liebte und fürchtete ihn. Die Gespräche bei Kurzbesuchen waren einseitig, nur Parolen: »Die Demokratie funktioniert nicht, die Roten müssen vernichtet werden, die Juden sind an allem schuld, Hitler führt uns zum Sieg usw.« Die Mutter schwieg, Franz lauschte gebannt den Tiraden.
Die Scheidung erfolgte noch im gleichen Jahr. Ein Jahr später heiratete Franz Mutter den Postbeamten Alois Rudloff, einen unzeitgemäßen und stillen Mann, der sich jeglichen Äußerungen über Politik enthielt. Er war in allem das genaue Gegenteil von Franz Vater. Er war häuslich, liebevoll und zurückhaltend. Trotz großer Bemühungen gelang es ihm nicht Franz Anerkennung zu gewinnen.
Im Herbst 1927 bekam die neue Familie Nachwuchs, einen Jungen, der auf den Namen Ewald getauft wurde. Aus unerfindlichen Gründen hasste Franz diesen Halbbruder vom ersten Tag an. »Was für ein Wunder, wenn ich mich nicht leiden kann« murmelte E. R. leise vor sich hin, »wer bin ich nun wirklich?« So unberechtigt erschien ihm die Frage, die Vera ihm gestellt hatte, plötzlich nicht. Er hatte sich in eine schmerzlich, nostalgische Stimmung hineinversetzt und begann sich zu bedauern.
Um sein zweites Ich von seinem ersten Ich auseinanderzuhalten, versuchte er das erste konsequent mit Franz oder Stielhammer zu betiteln und diesen als eine andere Person zu empfinden. Er schaltete das Deckenlicht und später die Stehlampe aus. Das Licht störte ihn. Jetzt brannten noch die drei kleinen Spots, die die Zielscheiben beleuchteten.
Was hatte ihn bewegt in seinen beiden Leben, in dem als Franz Stielhammer und als Ewald Rudloff oder besser als E. R? Idealismus, Vaterlandsliebe, Gerechtigkeit? Er musste einsehen, das war es nicht. Nur Opportunismus? Streben nach Macht und Reichtum - dem Tanz um das goldene Kalb? Er verdrängte wie oft eine Antwort auf diese Frage. Er ahnte, dass diese negativ ausfallen würde. Zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl und..., von flink konnte keine Rede mehr sein. Das waren seine Lebensmaximen. Sie waren es nur dort, wo es zu nichts Gutem, manchmal zu Schrecklichem, führte. Gewissensbisse? Unsinn! Am liebsten hätte er mit einem Scheiß drauf diesen ganzen Gedankenlauf unterbrochen. Wie unter Zwang setzte er ihn aber fort.
Liebe, was war das? Hatte er seine Mutter geliebt? Irgendwie schon! Sie war die einzige Frau, für die er so etwas wie Liebe empfinden konnte. Männern gegenüber durfte ein solches Gefühl nicht entstehen, oder doch? Damals, als er noch Franz war, jedenfalls nicht.
E. R. versuchte diese schmerzliche Erinnerung an seine erste Liebe zu verdrängen, die ein böses Ende nahm. Zeitweise war ihm - nein Franz – so etwas wie Liebe gelungen. Das damals brennende und beglückende Gefühl passte nicht in das ihm aufgezwungene Weltbild.
Er glaubt, heute noch die harte Hand des geliebten Vaters zu spüren. Dieser hätte ihn damals wegen dieser Obszönität und Rassenschande am liebsten erschlagen.
E. R. fühlte eine Welle des Hasses in sich aufsteigen, ein Gefühl, das er brauchte, um damit alles andere zu überdecken. Liebe? Sein Leben wäre glücklicher gewesen, wenn er sie hätte empfinden können. Das konnte er nie, außer eben der zu Leo damals, als er zwölf war. Die Erinnerung daran, die er verdrängt hatte, die ihn immer wieder einholte und derer er sich jahrzehntelang schämte. Das Wissen um seine ihm aufgezwungene Moral und seine verachtenswerte Neigung waren die Gründe seiner inneren Zerrissenheit. Warum hatte er diese nicht mit seinem ersten Ich, mit Franz, abstreifen können?
Franz war damals dreizehn Jahre und in der dritten Klasse des Gymnasiums. Der Einfluss des Vaters, der mit seiner drängenden Arbeit für die Machtergreifung der NSDAP beschäftigt war, war nicht groß. Er kümmerte sich wenig um seinen Sohn. Dem in die Pubertät gelangenden Knaben hatte sich eine Verliebtheit zu seinem Klassenkameraden Leo Goldberg entwickelt. Dass dieser Jude war, tat dem Anfall jugendlicher Sexualität keinen Abbruch. E. R. hatte sich später diese starke Zuneigung damit erklärt, dass Leo zart wirkte und ein schöner Junge war, wie ein Mädchen. Franz Neigung war somit verständlich. Homosexuell? Nein, das war Franz nicht. E. R. mochte sich diese Perversion, wie er die Empfindung nannte, die er ein Leben lang verleugnete und unterdrückte, auch heute nicht eingestehen.
