Thomas Hölscher

Der Pferdestricker


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immer noch herrschen.

      Jetzt lass sie mal sehen, wie sehr du dich schon freust!

      Und wieder war da der Hinweis gewesen auf einen ganz leichten osteuropäischen Akzent. Das e in sehen und in sehr war viel zu kurz gewesen.

      Der ältere Mann stand aus ihrer Perspektive nun direkt vor dem kleinen Pferd, so dass sein massiger Körper es völlig verdeckte und sie es gar nicht sehen konnte. Zudem blickte sie nun fast in die Sonne, die über der rechten Schulter des Mannes stand und sie blendete. Den Strick, mit dem er zuvor das Tier geführt hatte, gab er in die linke Hand und mit der rechten fummelte er ganz offensichtlich an der Vorderseite seiner ledernen Hose herum. Nach einer weiteren Anweisung des jungen Mannes wippte der ältere plötzlich auf den Zehenspitzen, und dann kam ihr die Szene mit einem Schlag peinlich bekannt vor: Aus ihr bis heute unerfindlichen Gründen war sie in der Schule vor rund zwei Jahren einmal versehentlich in die Herrentoilette gelaufen und hatte dort den stellvertretenden Schulleiter, Studiendirektor Malmes, am Pissoir stehen sehen. Er hatte ebenso auf den Zehenspitzen gewippt wie der grobschlächtige Kerl im Bajuwarenoutfit und war kurz darauf an Prostatakrebs gestorben. Viele hatten das angeblich kommen sehen. Sie jedenfalls nicht. Ihr war dieser Vorfall nur unendlich peinlich gewesen.

      So ist es schön, sagte die junge Stimme schließlich, und da klang das ö viel zu sehr nach einem e.

      Jetzt zeig ihr, was du willst! Nun war es eindeutig: das war kein ai, sondern ein ei gewesen in zeigen.

      Ein paar Mal noch wippte der ältere Mann auf den Zehenspitzen, dann zog er plötzlich seine Lederhose nach oben, als wolle er deutlich machen, dass sein großer Hintern sie auch ausfüllte. Nu mach schon! Muss ich hier ewig warten? Nun gab es keinen Hinweis mehr auf irgendeinen ausländischen Akzent.

      Die Stimme des jungen Mannes hatte gelangweilt und doch gereizt geklungen, so als mache der ältere alles falsch oder tue einfach nicht, was ganz offensichtlich von ihm erwartet wurde. Noch immer unter dem Blick der auf ihn gerichteten Kamera ließ der ältere Mann den Strick fallen, mit dem er zuvor das Pferd gehalten hatte, und lief zu den Sachen, die die beiden vor ein paar Minuten achtlos auf den Boden geworfen hatten. Er hob irgendeinen großen Gegenstand hoch und lief damit zurück zu dem kleinen Tier. Erst als er diesen Gegenstand auf den Rücken des Tieres legte, konnte sie erkennen, dass es ein Sattel war, und augenblicklich wollte sie nicht glauben, was sie sah: Dieser schwere große Kerl wollte doch wohl nicht im Ernst auf das kleine Tier steigen!

      Aber genau das tat er. Obwohl er mit einem Satz auf das Tier hätte springen können, stellte er fast theatralisch zunächst den linken Fuß in den weit neben dem Tierkörper herabhängenden Steigbügel des viel zu großen Sattels, stemmte sein Gewicht hinein und ließ sich dann schwer auf den Rücken des Tieres fallen. Noch immer hatte der junge Mann nicht für eine einzige Sekunde seine Filmaufnahmen unterbrochen.

      Sie war entsetzt über die Rohheit der beiden Kerle. Es fiel ihr schwer, nun nicht aus der Sicherheit ihres Verstecks hinauszutreten und die beiden Männer voller Empörung zur Rede zu stellen. Aber natürlich wagte sie das nicht.

      Wieder trieb der ältere Mann das Tier in einem Kreis um den jungen Mann, der ganz offensichtlich nicht eine Sekunde von dem Spektakel auf seinem Film versäumen wollte, was sie in eine hilflose Wut versetzte. Unter ständigen Anweisungen des jungen trieb der ältere Mann das kleine Tier an, bis es schließlich unter seinem Gewicht in einen mühsamen Trab verfiel, aus dem es dann mehrfach durch ein brutales Reißen an den Zügeln gestoppt wurde, um sofort wieder durch ebenso brutale Tritte in die Flanken nach vorne getrieben zu werden. Schließlich verließ der junge Mann mit der Kamera den Platz in der Mitte der Mulde, um mit der Kamera aus verschiedensten Positionen das mitzubekommen, was sie mit immer mehr Abscheu erfüllte. Dabei war er fast ununterbrochen damit beschäftigt, den anderen Kerl sich bewegen zu lassen wie eine Marionette: Mehrfach musste dieser den Kopf des Tieres zwischen seine Oberschenkel ziehen, sich in den Steigbügeln aufrichten und schwer auf den schmalen Rücken des Tieres zurückfallen, die Füße aus den Steigbügeln nehmen, so dass die derben Wanderschuhe dicht über dem sandigen Boden baumelten und der große Hintern des Kerls das Tier zu erdrücken schien. Deutlich war nun auch das angestrengte Schnauben des kleinen Tieres zu hören.

