Thomas Hölscher

Der Pferdestricker


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Industriebrache, die sie im großen Bogen umfahren mussten. Als sie in Höhe der Überführung der A42 die Münsterstraße und den Bahnhof Zoo erreicht hatten, bogen sie nach links. In Höhe des Ruhrzoos bogen sie noch einmal nach links ab in die Kneebuschstraße, durchquerten eine alte Zechensiedlung und bremsten dann ziemlich abrupt vor einem massiven Stahltor, das die Straße versperrte.

      „Ich glaube, ich werde verrückt!“, sagte Westermann, aber Gerber schien keine Lust auf lange Diskussionen zu haben. „Steig schon aus! Das Tor muss offen sein, wenn sie das Gelände verpachten.“

      Das Tor war tatsächlich nicht verschlossen, ließ sich in quietschenden Angeln zur Seite drehen, und anschließend fuhren sie ein paar hundert Meter durch eine Gegend, die man vielleicht in der abgelegensten Wildnis irgendeines dünn besiedelten Landes vermutete, aber bestimmt nicht inmitten einer Großstadt in Westeuropa.

      Und dann sahen sie den Mann schon von weitem mitten auf der Straße stehen. Mit beiden Armen fuchtelte er in der Luft herum, als habe er Angst, der von ihm gerufene Streifenwagen könne ihn in dieser gottverlassenen Wildnis übersehen und vorbeirasen.

      Der Mann war tatsächlich betrunken. Westermann waren sofort die Fahne und die glasigen Augen des Mannes aufgefallen. Auch Gerber musste den Zustand des Kerls schnell durchschaut haben; denn er ging auf den Mann zu in einer Art, die sich doch immer mehr Menschen von einem Polizisten nicht mehr gefallen ließen: „Na, Meister, wir sind aber ganz schön abgefüllt!"

      Der Mann schien aber gar kein Interesse daran zu haben, über Gerbers rüde Art irgendwelche Gedanken zu verschwenden. „Dat habt ihr noch nich gesehen!", rief er aufgebracht. „So wat habt ihr noch nich gesehen!" Und noch bevor die beiden Beamten weitere Fragen stellen konnten, lief der Mann auf das neben der Straße liegende Grundstück, überquerte eine mit altem Gerümpel und irgendwelchen Ersatzteilen übersäte Wiese vor einer heruntergekommenen Baubude, zwängte sich mit für seinen Zustand erstaunlicher Geschwindigkeit durch die Drähte eines Zauns im Hintergrund und war den Blicken der beiden Beamten entschwunden.

      „Warte mal", hielt Westermmann seinen Kollegen zurück. „Ich hol eine Lampe. Man sieht doch die Hand vor Augen nicht." Er nahm eine Stablampe aus dem Streifenwagen und dann liefen die beiden in die Richtung, in der der Mann verschwunden war. Auch Gerber zwängte sich zwischen den Drähten hindurch, und als er mit der Jacke an einem der Stacheln hängen blieb, beschloss Westermann, doch lieber über den Zaun zu steigen: „Drück mal den Draht nach unten! Ich bin schließlich noch im biologisch wertvollen Alter."

      Es dauerte eine Weile, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit ringsum gewöhnt hatten und in etwa fünfzig Metern Entfernung schemenhaft die Umrisse des Mannes zu erkennen waren. „Hier müsst ihr hinkommen!", rief er mit sich überschlagender Stimme. „Hierhin! Aber macht euch auf wat gefasst!"

      „Der macht doch wohl kein krummes Ding mit uns", sagte Westermann leise und umklammerte mit der rechten Hand das Halfter seiner Dienstwaffe.

      „Hat er schon!", rief Gerber ärgerlich. Sein rechter Fuß stand mitten in einem großen Pferdeapfel. „So eine verdammte Scheiße!"

      „Nu macht doch endlich!"

      Westermann richtete den Schein der Stablampe auf den Mann und lief voraus. Als er den Mann fast erreicht hatte, hob der die Hände schützend vor seine Augen. „Leuchte mir doch nicht so in die Visage!", rief er aufgebracht. „Hier musse hin gucken!" Mit der linken Hand deutete er neben sich.

      Westermann ließ den Lichtschein in die angegebene Richtung wandern, und dann erstarrte er. „Das darf doch nicht wahr sein!"

      Der gleichen Meinung war auch Gerber, als er wenig später, immer noch über Pferdescheiße an seinem Schuh fluchend, am Ort des Geschehens eintraf. „So was habe ich ja noch nie gesehen!"