Franz und Leo schlossen Freundschaft, spielten Schach, machten Wanderungen und verfassten sich gegenseitig anfeuernde, erste unbeholfene Gedichte. Es kam zu keinerlei sexuellen Handlungen oder andeutenden Berührungen. Schon die Nähe des Freundes, die er in den Pausen oder beim Turnen suchte, beglückte Franz. Da Leo sich keinerlei ähnliche Empfindungen anmerken ließ, hielt Franz seine weitergehenden Sehnsüchte zurück, um den Freund nicht zu verlieren.
Zur Bestürzung der Mutter und des Stiefvaters erschien eines Tages unerwartet der schon vergessene Vater. In schwarzer Uniform versteht sich, um sich über die richtige Erziehung seines Sohnes ein Bild zu machen. In Franz brach die vergessene Bewunderung für seinen Vater spontan wieder auf. Mit bewundernden Blicken hing er an dessen imponierender und martialischer Gestalt. Dieser war mit dem Erfahrenen nicht zufrieden. Er wollte schon mit »das wird anders, heil Hitler!« die Wohnung verlassen, als es läutete und Leo in der Türe erschien. Als Dr. Stielhammer den verblüfften Jungen sah, der am liebsten weggelaufen wäre, kam es zur Katastrophe. Er fuhr ihn mit der Frage an: »Was willst du hier und wie heißt du?«
Franz spürte augenblicklich die Brisanz der Situation und antwortete trotz des Würgens im Hals für den Freund. »Das ist mein Schulfreund Leo.«
Der Vater schien etwas zu ahnen, und er fragte mit einer Schärfe, die nichts Gutes ahnen ließ: »Leo - und wie noch?« Als der völlig verängstigte Leo ein kaum hörbares
»Goldberg« hervorbrachte, war es mit der Beherrschung Stielhammers vorbei. Franz, vor Schreck wie gelähmt, fürchtete, dass sein Vater zuschlagen würde, was dieser nicht tat. Dafür rief er zornentbrannt aus: »Verschwinde, du Judenbengel, sonst schlag ich dich tot. Lass dich hier nie wieder blicken!«
Der arme Leo lief völlig verstört davon. Dr. Stielhammer wandte sich jetzt wutentbrannt dem verängstigten Franz zu. Er musste sich im Zaume halten, um nicht zuzuschlagen und um sich zur Ruhe zu zwingen. Mit Eiseskälte in der Stimme sagte er: »Schämst du dich nicht, mit diesem Saukerl zu verkehren? Du weißt doch, dass er Jude ist. Das wird sich jetzt ändern, darauf kannst du dich verlassen.«
Den Rudloffs zugewandt, die der ganzen Szene entsetzt und schweigend beigewohnt hatten, brüllte er: »Wie könnt ihr so etwas dulden? Ich werde dafür sorgen, dass euch das Sorgerecht für meinen Sohn entzogen wird.« Dann verließ der Wütende die Wohnung, nicht ohne beim Verlassen noch ein heil Hitler gebrüllt zu haben.
Franz war aufgelöst und weinte. Die Mutter versuchte vergeblich ihn zu trösten. Er hatte das Gefühl, allein gelassen zu sein und alle Welt hassen zu müssen. Seinen Vater, weil der ihm den Freund genommen hatte, seine Mutter, weil sie ihn nicht schützen konnte und Leo, weil er jemand war, den er nicht lieben durfte. Mit diesem Geschehnis zerbrach in Franz Stielhammer etwas Unwiederbringliches. Die Fähigkeit zu lieben.
Wenige Tage später, Franz hatte den Schock noch nicht überwunden, brachte ihn der Vater, der im Schnellverfahren das Erziehungsrecht für seinen Sohn erhielt, in ein Internat in Potsdam. An seinem vierzehnten Geburtstag wurde er an die NAPOLA, eine ationalpolitische Erziehungsanstalt, auf der Marienburg überstellt. Franz merkte bald, dass die strenge Zucht und Ordnung nicht seinen Neigungen entsprach. Er bemühte sich nicht unangenehm aufzufallen oder als Schwächling erkannt zu werden. Der Name des Vaters, der inzwischen als alter Kämpfer und als brillanter Jurist mit Einfluss in den Führungsstab Himmlers aufgestiegen war, war ihm Verpflichtung genug. Sie brachte ihm auch Vorteile.
Er lernte schnell Schwächen durch gespielte Härte zu überspielen. Er erlaubte sich im Laufe der Zeit eine gewisse Arroganz gegenüber den Kameraden, die keine gute Rückendeckung hatten. Die Verbindung zur Mutter war abgebrochen. Seinen Halbbruder Ewald, der in ihrer Obhut aufwuchs, hasste er mehr den je. In den seltenen Briefen seines Vaters erhielt Franz Verhaltensratschläge.
»Jetzt zeig, dass Du ein ganzer Kerl bist, ein echter Stielhammer! Wenn Du diese Eliteschule beendet haben wirst, gehörst Du geistig und körperlich zu den Besten der Nation. Dann stehen Dir alle Wege offen! Ich will Dich einmal ganz oben sehen und stolz auf Dich und den Namen Stielhammer sein können!«