      Ängstlich sah sie sich um. Und dann konnte sie die Schamlosigkeit dieser beiden Kerle nicht mehr ertragen: Es mussten doch noch andere Menschen hier irgendwo in der Umgebung sein! Wie konnten diese beiden Kerle es wagen, am helllichten Tag etwas Derartiges zu veranstalten? Und wozu das alles? Was sollte das eigentlich bedeuten? Sie sah sich hilflos um, noch immer schien die Sonne von einem wolkenlosen Himmel, und weit und breit war niemand zu sehen, der es ihr ermöglicht hätte, aus ihrem beschämenden Versteck herauszutreten, um dem Spuk ein Ende zu setzen. Und so wagte sie schließlich nicht einmal mehr, sich zu rühren; denn die Ungeheuerlichkeit dessen, was sie sah, ließ sie gleichzeitig erahnen, dass die beiden Männer einiges tun würden, um ihr als zufälliger Beobachterin ihres Treibens keine Chance zu lassen, anderen das mitzuteilen, was sie gesehen hatte. Und obschon es ihr selber vorkam wie das alberne Verhalten eines kleinen Kindes, das sich der Hoffnung hingab, es geschehe nicht, was doch geschah, wenn man einfach nur die Augen geschlossen hielt, schloss sie ihre Augen.

      Und irgendwann hatte sich etwas geändert. Hatte es bisher nur die ungeduldigen Anordnungen des jungen Mannes gegeben, die der ältere anscheinend ohne zu murren umsetzte, so gab es nun Widerstand von Seiten des älteren gegen die immer unzufriedeneren Bemerkungen des jüngeren. Das mache ich nicht, glaubte sie schließlich zu hören, du bist ja völlig verrückt!

      Als sie die Augen öffnete, stand der ältere Mann neben dem Tier und redete offensichtlich aufgebracht auf den jüngeren ein; der jüngere hatte zum ersten Mal die Kamera nicht mehr vor seinem Gesicht, sondern hielt sie in der rechten Hand neben seinem Körper. Und dann war sie erstaunt: Nicht einmal dem älteren Kerl in seiner bajuwarischen Verkleidung hatte sie ein dermaßen rohes Verhalten zugetraut; aber wie konnte ein derart sympathischer junger Mann, dessen offenes und freundliches Gesicht sie nun zum ersten Mal bewusst wahrnahm, sich für eine solch gemeine Tierschinderei hergeben?

      Sie sollte nicht viel Zeit haben, sich derartigen Gedankengängen hinzugeben. Sie sah, wie der ältere Mann den Sattel vom Rücken des Tieres nahm und offensichtlich verärgert in den Sand warf, während der junge Mann seine Kleidung auszog und schließlich völlig nackt die Zügel des Tieres in die Hand nahm.

      Noch Minuten vor ihrem gewaltsamen Tod, als sie um viertel vor elf schon seit fast eineinhalb Stunden wieder auf dem Balkon ihres 4-Sterne-Hotels saß und auf den erleuchteten Swimmingpool im um diese Zeit menschenleeren Innenhof blickte, wusste sie nicht, was zu tun war, glaubte nur, das, was hätte getan werden müssen, ohnehin schon lange versäumt zu haben. Sie war nicht zur Polizei gegangen.

      Es mussten Sprachprobleme gewesen sein. Und so war es auch nun noch: Nicht dass sie sich eine Anzeige bei der Polizei in spanischer, englischer oder französischer Sprache nicht zugetraut hätte; aber in keiner Sprache der Welt hätte sie sagen können, was sie gesehen hatte: Dass ein junger sympathisch aussehender Mann splitternackt auf ein kleines Pferd gestiegen war und es bestialisch unter sich hatte krepieren lassen. Und je sadistischer er zu Werke gegangen war, um so deutlicher war seinem nackten Körper anzusehen gewesen, welchen Spaß ihm das gemacht hatte. Keine Sekunde lang hatte sie ihre Blicke von dem nackten Körper abwenden können, hatte schließlich geglaubt, ihr Pulsschlag müsse die Gefäße in ihrem Hals und ihrem Kopf zerreißen, als das Tier zusammengebrochen und der junge Mann noch minutenlang mit weit nach links und rechts gespreizten Beinen auf dessen Rücken sitzen geblieben war. Vor allem das, was sie von vorn zwischen den Oberschenkeln des Mannes gesehen hatte, hätte sie in keiner Sprache der Welt auf den Punkt bringen können.

      Es war genau 22 Uhr 55, als sie beschloss, sich von ihrem Balkon im vierten Stock zurückzuziehen, weil die Hitze des Tages nun endgültig verflogen und von der Bucht von Alcudia ein unangenehm kühler Nordwind aufgekommen war. Sie ging in ihr Zimmer, wollte das Licht einschalten, ließ es dann aus irgendwelchen Gründen aber doch. Als sie wieder auf den Balkon ging, um eine Tasse zu holen, aus der sie zuvor einen Pfefferminztee getrunken hatte, sprang – von ihr unbemerkt – der Zeiger des Reiseweckers auf ihrem Nachtschränkchen auf 22 Uhr 56. Auch den Mann auf dem Balkon bemerkte sie nicht, der sie sofort mit letzter Entschlossenheit ergriff und über die