Thomas Hölscher

Der Pferdestricker


Скачать книгу

suspekt vorgekommen und sie hatten sich davor gefürchtet, dort auch nur anzuhalten. Der Rastplatz Helderloh hatte dann genau ihren Vorstellungen entsprochen: Es war dort keine Menschenseele gewesen und wegen des erleuchteten Toilettengebäudes hatten sie ihre Angst zumindest zurückdrängen können. Außerdem, so gaben die beiden Frauen zu Protokoll, sei es bereits kurz vor halb zwölf gewesen, als sie dort ankamen, und sie seien ganz einfach am Ende ihrer Kräfte gewesen.

      Es habe zu dieser Zeit, jedenfalls soweit sie dies hätten überblicken können, kein einziges Auto auf dem Gelände des Parkplatzes gestanden. Sie selber hätten ihren Wagen am Anfang des Platzes von der Straße gefahren und halb hinter einem Gebüsch versteckt, weil sie neben ihrer wohl verständlichen Angst auch die Befürchtung gehabt hätten, die deutsche Polizei könne sie entdecken und sonst was mit ihnen anstellen. Obschon auch in der folgenden halben Stunde nicht ein einziger Wagen auf den Platz gefahren sei, hätten sie vor lauter Angst kein Auge zutun können, dann sogar in Erwägung gezogen, doch noch weiterzufahren, um in irgendeiner Ortschaft in der Umgebung zu übernachten.

      Und dann sei ein Pkw auf den Platz gefahren, die beiden Frauen wussten sogar bestimmt, dass der dunkelmetallicblaue Pkw ein ziemlich neuer VW-Golf gewesen war. Der sei fast bis zum anderen Ende des Rastplatzes gefahren und habe dort angehalten. Nein, das Kennzeichen hätten sie nicht erkennen können, weil man es gar nicht hatte erkennen können. Es sei nämlich ganz offensichtlich mit irgendwelchen Klebestreifen unkenntlich gemacht worden. Die vernehmenden Beamten fragten mehrfach nach, aber die beiden Frauen blieben dabei: Es habe sich um ein weißes, also wahrscheinlich deutsches, Kennzeichen gehandelt, das aber durch schwarze Querstreifen nicht zu lesen gewesen sei.

      Dann sei plötzlich wie aus dem Nichts ein Mann aus dem Gebüsch gekommen und sei auf das parkende Auto zugegangen. Sie hatten den Mann nicht wirklich erkennen können, aber dieser Mann sei das spätere Opfer gewesen. Aus dem Golf sei ein Mann ausgestiegen, wesentlich größer als das Opfer, und die beiden hätten sich kurz unterhalten.

      Die Beschreibung dessen, was dann passiert war, fiel den beiden polnischen Frauen nicht leicht. Es sei zwischen den beiden Männern keine hundert Meter vor ihnen dann ganz offensichtlich zu sexuellen Handlungen gekommen. Es bedurfte viel Einfühlungsvermögens einer Beamtin und der Dolmetscherin, um die beiden Frauen ihre Beobachtungen und Vermutungen schließlich auf den Punkt bringen zu lassen: Ganz offensichtlich habe das spätere Opfer den Mann in dem Golf oral befriedigt. Als das Opfer dem anderen Mann etwas überreicht habe, sei es wenig später zu einem heftigen Streit zwischen den beiden Männern gekommen. Nein, sie hätten nicht verstehen können, worum es da gegangen sei; der größere Mann habe das Opfer ein paar Mal heftig geschlagen, das Opfer sei sogar zu Boden gestürzt; dann habe das Opfer ganz offensichtlich in Panik mehrfach den Namen Jonas gerufen, woraufhin der Mann sich in den Golf gesetzt habe und geradezu panikartig weggefahren sei.

      Und zum zweiten Mal sei wie aus dem Nichts plötzlich ein dritter Mann aus dem Gebüsch am Ende des Parkplatzes gekommen, sei zu dem am Boden liegenden Mann gegangen, habe den beim Schopf gepackt und ihm dann kurzerhand mit einem einzigen Schnitt die Kehle durchgeschnitten. Daraufhin sei er ohne jede Eile zurückgegangen, in dem Gebüsch verschwunden, aus dem nur wenig später ein Pkw ohne Licht und mit ziemlich hoher Geschwindigkeit auf die Fahrbahn geschossen und weggefahren sei.

      Die vernehmenden Beamten wollten ihren Ohren kaum trauen, und doch belegten die Ergebnisse der Spurensicherung und der kriminaltechnischen Untersuchungen exakt das, was die beiden Frauen ausgesagt hatten. Das Opfer hatte am rechten Straßenrand nahe der Ausfahrt der hinteren Fahrspur gelegen. Sein Körper hatte Verletzungen von der Rauferei mit dem erheblich größeren und stärkeren Mann aufgewiesen, unbedeutende Schürfwunden an beiden Händen und am Knie und Blutergüsse im Gesicht, Folgen der Einwirkung von stumpfer Gewalt, wahrscheinlich von Schlägen und Fausthieben; in seinem Mund war zudem Sperma nachgewiesen worden, so dass zumindest der genetische Fingerabdruck des größeren Mannes nur wenige Tage später bekannt war. Die Kehle des Opfers war mit einem einzigen, von links nach rechts geführten Schnitt durchtrennt, das Opfer regelrecht enthauptet worden, da dieser Schnitt mit einer unglaublichen Gewalt ausgeführt worden sein musste: bis auf die Halswirbelsäule war jegliches Gewebe und waren sämtliche Sehnen und Blutgefäße durchtrennt worden. Das Opfer musste innerhalb kürzester Zeit völlig ausgeblutet sein.