      Vor ihnen lag der blutige Kadaver eines weißen Pferdes. „Eins von meinen Ponys", rief der Mann ganz außer sich. „Einfach abgeschlachtet! Kannße mir vielleicht mal sagen, wer so wat macht?"

      Zumindest Westermann konnte nicht. Er lief ein paar Schritte zurück in die Dunkelheit und kotzte wie ein Reiher. Die weiteren Ermittlungen musste er seinem Kollegen überlassen.

      Und obschon der gerne den durch gar nichts zu beeindruckenden Macho nach außen kehrte, war auch ihm der Schrecken noch anzumerken, als sie nach über einer Stunde wieder im Wagen saßen und losfuhren.

      „So was habe ich wirklich noch nie gesehen", meinte Westermann.

      „Ich auch nicht", stimmte Gerber zu. „War schon ekelhaft." Aber schon als sie die Bismarckstraße erreichten, schienen ihn ganz andere Gedanken zu bewegen. „Schreibst du den Bericht?", fragte er.

      Noch immer schien Westermann ganz andere Probleme zu haben. „Im Augenblick bestimmt nicht."

      „Hab ich mir schon gedacht." Gerber sah seinen Kollegen von der Seite an. „Sag mal, wie schreibt man denn eigentlich, wenn einer so was macht? Du weißt doch sonst immer alles. Ist das nun Sachbeschädigung oder was?"

      „Weiß ich doch nicht", murmelte Westermann und dann ließ er die Seitenscheibe des Streifenwagens nach unten gleiten. „Hör endlich auf!"

      Gerber lachte plötzlich los. „Kotz mir hier bloß nicht den Wagen voll!", rief er fast übermütig. Mit einem erneuten Seitenblick auf Westermann lachte er noch einmal. „Du sagst mir doch früh genug Bescheid, wenn du noch mal kotzen musst?"

      Das versprach Westermann und musste sich nur wenig später dazu durchringen, sein Versprechen auch einzuhalten.

      2

      Polizeihauptmeister Gerber hatte es nicht eilig, nach Hause zu kommen. Es wartete dort ohnehin niemand auf ihn.

      Auch auf die beiden freien Tage nach der Nachtschicht freute er sich nicht. Es war schwer, soviel Zeit totzuschlagen.

      Schlafen konnte er ohnehin kaum noch. Früher hatte er nach der Nachtschicht das ganze Wochenende verschlafen können und war trotzdem nach Ende des Fernsehprogramms wieder ins Bett gegangen und neben Elke eingeschlafen. Am Montagmorgen hatte die Welt für ihn schon wieder so ausgesehen, als wenn es eine Nachtschicht nie gegeben hatte.

      Am Kiosk kaufte er sich eine Tageszeitung. Früher hatte das Ding jeden Morgen im Hausflur gelegen, aber seit Elke nicht mehr da war, gab es auch keine Tageszeitung mehr.

      „Na Schorsch, wie isset?"

      „Gut Lilo. Warum auch nicht?"

      Früher war Lilo in ihrer Klümpchenbude immer ein rotes Tuch für ihn gewesen, ganz einfach eine ordinäre Schlampe, und irgendwann hatte er ihr sogar mal mit einer Anzeige gedroht. Sie duldete immer, dass die Kerle bei ihr Bier kauften und es an der Bude auch noch soffen, obschon das verboten war. Seit ein paar Wochen duzten sie sich. Er hatte abends selber des öfteren bei Lilo an der Bude gestanden und ihr bei ein paar Püllekes sein Herz ausgeschüttet.

      „War viel los heute Nacht?"

      „So wie immer."

      „Brauchse sons noch wat?"

      „Ne, lass mal."

      „Du denkst doch dran, dat ich heute um acht zumach? Vielleicht brauchse noch ein paar Püllekes?"

      „Haste denn zufällig noch ein paar im Kühlschrank?"

      „Na klar!" Die Frau lachte. „Ganz zufällig. Für dich sowieso."

      „Ich halte es einfach nicht mehr aus, dass du soviel säufst", hatte Elke ihm vor ein paar Wochen gesagt. „Das wird jeden Tag mehr. Du merkst das schon gar nicht mehr."

      „Halt doch deine blöde Schnauze! Kann man jetzt noch nicht mal mehr in Ruhe sein Bier trinken?"

      „Und wenn du den Jungen noch einmal anrührst, bringe ich dich um!"

      „Wieviel willse denn nu?"

      Einen Augenblick sah Gerber die Frau in der Bude irritiert an. „Mach mir mal acht Pullen fertig! Heute ist schließlich frei, und morgen auch."