Thomas Hölscher

Der Pferdestricker


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jemand, mit dem es sich um die ganze Welt zu fliegen gelohnt hätte. Habe ihn in Düsseldorf aus den Augen verloren.

      Nein, so war es ja gar nicht. Ich bin ihm sogar noch mit der S-Bahn in Richtung Köln gefolgt und habe ihn dort erst aus den Augen verloren. Ich weiß gar nicht einmal, wo er ausgestiegen ist; nur dass ich plötzlich in Köln saß und nicht mehr wusste, wie ich nach Hause kommen sollte, das ist leider die Realität. Eigentlich so wie immer.

      22.3.1999

      Seit dem Rückflug aus Prag habe ich eine unglaubliche Sehnsucht. (Warum hört sich die Wahrheit immer so banal an?) Ich möchte eine Geschichte schreiben, in der jemand nach Prag fährt, dort bei einem Konzert in der Franziskus-Kirche jemanden trifft, in den er sich verliebt. Er verliert ihn aber aus den Augen und sucht ihn überall. Natürlich findet er ihn nicht, weil man solch einen Menschen gar nicht finden kann und dies eine Geschichte sein soll nicht über eine alberne Liebesbeziehung, sondern über die Sehnsucht. Oder man müsste gleich eine Geschichte schreiben, in der von vornherein klar ist, dass alles nur eine Konstruktion des Ich-Erzählers ist; er macht sich auf die Suche und muss sich Geschichten ausdenken, um die Versatzstücke aus der Realität zurecht zu biegen, damit sie zu seiner Sehnsucht passen. Nicht unbedingt zu ihrer Befriedigung; denn die gibt es wahrscheinlich für die Sehnsucht ohnehin nicht. (Warum ist das schon wieder so banal?) Und die ganze Sache spielt in Prag.

      Wo auch sonst? Sie kann nur in Prag spielen.

      26.3.1999

      Langsam aber sicher bekommt meine Geschichte Konturen. Der Ich-Erzähler fährt nach Prag, und bei dem Mozart-Konzert am letzten Montag in der Franziskus-Kirche trifft er den Mann aus dem Flugzeug. Er verliert ihn aus den Augen und sucht ihn überall.

      Man müsste das verfilmen! Die Menschen sind schließlich Augen-Tiere, alles andere ist zu abstrakt. Obschon es ja oft passiert, dass die Verfilmung eines Buches einem im Gegensatz zum Buch gar nicht gefällt, weil man sich alles ganz anders vorgestellt hat. Aus diesem Grund dürften in meinem Film die Rollen nicht von dem üblichen albernen und exaltierten Schauspielerpack, sondern zum Beispiel von dem Mann aus dem Flugzeug (oder besser all den Männern aus all den Flugzeugen) gespielt werden. Die Realität überzeugt alle, und die eigentliche Kunst der Regie besteht nur darin, für die richtige Zusammensetzung der Versatzstücke aus der Realität zu sorgen. Und immer wenn er oder die Erinnerungen an ihn oder die Geschichten über ihn auftauchen, kommt als Hintergrundmusik nur das Adagio aus Mozarts Klavierkonzert Nr. 21 in Frage. Ich laufe den ganzen Tag mit dem Kopfhörer durch die Wohnung und höre Mozarts Klavierkonzert. Ich stelle mir dabei den Mann aus dem Flugzeug vor.

      28.3.1999

      Habe heute noch eine Melodie als mögliche Filmmusik gefunden: Mendelssohn-Bartholdys Lied ohne Worte. Ich denke immer noch an den Mann aus dem Flugzeug, oder besser gesagt an das, was davon noch in meinem Kopf übergeblieben ist. Vielleicht nicht mal mehr ein Bild, sondern nur noch ein Bild von einem Bild. So ist übrigens auch das Schreiben: Nur ein Bild von einem Bild, und darum hat es auch nicht diesen Impact (gibt es dafür eigentlich kein deutsches Wort?) wie die Darstellung der Realität. Nur einen Vorteil hat das Schreiben: Man kann sich eine Rolle aussuchen und doch dabei im Hintergrund bleiben.

      Ich möchte gerne der Klavierspieler aus dem Konzert in der Franziskus-Kirche sein. Auch wenn hunderttausend Menschen bei dem Konzert zugegen wären, ich würde nur für den Mann aus dem Flugzeug spielen. Nur Klavier spielen und sonst nichts. Das Lied ohne Worte ist dann allerdings keines mehr. Es ist das großartigste aller Liebeslieder.

      Aber was soll es: Ich kann ja noch nicht einmal Klavier spielen.

      4.9.1999

      War heute zum ersten Mal in meinem Leben mit Lars im Burgtor in Dortmund. Habe dort Klaus kennen gelernt. Er hat mich nicht interessiert, ich ihn aber schon. Das habe ich sofort gemerkt. Es ist bis jetzt nichts passiert, aber es wird sicher etwas passieren. Klaus ist nämlich sehr submissive (mir fällt einfach das deutsche Wort nicht ein!), und das kann mir eventuell noch gefallen.

