Thomas Hölscher

Der Pferdestricker


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entschloss sie sich letztlich, den Weg zu Fuß zurückzulegen. Sie würde am Ort ihrer Verabredung um diese Zeit auch an einem Samstag ohnehin keinen Parkplatz finden.

      Sie atmete erleichtert auf, als sie das Gebäude, in dem die Praxis der Frauenärztin untergebracht war, endlich erreicht hatte und sie den kühlen Flur betrat. Du sollst dich nicht mehr überanstrengen, hatte auch Richard ihr gesagt und ihr sogar verboten, an diesem Samstag überhaupt alleine mit dem Wagen in die Stadt zu fahren. Er werde sie selbstverständlich in die Praxis der Gynäkologin, einer alten Schulfreundin von ihr, fahren. Du weißt, dass in den letzten Wochen Dinge passiert sind, wegen derer man eigentlich gar keine Frau mehr alleine aus dem Haus lassen sollte; und du weißt auch, dass wir beide alles andere als unbeteiligt in diesem Fall sind. Aber das hatte sie nicht gewollt. Wie ein kleines trotziges Kind hatte sie auf gar keinen Fall gewollt, dass er sie an diesem Samstagmorgen in die Stadt brachte.

      Dass sie schwanger war, das hatte sie vor etwas mehr als drei Wochen zum ersten Mal erfahren, und es hatte sie vor Freude fast umgehauen. Sie hatte es von Anfang ihrer Beziehung zu Richard an darauf angelegt, schwanger zu werden, und nun hatte es endlich funktioniert.

      Sie dachte an das Wort Beziehung. Wie blöde und nichtssagend dieses Wort doch war! Und trotzdem musste man schließlich irgendein Wort finden für das, was seit fast genau zwei Jahren zwischen Richard und ihr vor sich ging. Eigentlich brauchte man ein Wort ohnehin nur, um anderen irgendetwas zu erklären; was mit ihr los war, das wusste sie selber nur zu gut. Sie war in diesen Richard Börner von der ersten Sekunde ihres Zusammentreffens an geradezu hilflos verknallt gewesen, und wenn man davon ausging, dass sich ein solches Verknalltsein in jeder Beziehung recht schnell legt, dann war sie eine totale Ausnahme: Es wurde immer noch stärker. Mit jedem Tag.

      Dabei hatte Richard ihr von der ersten Sekunde an gesagt, dass er schwul sei. Dass er zumindest auch schwul sei. Und dass hatte sie damals in keiner Weise gestört. Ganz im Gegenteil. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte ein Mann ihr überhaupt etwas bedeutet, hatte sie den unbedingt für sich gewinnen, mit dem Sex haben wollen. Und das war ihr mit Börner recht schnell gelungen.

      Ein paar Bekannte hatten alles das nicht begreifen können, hatten sich mehr oder weniger von ihr abgewandt oder schlimmstenfalls eine Art psychotherapeutische Behandlung für Anfänger mit ihr begonnen: Wenn sie einen Partner auswähle, der vom Alter ihr Vater sein konnte, dann müsse sie wohl ein negatives Vatererlebnis gehabt haben und suche sie nun wohl einen Vaterersatz, wenn sie sich einen erfolgreichen Rechtsanwalt an Land zog, dann brauche sie wohl wie im Beruf einen ebenbürtigen Streitpartner, und wenn sie mit einem Schwulen zusammen sei, dann habe sie nur Angst davor, dass ihr eine andere Frau den Mann wegnehmen könne. Und so weiter, und so weiter.

      Irgendwann hatte sie die Kontakte zu Leuten mit einem derartigen Mitteilungsbedürfnis pseudo-intellektueller Botschaften einfach abgebrochen, weil sie diesen ganzen Schwachsinn nicht mehr hatte ertragen können. Es war schließlich ein Faktum, dass sie diesen Mann über alles liebte, und dass auch er sie liebte, daran bestand mittlerweile kein Zweifel mehr. Dass er schwul war, daran konnte sie natürlich auch keinen Zweifel haben. Und dann war eben doch ein ganz kleines Stück Wahrheit an dem ganzen Psychogerede: Sie könnte es ertragen, wenn Richard auch etwas mit einem Mann haben sollte; wenn das so war, und da hatte es sogar in den vergangenen zwei Jahren etwas gegeben, dann lag es nicht an ihr und dagegen hatte sie ohnehin keine Chance; aber eine andere Frau, das konnte und wollte sie sich noch nicht einmal vorstellen.

      Irgendwann hatten Richard und sie einmal lange miteinander über alles geredet, grundsätzlich sozusagen und theoretisch fundiert, hatten mit Vokabeln wie schwul, hetero und bisexuell und sogar mit Prozentzahlen jongliert und sich ganz plötzlich einfach totgelacht: Wörter waren das, nichts als Wörter, die die meisten Menschen nur davon abhalten sollten, einfach sie selber und damit frei zu sein. Sie hatte sich zusammen mit Richard dafür entschieden, frei zu sein, ob andere das nun verstanden oder nicht, das spielte dabei nicht mehr die geringste Rolle.

