Thomas Hölscher

Der Pferdestricker


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und sollte spätestens um neun Uhr zu Hause sein. Ralf war erst um kurz nach halb elf nach Hause gekommen.

      „Wo kommst du jetzt her?"

      „Von Mehmet. Der hatte heute Geburtstag." Alleine schon die leise und unsichere Stimme des Jungen hatte ihn auf die Palme gebracht. Diese schlappe Leisetreterei hatte ihn sei eh und je an dem Jungen angeekelt.

      „Sprich lauter, wenn du mit mir redest! Wo warst du?"

      „Bei Mehmet."

      „Ach! Mein Sohn treibt sich jetzt schon bei Kanaken rum!"

      „Ach, halt doch den Mund! Du hast doch gar keine Ahnung!"

      Und so etwas musste man sich von einem 14Jährigen nicht sagen lassen. Er hatte Ralf windelweich gehauen, und dessen weibisches Gewinsel hatte ihn in immer größere Wut versetzt. Mit dem Ledergürtel hatte er ihn auf den entblößten Rücken geschlagen, und weil der Junge plötzlich laut geschrieen hatte, hatte er dessen Gesicht mit dem Knie aufs Bett gedrückt und weiter geschlagen. Er hatte nicht mehr aufhören können, weil es so ekelhaft ausgesehen hatte, wie das schlaffe weiße Fleisch unter den Schlägen aufgeplatzt war und die saubere Bettwäsche mit Blut beschmiert hatte. Wahrscheinlich hätte er die Memme wirklich totgeschlagen, wenn es Elke letztlich nicht doch noch gelungen wäre, ins Zimmer zu kommen.

      „Ich hatte dir doch gesagt, es ist aus, wenn du den Jungen noch einmal anrührst." Er hatte anschließend wieder das Sportstudio gesehen, und am nächsten Morgen waren die beiden verschwunden gewesen.

      Er ging zurück in sein Zimmer und ließ sich in den Sessel fallen. Es war erst kurz vor elf, als auch die letzte Flasche Bier leergetrunken war. Er nahm sich vor, gleich überall in der Wohnung nach den Flaschen zu suchen, die immer im Wohnzimmerschrank gestanden hatten. Aber wahrscheinlich hatte Elke aus lauter Bosheit auch diese Flaschen mitgenommen. Oder schlimmer noch: sie hatte sie in der Toilette ausgeschüttet, um ihn zu ärgern. Irgendwann schlief er ein.

      Als er erwachte, schien die Sonne schräg in sein Zimmer. Erschrocken sah er auf seine Uhr. Es war kurz nach vier.

      Er hatte geträumt und fand das erstaunlich. Seit er soff wie ein Loch, träumte er kaum noch. Oder vielleicht träumte er doch, vergaß aber alle Träume. Wahrscheinlich verbrauchte er zuviel Energie, um sein Saufen vor anderen zu verbergen. Nicht dass er sich als Beamter sonderlich anstrengte, sein Laster vor Kollegen verborgen zu halten; aber eine Menge Energie kostete es doch.

      In seinem Traum war er auf dem Grundstück des Penners gewesen, der sie heute nacht gerufen hatte. Auf der Weide hinter dem Bauwagen hatten Hunderte kleiner weißer Pferde gestanden, und als er gekommen war, hatten sie sich ängstlich immer weiter in eine Ecke des riesigen Areals zurückgezogen. Mitten auf der Weide hatte Elke auf einem Stuhl gesessen und immer wieder gerufen: Lass sie in Frieden! Wenn du sie auch nur anrührst, ist es aus! Ihn hatte ihr Gezeter nur angespornt, regelrecht geil gemacht, er hatte eines der Tiere gepackt und sich auf dessen Rücken geschwungen. Er war erschrocken und enttäuscht darüber gewesen, dass das Tier plötzlich gar nicht mehr da zu sein schien, nur noch schemenhaft wie eine Wolke unter ihm zu sehen war, während seine Füße in einem riesigen Haufen Pferdemist steckten. Erst als er wütend hinter sich schlug, um das Tier anzutreiben, spürte er dessen Rücken plötzlich unter sich, wurde von ihm fortgetragen. Je schneller das Tier lief, um so rücksichtsloser stieß er ihm die Füße in die Seiten. In immer enger werdenden Kreisen bewegte er sich um Elke, die von ihrem Stuhl aufgesprungen war und ihn mit entsetzten Blicken verfolgte. Als er die Frau fast erreicht hatte, zog er den Kopf des Tieres so stark zwischen seine Schenkel, dass es sich noch einmal aufbäumte und dann zu Boden stürzte. Als es dort lag, war es plötzlich das Tier, das sie heute nacht gesehen hatten. Elke schrie völlig hysterisch, und vom Rand der Weide kam Westermann angelaufen. Er war in Uniform, und als er sie beide erreicht und einen Blick auf das Tier geworfen hatte, wandte er sich ab und musste sich übergeben.