      Manchmal ist alles nur noch verkehrte Welt! Ich bin gerade erst aus Dortmund zurückgekommen. Ich habe da einen Mann kennen gelernt, der mich bis auf einen kleinen und wahrscheinlich verzichtbaren sexuellen Kick überhaupt nicht interessiert. Und nun höre ich gerade wieder Mendelssohns Lied ohne Worte; ich habe den CD-Spieler auf unendliche Wiederholung eingestellt. Ich möchte jemandem, den ich wirklich liebe, dieses Lied auf dem Klavier vorspielen, und er soll selber entscheiden, ob es ein Frühlings-, ein Liebes- oder sonst ein Lied ist.

      Aber stattdessen schleppt man in einer Schwulenkneipe einen x-beliebigen Hanswurst ab, der einen nicht im geringsten interessiert.

      Das ist alles so absurd.

      So ohne jede Würde.

      9.9.1999

      Etwas anderes ist schon passiert. Ich weiß nicht, ob es passiert ist, weil ich es darauf angelegt habe oder weil es einfach passieren musste; aber mit Klaus kann natürlich gar nichts anderes passieren! Wir waren in seiner Wohnung, und nach kurzer Zeit hat er zwischen meinen Oberschenkeln gesessen und meine Jeans geöffnet. Ich kann den Kerl nicht anfassen, aber wenn er vor mir hockt und ich ihm mein Dings in den Mund schiebe, werde ich geil wie von sonst gar nichts. Es ist nicht nur das angenehme Gefühl am Schwanz; es ist die gesamte Situation, wenn er vor mir auf dem Boden hockt, was mich geil macht. Ich habe ja gesagt, Klaus ist ziemlich unterwürfig, und somit musste es einfach passieren. (PS: Eigentlich stört mich diese verdammte, ordinäre Sprache. Warum können wir über Sexualität immer nur in klinischen oder schweinischen Begriffen reden? Diese Sprache bringt nicht das zum Ausdruck, was ich meine und worum es geht. Das gleiche gilt für die schwule Subkultur insgesamt. Lars meint, es sei gut, dass ich endlich zu meinem coming-out gekommen sei. Ich weiß wirklich nicht, was er damit meint; denn in dieser schwulen Karnevalsumgebung habe ich nichts verloren und suche deshalb dort auch nichts.)

      15.9.1999

      Klaus interessiert mich immer weniger, nur sein Mund. Ich habe diesen Mann wirklich auf seinen Mund reduziert. Es macht mir mittlerweile sogar Spaß, mir ständig neue Hosen zu kaufen, die ihn noch mehr anmachen sollen. Wir haben bereits unsere Rituale entwickelt: Ich stelle mich breitbeinig ins Zimmer und er kniet bittend und bettelnd vor mir, oder ich sitze möglichst unbeteiligt aussehend mit weit gespreizten Beinen auf der Couch. Gestern haben wir solch ein Ritual in Klaus’ Schlafzimmer veranstaltet und ich konnte mich aus allen Perspektiven in dem großen Spiegel des Kleiderschranks beobachten. (Diese Bilder sind perfekt und ich werde sie noch fotografieren; was stört, ist das Drumherum: dass wir uns in dem unaufgeräumten Schlafzimmer einer kleinen, popeligen und durch und durch spießigen Mietswohnung irgendwo im Dortmunder Norden befinden und so genau wissen, was Gelsenkirchener Barock bedeutet. Das ist so würdelos.)

      Vielleicht bekommt es umso mehr Würde, je mehr ich ihm seine nehme. Als nächstes möchte ich nun unbedingt, dass andere sehen, wie ich ihn behandele. Es würde mich unglaublich geil machen. Warum interessiert er mich kein bisschen? Nicht nur das: Ich verachte ihn, und gerade das macht mich geil. Die Tatsache, dass ich ihm seine Würde genommen habe. (Mein Gott! Ist das wirklich so? Das macht mich schon ein wenig nachdenklich.)

      Geht es anderen Schwulen wohl auch so? Die Abende im Burgtor oder anderen Kneipen sind mir jedenfalls schon zuwider. Da sitzen immer die gleichen Trinen und warten alle auf den Märchenprinzen. Aber der kommt nicht. Und wenn er denn käme, wären die meisten ohnehin schon zu besoffen oder sonstwie zu abgefahren, um ihn überhaupt zu erkennen. (Von Märchen haben diese Homoletten doch so offensichtlich keine Idee.)

      20.9.1999

      Gerade über das Wort schwul in meinem gestrigen Eintrag nachgedacht. Was heißt das eigentlich? Ich weiß es jedenfalls nicht. Für jemanden, der, wie Lars zumindest meint, gerade sein coming-out hatte, bin ich anscheinend ziemlich unbedarft. Ich selber glaube das aber nicht. Ich habe ganz einfach eine unglaubliche Sehnsucht. Und bevor ich nicht gelernt habe, die auszuleben, kann von irgendeinem „coming-out“ gar nicht die Rede sein. Und wie das dann zu nennen ist, das ist doch völlig gleichgültig.

      26.9.1999

      Bin gerade erst von einer Fete bei Lars zurückgekommen. Ich habe es geschafft, Klaus vor anderen mein Ding in den Mund zu schieben. Es