistole auf die Tochter ergänzte der Radfahrer: „Vor allem ihr nicht!“
Er fragte das, was jeder in dieser Situation fragen würde: „Was wollen Sie?“
„Wo sind die Blauen?“ Der Radfahrer hatte das Reden ganz übernommen. Es sah auch langsam so aus als wäre er der Anführer. Die Blutspritzer auf seinem dunkelblauen Sportanzug unterstrichen seinen Willen zur Gewalt. Er hatte das Sagen. Er würde sich nehmen, was er wollte. Ohne Rücksicht. Ohne Skrupel.
„Wenn Sie Geld wollen - ich gebe Ihnen alles, was ich habe. Aber die Blauen - die bringen Ihnen doch nichts.“ Er verstand nicht, warum sie die Blauen wollten. Sie waren praktisch nicht verkäuflich. Das war so als würde man Leonardo da Vinci´s „Mona Lisa“ stehlen und verkaufen wollen.
Die Scheibe hinter ihm zersprang. Der Radfahrer hatte die Waffe knapp neben seinen Kopf gerichtet und abgedrückt. Der Schuss selbst war lautlos. Das Zerbersten der Scheibe durchfuhr sie alle mit dem Schreck und der Erkenntnis, dass sie hilflos diesen beiden Männern ausgeliefert waren.
„Das nächste Mal ist einer von Euch dran!“, sagte der Radfahrer kurz. Keine Diskussion. Kein Zweifel an seinen Forderungen.
„Los geht´s!“ Zwei Worte. Ein Befehl. Unmissverständlich. Kompromisslos.
„Kommen Sie mit!“ Er ging voran.
Sie folgten ihm. Unmittelbar hinter ihm Franco. Dann der Radfahrer, der die Frau am linken Arm festhielt. Schließlich ihre Tochter, um die der Komplize immer noch den Arm im Klammergriff gelegt hatte. Sie trug immer noch ihr rosafarbenes Ballettkleid mit den Rüschen. Sonst hatte sie nichts mehr ähnlich mit dem kleinen fröhlichen Mädchen, das eine halbe Stunde zuvor noch ausgelassen getanzt hatte.
Sie folgten ihm hinaus auf den Flur, vorbei an dem Nachbarraum, dessen Scheibe zerschossen worden war. Am Ende des Flurs mussten sie durch eine Schleuse, bestehend aus zwei Türen. Dann durch einen langen fensterlosen Flur, auf dessen rechter Seite Werkbänke, und auf dessen linker Seite Regale mit Säcken, Kartonen und allerlei Arbeitsgeräten standen. Alles sehr sauber und ordentlich eingeräumt. Am Ende des Flures wieder eine Schleuse. Sie traten ein in ein kleines Treibhaus. Die Tische voll mit kleinen Pflänzchen. Danach befanden sie sich in einem großen gekachelten Raum, mit Spinden und Fußduschen. Auf jeder Seite befand sich eine Tür.
Er wollte nicht, aber er musste durch diese Tür. Die Tür geradeaus. Nicht, dass er lieber durch die linke oder rechte Tür hätte gehen wollen. Er konnte nicht anders. Warum war es nur soweit gekommen?
Sie folgten ihm in einen langen breiten Flur, der links entlang einer Glaswand und rechts entlang einer fast endlosen Reihe von Schränken verlief. Hinter der Glaswand war die Sammlung. Die Blauen waren am hinteren Ende. Hinter den anderen, deren Farben aus Rot, Gelb, Grün, Blau und Weiß in ihren besonderen Variationen und Kombinationen bestanden.
„Ist in den Schränken etwas von den Blauen?“ Die Frage des Radfahrers war eindeutig.
„Ja, aber die bringen Ihnen nichts.“ Es war sein letzter Versuch. Sein letzter Kampf. Sein hilfloser Kampf. Konnte er mit Vernunft, mit Taktik, mit Psychologie etwas erreichen?
Der Radfahrer kannte keine Gnade. Er richtete seine Waffe auf Franco und drückte ab. Drei Mal. Franco fiel zu Boden. Ohne einen Schrei, ein Stöhnen, einen Laut. Er war tot, bevor sein Kopf dumpf auf die Fliesen prallte.
