Thomas Hölscher

Der Pferdestricker


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2000, 0 Uhr 30.

      Als habe der Schreiber mit dieser kurzen Notiz das jungfräuliche Papier ohnehin ein und für alle Mal entweiht, fügte er hinzu: Es ist schon dreimal passiert, aber ich weiß nicht mehr genau wann. Nun ist es ruhig.

      Es kam ihm vor, als sei er stundenlang durch das gesamte Haus gelaufen, um einen Bleistift, Kuli oder Füller zu finden, der auch schrieb. Es musste Hunderte dieser Gegenstände im Haus geben, aber sie schrieben alle nicht.

      Um ein Uhr war es dem angefertigten Protokoll nach immer noch ruhig; Das letzte Mal, so wurde hinzugefügt, ist es vor ungefähr zwei oder drei Wochen passiert. Kann mich leider nicht mehr genau erinnern.

      Um zwei Uhr war es zum letzten Mal ruhig in dem Notizblock. Um 2 Uhr 14 brachen die Aufzeichnungen ab: Ich gehe jetzt nach draußen. Das ist ja unglaublich!

      Das Rufzeichen hinter dem Satz hatte er noch gemacht. Dann hatte er ganz offensichtlich die Tür geöffnet, hinter sich ins Schloss fallen lassen und war nach draußen gelaufen in Richtung der Weide, wo das Pony stand, das er für seine kleine Nichte gekauft hatte, die ihn noch kein einziges Mal besucht hatte. Alle kleinen Mädchen mochten Pferde, hatte er gedacht. Kurz bevor er starb, sah er, wie eine völlig nackte Person von dem Tier rutschte und auf ihn zulief. Für Sekunden nahm er dann noch die Silhouette eines Kindes vor den dichten Brombeersträuchern direkt neben der Weide wahr. Danach nahm er nichts mehr wahr, weil er tot war.

      Die Leiche wurde erst gegen 10 Uhr von der Frau entdeckt, die gekommen war, um im Haus für Ordnung zu sorgen. Der Tote lag am Rand der völlig durchnässten Weide. Am frühen Morgen hatte sich ein starkes Gewitter entladen, ein Umstand, der der nur wenig später eintreffenden Polizei die Spurensuche nicht gerade erleichterte.

      Der Tod war durch einen Schlag mit einem stumpfen Gegenstand herbeigeführt worden. Der Täter hatte mit solcher Heftigkeit zugeschlagen, dass der Schädelknochen an der linken Schläfe zertrümmert worden war. Und als habe der Täter ganz sicher sein wollen, musste er das bereits tote Opfer auch noch gewürgt haben. Als Tatzeitpunkt wurde die Zeitspanne zwischen zwei und vier Uhr morgens angegeben.

      Die Tür, die in die Tenne führte, war beschädigt worden. Ganz offensichtlich war mit ziemlicher Gewalt sowohl am Schloss als auch an der Tür hantiert worden. Was die untersuchenden Beamten verblüffte, war die Tatsache, dass die Alarmanlage im gesamten Haus ausgeschaltet worden war.

      Auf Grund der ersten Untersuchungsergebnisse kam die Polizei somit zwangsläufig zu der Schlussfolgerung, dass ein Unbekannter versucht haben musste, in das Haus einzudringen. Dabei musste diese Person vom Eigentümer überrascht worden sein. Dieser hatte die Alarmanlage des Hauses entweder gar nicht eingeschaltet gehabt oder aber sie eigenhändig ausgeschaltet, um sich dem Eindringling zu stellen und ihm letztlich bis auf die Weide vor dem Haus nachzulaufen. Dort musste ihn der Täter erschlagen haben; denn die Blutspuren auf der Weide sagten eindeutig aus, dass der alte Mann dort gestorben war.

      Jede von der Polizei vorsichtig und vorläufig formulierte Antwort warf natürlich auch neue Fragen auf. Warum hatte der Täter sein ihm unterstelltes Vorhaben nach dem Mord nicht zu Ende geführt? Weshalb war er nicht in das Haus eingedrungen und hatte sich genommen, was er haben wollte? Niemand hätte ihn in dieser Einöde mitten in der Nacht daran gehindert. Und es hätte sich auf jeden Fall gelohnt: die untersuchenden Beamten waren geradezu entsetzt darüber, welche Summen alleine an Bargeld aus dem Haus zu entwenden gewesen wären. Aber sie waren eben nicht entwendet worden. Es gab überhaupt nicht den geringsten Hinweis darauf, dass der Täter trotz der auch noch bei der Ankunft der Beamten halb offen stehenden Tür in das Haus weiter eingedrungen war.

      Warum war die Alarmanlage des Hauses nicht eingeschaltet gewesen? Warum war das Opfer dem Täter sogar noch nachgelaufen?

      Das Opfer war ein Mann von sechsundsiebzig Jahren. Wenn dieser Mann seine Kräfte nicht maßlos überschätzt hatte, lag der Verdacht nahe, dass er den Täter gekannt hatte. Dass er ihn womöglich sogar erwartet hatte: dafür sprach auch das Ausschalten der Alarmanlage.