      Auch den Standplatz des Täterfahrzeugs hatte die Spurensicherung ausgiebig untersucht, aber bis auf das Reifenprofil, das sich ziemlich deutlich auf dem feuchten Waldboden abgezeichnet hatte, hatte man nichts gefunden. Über Farbe, Modell oder Aussehen des Täterfahrzeugs hatten die beiden polnischen Frauen keinerlei Auskünfte geben können; es sei zu dunkel gewesen und alles sei viel zu schnell passiert, und natürlich hatten sie kurz nach dem brutalen Mord schon unter Schock gestanden.

      Trotz der wenigen Informationen über den Pkw war zu diesem Punkt aber bereits nach wenigen Tagen Klarheit gegeben: der Pkw, mit dem der Täter zum Tatort gekommen und von dort wieder verschwunden war, war noch am Abend der Tat in Schermbeck, einem Ort in der Nähe von Wesel, gestohlen und bereits drei Tage später in einem Waldstück in der Nähe von Bocholt gefunden und eindeutig als Täterfahrzeug identifiziert worden. Seitdem wurde es von der Spurensicherung auf den Kopf gestellt.

      Das Gleiche galt für das Paket, das das Opfer dem Mann aus dem Golf übergeben und das der schließlich wütend auf die Straße geworfen und bei seinem überstürzten Verschwinden achtlos zurückgelassen hatte. Und wenn in diesem Fall selbst hartgesottenen Kripobeamten nicht nur die Art der Tötung des Opfers doch ziemlich nahegegangen war, so sorgte dieses Beweisstück zumindest für Heiterkeit: Die rund zehn mal fünfzig Zentimeter große Verpackung enthielt keineswegs wie zunächst vermutet Rauschgift oder sonst irgendeinen strafrechtlich relevanten Stoff, sondern einen monströsen Dildo. Die dazu gehörige Gebrauchsanweisung musste aus dem Paket gefallen sein, als der riesige Kerl die Verpackung aufgerissen hatte: Schieb dir das Ding in deinen dämlichen Arsch, du Weichei, stand in ungelenken Großbuchstaben auf einem kleinen Zettel.

      Es gab Fingerabdrücke von nur zwei Personen auf dem seltsamen Präsent mit der noch seltsameren Gebrauchsanweisung: Die des Opfers konnten eindeutig identifiziert werden; aufgrund der Aussage der beiden polnischen Frauen konnten die anderen nur von dem großen Kerl mit dem metallicblauen Golf stammen.

      Es kann also nicht überraschen, dass die Mordkommission in Wesel eine ganze Zeit noch von einem völlig aus dem Ruder gelaufenen Eifersuchtsdrama unter Homosexuellen ausging. Dies um so mehr, als der Rastplatz Helderloh als Schwulentreff bekannt war.

      Nicht unbedingt die erste Adresse, aber immerhin.

      Prolog 5

      8.7.2006

      Das Gebäude der Staatsanwaltschaft Essen liegt an der Zweigertstraße im Stadtteil Rüttenscheid südwestlich des Stadtzentrums, von dort über die B224 bequem zu erreichen. Über eine Straße, die vielleicht wie keine andere durch völlig verschiedene städtische Regionen verläuft, die in ihrer Gesamtheit die Vielfalt des Ruhrgebiets repräsentieren. Im Essener Norden quält sie sich, obschon vierspurig ausgebaut, durch graue Häuserreihen, Industriegebiete und Brachgelände, um sich dann im wenig ansprechenden Betonmeer der Innenstadt zu verlieren. Erst nachdem sie die wichtigste Ost-West-Trasse der Eisenbahn im Ruhrgebiet neben dem Hauptbahnhof unterquert hat, ändert sich das Bild, verläuft sie durch dicht bebaute, ansehnliche Stadtteile in Richtung Baldeneysee, einer der bevorzugtesten Adressen im gesamten Ruhrgebiet.

      Es war Samstag, der 8. Juli 2006, als Christiane Rentmeister das Gebäude der Staatsanwaltschaft um kurz nach 11 Uhr verließ. Sie war Staatsanwältin für Wirtschaftsangelegenheiten, ein Beruf, der nur wenig oder gar nicht zu ihrem Alter und ihrem fast jugendlichen Aussehen passen wollte. Sie war gerade dreißig Jahre alt, hatte Jura studiert, ihr Examen summa cum laude bestanden und überhaupt nie etwas anderes getan als für das zu arbeiten, was sie erreichen wollte. Auch heute hatte sie aus ihrem Büro in der Zweigertstraße in Essen ein paar Schreiben mitgenommen, die sie am Wochenende unbedingt noch bearbeiten wollte und am Tag zuvor vergessen hatte. Außerdem hatte sie ohnehin einen Termin in unmittelbarer Nachbarschaft ihres Arbeitsplatzes, und für einen Augenblick zögerte sie nun, weil sie nicht wusste, ob sie den kurzen Weg zum Rüttenscheider Stern mit dem Wagen oder zu Fuß zurücklegen