erste Laden eröffnet werden konnte. Diesen Mann hatte Schneider finanziell über den Tisch gezogen, ein Verhalten, das er beim Aufbau seines Backimperiums ganz offensichtlich nicht zum letzten Mal gezeigt hatte. Sein Weg zum Millionär war gepflastert mit vielen Bankrotteuren, die Schneiders gnadenloses Geschäftsgebaren ruiniert hatte. Feinde, das war der Polizei sehr schnell klar, hatte dieser Mann mehr als genug gehabt, und so war es mehr als verständlich, dass sich die Untersuchungen schließlich vor allem auf das geschäftliche Umfeld des Opfers konzentrierten.
Von Erfolg waren diese Bemühungen allerdings allesamt nicht gekrönt. Und hatte der Mord zunächst auch überregional für Aufsehen gesorgt, so war das öffentliche Interesse daran auch schnell wieder verflogen.
Fast anderthalb Jahre nach dem Mord sorgte der Fall noch einmal für landesweites Aufsehen, wurde er doch in der Fernsehsendung „Aktenzeichen XY“ behandelt. Die Polizei war inzwischen davon überzeugt, dass der Mörder im geschäftlichen Umfeld des Opfers zu suchen war, und fragte deshalb nach dem Verbleib einer Person, die ebenfalls von dem Opfer um die Existenz gebracht worden und mittlerweile von der Bildfläche verschwunden war.
Zunächst war man bei der Mordkommission in Recklinghausen optimistisch, weil die Zahl der eingegangenen Hinweise außergewöhnlich hoch war. Aber schon bald wurde deutlich, dass keiner dieser Hinweise etwas brachte und schon gar nicht das war, was man eine heiße Spur nannte.
In den folgenden Jahren nahm nicht nur das Interesse der Öffentlichkeit rapide ab. Ein Beamter nach dem anderen wurde zur Bearbeitung anderer Fälle aus dem Untersuchungsteam abgezogen, und spätestens zu Beginn des Jahres 2003 drohte der Fall Schneider zu dem zu werden, was man einen cold case nannte: ein Fall, den man nicht lösen konnte und deshalb schon ad acta gelegt hatte.
Das große Anwesen war mittlerweile längst verkauft worden. Es hatte einen Preis erzielt, der die einzige Erbin, die Tochter des Ermordeten, wütend machte, lag dieser Preis doch nur geringfügig über dem, den der Vater vor sieben Jahren für einen ziemlich heruntergekommenen Bauernhof irgendwo in the middle of nowhere gezahlt hatte. Im gesamten Ruhrgebiet waren die Immobilienpreise im Keller: In allen Städten verzeichnete man hohe Abwanderungsquoten, weil man das Sterben der ursprünglichen Industrien Kohle und Stahl und den Aufbau neuer Strukturen viel zu lang hinausgezögert hatte.
Blieb noch ein kleines Problem: das weiße Pony.
Die Haushaltshilfe des Ermordeten erklärte sich auf Bitten der Tochter des Opfers bereit, eine Annonce in die Zeitung zu setzen. Der Tochter war es völlig gleichgültig, ob mit diesem Tier noch irgendein Gewinn zu erzielen war.
Der Haushaltshilfe nicht.
Zum Ende des Jahres 2000 gab es für lebende Ponys ganz offensichtlich keinen Markt; den höchsten Preis zahlte nämlich schließlich ein Schlachter.
Irgendjemand kam dem Schlachter aber zuvor und schnitt dem alleine auf weiter Flur grasenden Pony eines Nachts kurzerhand die Kehle durch. Am Morgen lag das Tier mit sauber durchtrenntem und ausgeblutetem Hals auf dem Rasen. Ein einsamer Spaziergänger hatte es gefunden.
Zunächst hatte sich dieses Ereignis aufgrund der nach kurzer Zeit bereits in der gesamten Umgebung kolportierten Berichte der herbeigeeilten Polizeibeamten wie eine Sensation angehört; bereits am nächsten Tag war es in der polizeilichen Routine herabgestuft worden auf das, was es rein juristisch war: Sachbeschädigung.
Im September 2000 hatte die Kripo von Essen viel Wichtigeres zu tun: Am Morgen des 3. September hatte eine allein erziehende Mutter aus dem Stadtteil Stoppenberg im Essener Norden bei der dortigen Polizei eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Ihre fünfjährige Tochter hatte morgens nicht in ihrem Kinderbett gelegen. Ihre eigenen Recherchen bei Verwandten und Bekannten hatten allesamt das gleiche Ergebnis gebracht: das Kind war verschwunden.
Rein statistisch werden in der Bundesrepublik jedes Jahr fast 40000 Kinder als vermisst gemeldet. Die meisten dieser Kinder tauchen Gottseidank schnell wieder auf; aber eben nicht alle: Fast 1000 Kinder gelten nach Angaben des Bundeskriminalamtes als dauervermisst.