      Wen also hatte dieser Mann gekannt?

      In der näheren Umgebung ließ sich die Liste der in Frage kommenden Personen schnell abarbeiten: Bis auf die Haushaltshilfe und den Jungen, der alle 14 Tage kam, um den riesigen Garten in Ordnung zu halten, kannte den Mann niemand näher. Und natürlich wurden diese beiden Personen und deren Umfeld genau unter die Lupe genommen.

      Die Haushaltshilfe hieß Koscinski und wohnte im ungefähr 10 Kilometer entfernten Dorsten. 1988 war sie mit ihrer Familie aus Schlesien in die Bundesrepublik gekommen und hatte alle Klischees über polnische Spätaussiedler bedient: Das Wort Sozialhilfe hatte sie sogar buchstabieren, aber ansonsten kein einziges deutsches Wort sprechen können. Ihr 58jähriger Mann hatte über 45 Jahre in schlesischen Kohlegruben gearbeitet – zumindest hatten das zwei ebenfalls aus Schlesien geflüchtete Kumpel bei der Knappschaft beeidet – und bezog deshalb eine Rente, die weit über dem lag, was ein deutscher Kumpel im Durchschnitt als Altersruhegeld bezog. Ihre zwei Kinder waren inzwischen volljährig: die Tochter arbeitete als Abteilungsleiterin in einem großen Kaufhaus in Essen, war verheiratet und wohnte auch dort; der 21jährige Sohn, der erklärte Liebling der Mutter, studierte Ingenieurswissenschaften in Bochum. Er hatte als Spätaussiedlerkind zwar problemlos eine Bude im Studentenheim in Bochum bekommen, wohnte aber dennoch zumeist bei Muttern.

      Mutter selber hatte schon früh die Vorteile des Kapitalismus erkannt und war sich trotz der üppigen Rente des Ehemannes nicht zu schade gewesen, das Familieneinkommen durch diverse nie versteuerte Jobs zu erhöhen. Als sie den in einer Zeitung annoncierten Job bei Schneider tatsächlich bekommen hatte, hatte es ihr zu Beginn den Atem verschlagen. Wenig später hatte ganz Dorsten erfahren, dass sie als Haushälterin bei dem Millionär arbeitete.

      Für die Polizei gab es hier Fragen, die mit dem Mord zusammenhingen, schon sehr bald nicht mehr.

      Das war bei der anderen ständigen Kontaktperson des Ermordeten allerdings nicht der Fall. Dabei handelte es sich um den einzigen Sohn vom Nachbarhof. Karl, so hieß der arme Kerl, war mehr oder weniger geistig behindert, und setzte somit eine uralte westfälische Tradition fort, der zufolge der Älteste Pastor, der zweite Lehrer, der Dämlichste Arzt und irgendeiner der Spökenkieker werden musste. Da auch im katholischen Münsterland die Antibabypille mittlerweile ihre verheerende Wirkung entfaltet hatte, waren der Pastor, der Lehrer und sogar der Arzt ausgefallen, und nur Karl war zur Welt gekommen. Als geistig Behinderter kam Karl natürlich sofort in das Fadenkreuz der Untersuchungen; dennoch war in diesem Fall nicht einmal einem Gärtner etwas anzuhängen, an dem sogar eine Annette von Droste-Hülshoff ihr Vergnügen gehabt hätte.

      Ansonsten war sehr schnell klar, dass das Opfer so offensichtlich gar kein Bedürfnis nach sozialen Kontakten gehabt hatte, dass es bei den Menschen in einer ländlichen Gegend wie dieser aber sehr wohl bekannt war, dass sich dort ein steinreicher Unternehmer in ihrer Mitte niedergelassen hatte. Er wollte zwar niemanden kennen, aber natürlich wusste man, wer er war. Die Zahl möglicher Täter und Motive explodierte.

      Denn schließlich war dieser Mann nicht irgendwer.

      Konrad Schneider kannte man im Ruhrgebiet. In allen Städten dieser Region trug zumindest jede zweite Bäckerei seinen Namen.

      Dieser Mann war zunächst Arbeiter in einem Stahl produzierenden Betrieb in Duisburg gewesen. 1988 war dieser Betrieb geschlossen worden und Schneider war arbeitslos geworden. Damals war er 56 Jahre alt gewesen und somit in dem von der Gewerkschaft erarbeiteten Sozialplan nicht berücksichtigt worden. Mit 57 Jahren hätte er in die Frührente gehen können.

      Der Mann war aber nicht in Rente gegangen.

      Zum Arbeitsamt auch nicht.

      Mit der nicht unerheblichen Abfindung, die ihm auf Grund seiner mehr als 35 Jahre Arbeit in diesem Betrieb gezahlt worden waren, hatte er sich einen Kindheitstraum verwirklicht: Er hatte immer schon Bäcker werden wollen.

      Bei der Verwirklichung dieses Traumes war er sehr schnell an die Grenzen seiner Träume gekommen: In Deutschland gab es schließlich eine völlig überflüssige Handwerksordnung, und selbst wenn man nur kleine Brötchen backen wollte, brauchte man dafür einen Meisterbrief. Da er