Finanzier Dr. Ewald Rudloff nach der Herkunft seines Vermögens.
Es knallte wie ein Schuss, als Dr. Ewald Rudloff die Haustür seiner Villa auf dem Bruderholz in Basel hinter sich zuschlug. Mit diesem Geräusch wollte er Aufmerksamkeit erzielen und sich Gehör verschaffen, wie früher. Eine Möglichkeit aufgestaute Aggressionen abzubauen.
Er hatte Grund sich über sich zu ärgern. In solchen Fällen zog er sich in sein Refugium zurück. Einen großen Raum im Keller seiner Villa in Basel, den nur er kannte. Ein gediegen eingerichteter Pistolenschießstand mit einer Gemäldegalerie nebenan.
Dr. Rudloff war ein passionierter Pistolenschütze, der es fertig brachte, mit einigen Schüssen aus einer seiner Handfeuerwaffen Stimmungen zu verändern und sich zu erleichtern, um sich so zu entspannen. Er hasste seine Namen Ewald und Rudloff, die er sich als junger Mann zulegen musste. Sie zwangen ihn in eine Rolle, die ihm nicht passte und ihn psychisch und im Alter auch physisch überforderte. Er wollte mit Herr Doktor angesprochen werden. Ewald Rudloff hatte das Jurastudium wegen seines Identitätswechsels zweimal absolvieren müssen. Im übrigen wollte er, wie es Prominente tun, mit seinen Anfangsbuchstaben E. R. genannt werden.
Der Grund seiner heutigen Unzufriedenheit war ein banaler. Er hatte sich während einer belanglosen Besprechung mit dem Bauunternehmer Ralf Steiner und anderen Handwerkern über einen ausgesprochenen Fluch geärgert. Diesen hatte er aus seinem Wortschatz gestrichen und vergessen. Himmelzwirn! In seinem ersten Ich als Franz Stielhammer hatte er als junger Offizier in Deutschland diesen harmlosen Halbfluch häufig gebraucht. Das Wort Arsch mittendrin erschien ihm unter seiner Würde. Dieser Ausspruch hatte ihm bis zum bitteren Ende seiner stolzen Dienstzeit den Spitznamen Himmelzwirn eingetragen. Dieses Schimpfwort, das dem Grad seiner Unbeliebtheit entsprach, verfolgte ihn bis zum Ende seiner ersten Identität.
E. R. genoss es, sich an seine ursprüngliche Identität zu erinnern. Er glaubte, dass Franz Stielhammer, der er mal war, sein besseres Ich war. Diesen bewunderte und beneidete er. Die Erinnerungen waren Phasen der Unzufriedenheit, nicht jener zu sein, der er gern wäre. Er sah sich als schneidigen Offizier der Waffen-SS, als den jüngsten im Majorsrang, den es je gegeben hatte. Wäre der Krieg anders ausgegangen, hätte ihm eine glänzende Karriere bevorgestanden - glaubte er.
Meisterhaft verstand er es, die dunklen Punkte seiner Vergangenheit als kriegsbedingt und als Pflichterfüllung auszuklammern. Das Versteckspiel hinter der Maske seines um acht Jahre jüngeren Bruders nervte ihn. Dieses Anders- und Jüngerseinmüssen, das Angsthaben vor der Entdeckung seiner wahren Identität, hatte ihn seit dem Wechsel zu seinem neuen Ich im Jahre 1945 bedrückt. Es war schwer zu ertragen. In diesem zweiten Ich, das ihm nicht entsprach, war er unglücklich.
Häufig hatte er den Wunsch verspürt, alles hinzuwerfen, nach Amerika oder anderswo hinzugehen, um ein drittes Leben zu beginnen. Geld hätte er genug gehabt. Warum hatte er es nicht getan? Jetzt, mit gespielten siebzig und tatsächlichen achtundsiebzig Jahren, war es zu spät.
E. R. kam auf sein heutiges Problem zurück. Vielleicht wäre es ihm nicht bewusst geworden, wenn er das Erstaunen des teilnehmenden Steiner nicht bemerkt hätte. Als sich ihre Blicke trafen, hatte sich dessen Mienenspiel schnell in ein verlegenes und aufgesetztes Lächeln verwandelt. Warum hatte der gestutzt bei diesem harmlosen Fluch? So, als ob er ihn an irgendetwas erinnerte. »Wer ist dieser Steiner, zu dem ich seit Jahren ein zwiespältiges Verhältnis habe« flüsterte er vor sich hin. »Er ist der Liebhaber meiner Frau, den ich insgeheim hasse, obwohl mir das egal sein könnte. Es ist aber nicht so, weil er weiß, dass ich nichts gegen ihn tun kann. Dem ich Bauaufträge erteile, weil ich mir aus seinem schlechten Gewissen wegen der Liaison mit Vera Preisvorteile verspreche, mich kaufen lasse, warum?«
E. R. verspürte einen gewissen Reiz darin, Vera, die er viel mehr hasste als diesen Steiner, herabzusetzen, weil er sie billig abgab. Sie hatte ihn mit Worten erniedrigt und er glaubte nun, sie wie eine Hure verleihen zu können, um damit ihren Stolz zu treffen. Dass bei beiden Liebe im Spiel sein könnte, kam ihm nicht in den Sinn.