Mit jedem Tag, der nach dem Verschwinden verstreicht, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit von zwei grauenhaften Szenarien: zum einen, dass das Kind nie mehr auftaucht, zum anderen, dass es Opfer einer Sexualstraftat geworden ist.
Prolog 2
17.3.2001
Die Chance, dass ein Mann irgendwo auf der Welt und irgendwann in seinem Leben einmal in einem Sportverein Fußball gespielt hat, muss bei über 50 Prozent liegen.
Die Chance, dass ein Mann schwul ist, liegt überall auf der Welt bei ungefähr 5 Prozent. Die Chance, dass ein schwuler Mann zu seinem Schwulsein auch steht, dürfte wesentlich geringer sein, hängt diese Sache doch ab von der Bildung und dem Grad an Zivilisation, über den die Gesellschaft verfügt, in der er lebt.
Die Chance, dass ein schwuler Fußballer zu seinem Schwulsein auch steht, dürfte in welcher Gesellschaft auch immer eine zu vernachlässigende Größe sein. Es ist eher zu befürchten, dass statistische Erhebungen in dieser Richtung die Grundlagen der Mathematik auf den Kopf stellen würden, da sich im Ergebnis die hier zu erzielenden Zahlen im Minusbereich bewegen werden: Ein schwuler Mann, der gerne Fußball spielt, tut gut daran, alles Erdenkliche zu veranstalten, um den Eindruck zu erwecken, er sei alles, aber auf gar keinen Fall schwul. Am besten sofort das Gegenteil davon, was auch immer das sein mag.
Rolf Werners war schwul, und er war Fußballer aus Leidenschaft. Seit seinem sechsten Lebensjahr war er Mitglied bei Germania Hassel, einem Sportverein im Gelsenkirchener Norden. Mittlerweile war er 33 Jahre alt, ein Alter, in dem man in aller Regel nur noch bei den alten Herren mitspielt und außerdem oft gefragt wird, warum man eigentlich noch immer nicht verheiratet ist.
Manchmal glaubte er selber, man könne nur erahnen, welch eine Karriere als Fußballer er hätte machen können, wenn er nicht den überwiegenden Teil seiner Energie damit verschwendet hätte, sein Schwulsein zu verbergen. Als Fußballer hatte er sich zwar keinen großen Namen gemacht; dafür aber als Erzähler der besten Schwulenwitze beim Stammtisch nach den Spielen.
Wann sein Interesse an Männern begonnen hatte, das hätte er nicht mehr sagen können; dass es massiv da war, davon zeugten vor allem seine Aktivitäten im Internet. Er mischte überall mit, wo es darum ging, unter möglichst phantasievollen Namen und geschützt durch ständig wechselnde Passwörter die eigene Geilheit zumindest in einer virtuellen Welt auszuleben. Aber selbst in dieser Scheinwelt konnte er die Angst nicht wirklich loswerden. Als sein Computer einmal den Geist aufgegeben hatte, da war in ihm sofort der fürchterliche Verdacht aufgetaucht, ein Bekannter aus dem Fußballverein habe sich auf irgendeine Weise in seinen Computer gemogelt und wisse nun, dass sich sein Interesse fast ausnahmslos beschränkte auf Materialien, die sich unter gay sex, leather and spurs, submission oder bareback riding subsumieren ließen. Auf Deutsch hätte er sich nicht einmal selber eingestehen können, dass er auf so Sachen wie schwulen Sex, Leder und Sporen, Unterwerfung, ungeschützten Sex und Reitvorführungen von möglichst strammen Kerlen auf ungesattelten Pferden stand; auf Englisch klang das alles einfach viel selbstverständlicher. Und nicht so provinziell. Angeblich konnten ja auch die vielen Schlagersternchen und sonstige Verantwortliche der Unterhaltungsmusik ihre Gefühle auf der Bühne viel besser in der englischen Sprache ausdrücken: I love you ging ohne weiteres; ich liebe dich klang angeblich doof.
Neben der Angst gab es noch etwas, das mit zunehmendem Alter nicht etwa geringer, sondern immer stärker wurde: Den Wunsch, all diese Bilder und Wörter in seinem Kopf sollten endlich einmal Realität werden. Die bevorzugte Rolle des unbeteiligten Zuschauers hatte zweifelsohne ihre Vorteile, was die Handhabung der Angst anbetraf; was die Befriedigung der eigenen Geilheit anbelangte, reichte sie jeden Tag weniger aus.
Vor zwei Monaten schien die virtuelle Welt tatsächlich in seine Realität gekommen zu sein. Der Kerl hieß Dirk Berger, war von seiner Firma aus Norddeutschland ins Ruhrgebiet versetzt worden und hatte sich sofort bei Germania angemeldet. Und vom ersten Augenblick an schien kein Bild, das etwa unter den Stichworten jeans butt, bulging jeans oder horny crotch schon tausendfach auf dem Monitor seines Computers erschienen war, mit diesem Dirk Berger konkurrieren zu