Das kleine Mädchen begann zu weinen. Fassungslos blickte er den auf dem Boden liegenden Franco an. Seine Frau wollte sich losreißen, zu Franco laufen. Aber der Radfahrer zog sie grob mit einem Ruck am Arm zurück. „Wo sind sie?“
„Dort! Hier in diesem Schrank!“ Er zeigte ihnen zwei Schränke. Er war wie benommen. Er war bereit, ihnen alles zu zeigen. Alles, was sie wollten. Alles, wenn nur dieser Albtraum aufhören würde. Wie absurd, Franco zu töten.
Am oberen Rand eines der beiden Schränke leuchteten grüne Zahlen. Sie blinkten auf, als der Radfahrer die Tür öffnete, eine Schale aus Schaumstoff entnahm und sich den Inhalt betrachtete.
„Ja, das sind sie“, rief er seinem Komplizen zu. Anstatt sich aber des Inhalts zu bemächtigen hob er seine Waffe. Er richtete ohne zu Zögern das schwarze, kalte, glänzende Rohr auf die Frau, die von seiner anderen Hand gefangen war und drückte ab. Drei Mal.
Das Mädchen konnte nicht mehr schreien. Der Finger am Abzug zog kurz an. Die Waffe in der Hand machte einen kleinen Ruck nach hinten. Das Weinen verstummte. Bevor das Mädchen im Ballettkostüm zu Boden ging, wie eine Puppe, die man am Arm trug und plötzlich los gelassen wurde, verspürte er den Schmerz.
Welcher Schmerz schlimmer war, für das Nachdenken war keine Zeit mehr. Der Schmerz über den erschossenen Franco, über seine Frau, die in einer größer werdenden Blutlache lag, die Gliedmassen unnatürlich von sich gestreckt, geradezu verbogen. Der Schmerz über seine Tochter, die leblos wie eine Puppe in ihrer eigenen blutroten Lache lag. Welcher Schmerz war der Schlimmere? Welcher betäubte ihn so sehr, dass er den anderen Schmerz nicht mehr spürte? Das letzte was er sah, waren drei tote Menschen, die er alle auf eine besondere Art und Weise liebte und schätzte und brauchte.
Dann wurde es schwarz vor seinen Augen.
Der Radfahrer schoss sein Magazin noch leer. Am anderen Ende des Flurs stand ein großer Schaltkasten. Funken sprühten nach den Einschlägen der Projektile. Die grünen Zahlen über den Schränken erloschen. Ebenso die Lichter in den Schränken und das Licht der Decke. Hinter der Glaswand blieb alles unverändert. Hier gab es nur Tageslicht.
Der Komplize steckte seine Waffe weg, nachdem er das Magazin gewechselt hatte. Dann holte er seinen Rucksack vom Rücken und entnahm ihm zwei kleine Kartone und Klebeband, sowie vier Stoffbeutel. Er übergab die Kartone dem Radfahrer, nachdem dieser ebenfalls sein Magazin gewechselt und die Waffe wieder in das Holster unter seiner Jacke gesteckt hatte. Dieser ließ seinen Komplizen warten, zog schnell ein Paar dünner schwarzer Lederhandschuhe an und nahm ihm dann die Kartone ab.
Dann füllte er den ersten Karton mit den Kostbarkeiten aus dem Schrank, den er bereits inspiziert hatte. Der zweite Karton wurde mit dem Inhalt des linken Nachbarschranks gefüllt. Sorgfältig, Stück für Stück. Der Komplize half ihm die Kartone im Rucksack zu verstauen, den sie neben der Tür abstellten. Das Klebeband nahmen sie mit in den Raum hinter der Glaswand, den sie durch eine Schiebetür betraten. Wie ungezogene Kinder in einem Museum schritten sie die langen schmalen Räume hinter Gittern ab. Beachteten die Kostbarkeiten aus Rot, Gelb und Grün nicht.
Blau! Blau suchten sie. Nur Blau. Sie fanden die Blauen in den letzten beiden Räumen. Die Gittertüren waren nicht verschlossen, einfach zu öffnen.