Wer war dieser Ralf Steiner wirklich? Es konnte nicht schwer sein, seine Vergangenheit zu durchleuchten und dunkle Punkte in seinem Leben zu finden. E. R. spürte, dass dieses Thema für ihn noch nicht abgeschlossen war. Er holte sich aus dem Waffenschrank eine Pistole. Er empfand sie für seine augenblickliche Stimmung als zu leicht und legte sie in den Schrank zurück. Er entnahm einen schwereren Revolver und die Munition dafür. Nachdem er die Waffe geladen hatte - er liebte dieses Ritual - gab er drei Schüsse auf eine an der Rückwand befestigten Scheibe ab. Mit Befriedigung stellte er die gute Trefferquote fest.
Er setzte sich in einen der gemütlichen Lehnsessel oder Fauteuils, wie er sie nannte. Er begann jetzt wesentlich entspannter zu überlegen. War es möglich, dass Steiner durch diese unbedachte Äußerung, dieses blöde Himmelzwirn, Verdacht geschöpft hatte? Und das nach mehr als fünfzig Jahren, seit dem Identitätswechsel von Franz Stielhammer zu Ewald Rudloff? Hatte er mit Vera darüber gesprochen und sie, die von seiner Vergangenheit nicht die leiseste Ahnung hatte, ausgefragt und verunsichert?
Das halbe Jahrhundert als E. R. sollte genügt haben, um sich in die Person seines toten Bruders zu verwandeln. Er war nun einmal Ewald Rudloff, wenn auch ungern. Er konnte sich den kompletten Fluch nicht verkneifen. Himmel, Arsch und Zwirn! Niemand würde etwas anderes beweisen können. Seine ursprüngliche Identität, sein erstes Ich, kannte nur er, und kein Mensch könnte sie aufdecken. E. R. glaubte, ausreichend vorgesorgt zu haben.
Unlängst hatte Vera ihn gefragt: »Wer bist du eigentlich, Ewald?« Wenn er es ihr hätte an den Kopf werfen können, ihr, der Erfolgreichen, der Großrätin. Ihr, die trotz ihrer siebenundfünfzig Jahre noch schön und begehrenswert war und das Leben und die Liebe genoss. Gegen sie hatte er den Kampf der Geschlechter längst verloren.
Je mehr er sich seine Schwäche eingestand und seine Unterlegenheit fühlte, desto mehr flüchtete er in Erinnerungen. In seine große Zeit, in Vorstellungen, was er alles hätte erreichen können, wenn er nur .... Es drängte ihn nun, noch einen Schuss abzugeben. Er verfehlte die Scheibe, was ihn nicht weiter störte. Nur der Schuss war ihm diesmal wichtig, nicht das Treffen.
Obwohl das Verhältnis zu seinem Sohn Richard abgekühlt war, war er mit seiner Stellung in der Baseler Gesellschaft für ihn der Einzige, worauf er stolz war. In dieser Gesellschaft, an die er sich nie anpassen konnte, war Richard Anwalt, Notar und Major a. D. der Schweizer Armee. Was war das schon, tröstete er sich. Er hatte als Dr. Stielhammer jun. diesen Rang bereits mit zweiundzwanzig Jahren erreicht. Dass er das seinem Vater, dem SS-Oberstgruppenführer und Generaloberst im Reichssicherheitshauptamt Dr. Heinrich Stielhammer zu verdanken hatte, wollte er sich nicht eingestehen.
E. R. ließ den Film seiner Erinnerungen weiter ablaufen. Dieser Vater, sein leiblicher, nicht jener Alois Rudloff, dessen Familiennamen er jetzt trug, war Oberleutnant und hoch dekoriert. Schwer verwundet war er Ende 1917 aus dem Krieg heimgekehrt und schwängerte eine der ihn pflegenden Krankenschwestern. Im Frühjahr 1919 gebar sie ihm den Sohn Franz. Er heiratete sie. Das war die Ehrenpflicht eines deutschen Offiziers. Dass er noch Pflege benötigte, sah er nicht ein. Kaum genesen, war er zu Hause ein seltener Gast. Die liebevolle Aufmerksamkeit der Mutter vermochte die dauernde Abwesenheit des Vaters nicht ersetzen.
Der einstige Kriegsheld konnte und wollte sich den Gegebenheiten der Nachkriegszeit nicht beugen. Er konnte die Schmach von Versailles nicht überwinden. Er empfand jede ihm angebotene Stelle in Anwaltsbüros oder in der Wirtschaft unter seiner Würde. Er schloss sich zunächst der Organisation Stahlhelm und später der aus der SA hervorgegangenen Schutzstaffel SS an. Die Entfremdung von Frau und Kind war damit vorprogrammiert. Er verließ die kleine Familie 1926, um sich ganz der Parteiarbeit, dem Kampf gegen die Roten, Juden und Kriegsgewinner, wie es damals hieß, zu widmen. Nebenbei gab er sich wechselnden Liebesabenteuern hin.
Die vaterländischen Pflichten des Dr. H. Stielhammer, denen er seine ganze Zeit, Kraft und Intelligenz, vor allem für die Karriere in der NSDAP, widmete, ließen ihn die Zahlung des Pflegegeldes vergessen. Das führte zu einer ärmlichen Lebensführung der beiden Verlassenen und überschattete Franz Kindheit.