      Trotz seiner fürchterlichen Kopfschmerzen lachte er plötzlich los. Westermann hatte heute Nacht gekotzt wie ein Reiher. Zweimal noch. Ein Kerl wie ein Baum, und dann haute ihn der Anblick eines toten Tieres um! Westermann war insgeheim ein Schlappschwanz, eine Wurst! Der Schwarm aller Schwiegermütter zwar, weil er jung war, gut aussah und das Leben und seine Karriere noch vor sich hatte. Aber vom wirklichen Leben hatte er keine Ahnung, weil er Angst davor hatte, sich die Finger dreckig zu machen.

      In diesem Augenblick schellte es.

      Noch als er sich irritiert fragte, ob es tatsächlich geschellt hatte, klingelte es noch einmal. Er sah in den Spiegel des Badezimmers, fand, dass er betrunken aussah, und nahm sich vor, die Tür nicht zu öffnen. Als es mehrfach hintereinander schellte, lief er zur Wohnungstür und betätigte den Türsummer. Dann hörte er, wie jemand zügig die Stufen im Treppenhaus nach oben kam. Als er durch den Spion Doris’ Gesicht erblickte, atmete er erleichtert auf und öffnete die Tür.

      „Was willst du denn hier?"

      „Wir hatten uns doch verabredet." Die Frau sah ihn einen Augenblick lang an, und er wandte sich ab. Ihr Blick hatte ihn wütend gemacht. Du hast also schon wieder getrunken, hatte dieser Blick gesagt.

      „Komm schon rein! Oder willst du da Wurzeln schlagen?"

      „Was ist denn hier los?", fragte die Frau erstaunt, als sie die Wohnung betreten hatte.

      „Was ist denn hier los? Was ist denn hier los?", äffte Gerber sie wütend nach. „Du siehst doch, was hier los ist. Die blöde Kuh hat mir heute Nacht die Bude leer geräumt."

      Die Frau ging langsam durch den Korridor und sah durch die geöffneten Türen in die einzelnen Zimmer. „Das darf doch nicht wahr sein!", meinte sie schließlich, und als sie in das Kinderzimmer sehen wollte, zog Gerber ihr die Tür vor der Nase zu.

      „Es ist aber wahr! Ich habe dir doch gesagt, dass die Alte ein hinterhältiges Luder ist. Und wenn du dich hier nützlich machen willst, kannst du eben zur Bude gehen. Ich habe nichts mehr zu trinken im Haus. Hat das Weibsbild auch alles mitgehen lassen."

      Wieder sah die Frau ihn an, und Gerber glaubte, seine Wut nicht länger beherrschen zu können. Er konnte diese vorwurfsvollen Kuhaugen nicht mehr sehen. „Meinst du denn, dass das etwas ändert, Georg?"

      „Erzähl doch jetzt keine Opern!", rief er außer sich. Er lief in sein Zimmer, stopfte die leeren Flaschen in die Plastiktüte und drückte sie der Frau in die Hand. „Also mach schon!" Er drängte sie zur Wohnungstür.

      „Wenn du meinst", resignierte die Frau.

      „Ja, meine ich." Er schlug die Tür hinter ihr zu.

      Doris hatte er vor zwei Wochen kennengelernt. In einer Kneipe.

      Nichts war mit der, gar nichts. Von Anfang an nicht. Als seinen neuen Fickschlitten hatte er sie Westermann gegenüber einmal bezeichnet, und nicht mal das war sie. Sie war schließlich schon 40 und hatte ihn nur genervt. Hatte sich bei ihm ins gemachte Bett legen wollen. Vor vier Jahren hatte ihr Kerl sie verlassen und war seit der Zeit unauffindbar; mit irgendwelchen Unterhaltszahlungen lief also gar nichts. Für ein paar Monate hatte sie dann in einer Wäscherei arbeiten können, anschließend war sie arbeitslos und tablettensüchtig geworden. Seit drei Jahren war sie jetzt schon arbeitslos und lebte von der Sozialhilfe. Vor ein paar Wochen hatte das Arbeitsamt sie in irgendeinen blödsinnigen Kurs gesteckt, und anscheinend konnte sie von gar nichts anderem erzählen als von diesem Kurs.

      „Ich hätte selber nicht gedacht, dass einem diese Sache weiterhilft. Aber es ist wirklich ganz wichtig, mal wieder aus dem Haus raus zu kommen, einfach unter Menschen zu sein."

      „Blödsinn ist das doch alles! Beschäftigungstherapie für faule Schweine, die sich auf Kosten der Steuerzahler ein paar schöne Wochen machen."

      „Wie kannst du denn so etwas sagen! Du solltest mal die Leute kennen lernen."

      Das hatte gerade noch gefehlt! Mit diesen Elementen würde er ganz anders umspringen! Denen durfte man doch nicht auch noch Zucker in den Arsch blasen!

      Wenn sie heute noch einmal von diesem Kurs anfing, würde er ihr eins vor die Mappe hauen. Er lief in die Küche, weil er Hunger hatte, und dann war ihm