      Ihre Eltern waren von Beginn an unter den Personen gewesen, die von ihrer Verbindung mit einem gewissen Dr. Richard Börner gar nichts hielten. Ein erfolgreicher und gut verdienender Rechtsanwalt, das war in Ordnung; aber dass dieser Mensch sagte, schwul oder zumindest auch schwul oder vielleicht vor allem schwul zu sein, das ging gar nicht. Vor allem die Mutter hatte sich nur noch auf der Grundlage von übelsten Vorurteilen bewegt, und irgendwann war sie selber derart wütend geworden, dass sie es gerade noch hatte verhindern können, die Mutter darum zu bitten, sie mit diesem kleinbürgerlichen Scheißdreck in Zukunft bloß zufrieden zu lassen.

      Nun musste sie grinsen: Es würde ihr nach dem heutigen Termin bei der Gynäkologin einen Riesenspaß bereiten, den Eltern definitiv mitteilen zu können, dass ein Schwuler sie in ein paar Monaten zu Opa und Oma machen würde. Sie hatte mit Richard ausgemacht, dass sie nach der ärztlichen Untersuchung direkt zu ihren Eltern nach Düsseldorf fahren und bis zum Sonntagmorgen dort bleiben würde, und der hatte auch im Prinzip gar nichts dagegen gehabt, weil er am Abend das sogenannte kleine Finale der Fußballweltmeisterschaft zwischen Deutschland und Portugal im Fernsehen anschauen wollte. Wenn es irgendetwas gab, das sie beide in keiner Weise teilten, dann war es die Begeisterung für den Fußball. Sie war heilfroh, dass die Fußball WM morgen zu Ende ging. Wogegen Richard bis zum Schluss etwas gehabt hatte, war ihr Entschluss gewesen, alleine die Gynäkologin aufzusuchen und alleine zu den Eltern nach Düsseldorf zu fahren. Es würde mir auch nicht das Geringste ausmachen, dich während des Fußballspiels durch die Gegend zu kutschieren, hatte Richard mehrfach gesagt; aber ich will nicht, dass du alleine bist. Sie hatte es nicht gewollt, sie hatte es einfach nicht gewollt. Nicht vor dem Spiel, nicht während des Spiels und auch nicht nach dem Spiel. Ich habe aber einfach Angst um dich. Du weißt, dass dieser Kerl hier irgendwo herumläuft und es auch auf uns abgesehen hat. Und da hatte sie es endgültig gar nicht mehr gewollt, dass er anscheinend alles daran setzte, auf sie wie auf ein kleines Kind aufzupassen: Lass uns nicht mehr darüber reden! Ich gehe bei Jana in der Praxis vorbei und fahre anschließend zu meinen Eltern. Ich kann schon selber auf mich aufpassen.

      Hoffentlich.

      Warum hatte sie sich eigentlich so zickig angestellt?, dachte sie plötzlich. Hatte sie womöglich schon Angst, durch ihre Liebe zu diesem Mann ihre Selbstständigkeit zu verlieren? Dann verdrängte sie diese Vorstellung und lachte schließlich sogar. Das war doch Unsinn!

      Es gab mehrere Arztpraxen und Büros in diesem Haus, in dem die ehemalige Schulfreundin als Gynäkologin tätig war. Dass sie an einem Samstagmittag einen Arzttermin bekommen hatte, lag natürlich nur an dieser alten Schulfreundschaft, in aller Regel waren Arztpraxen und Büros an Samstagen geschlossen; dass der Hausflur menschenleer war, das war somit typisch für einen Samstagmittag. Sie war etwas verärgert, als sie feststellte, dass der Aufzug ganz offensichtlich defekt war; bis in den dritten Stock zu laufen war bei diesem Wetter selbst in einem kühlen Hausflur nicht unbedingt das Wahre.

      Sie legte die Umhängetasche mit den Akten und den wenigen Reiseartikeln für die Übernachtung bei den Eltern über die linke Schulter und legte die rechte Hand auf das Treppengeländer. Du darfst dich von jetzt an auf gar keinen Fall mehr überanstrengen, hatte Richard ihr bereits vor ein paar Wochen gesagt, als sie ihn über ihre Schwangerschaft informiert hatte; auch er war völlig aus dem Häuschen gewesen über diese Nachricht. Und wieder musste sie grinsen: Natürlich bemerkte sie noch gar nichts von ihrer Schwangerschaft, aber es war einfach großartig, wenn er derartig besorgt um sie war.

      Dennoch war sie einigermaßen außer Atem, als sie die zweite Etage erreicht hatte und vor der weißgestrichenen Tür mit dem Namen der Freundin stand. Erstaunt war sie, als sie wie bei den beiden letzten Malen die Tür aufdrücken wollte und diese verschlossen war. Jana hatte den Termin doch wohl nicht vergessen?, dachte sie, und dann erst fiel es ihr wieder ein, dass heute kein normaler Arbeitstag war und Frau Dr. Jana Wirkner ihre Vereinbarung natürlich nicht vergessen hatte; noch gestern Abend hatten sie schließlich stundenlang miteinander telefoniert.

      Bitte hier klingeln, stand auf einem Schild rechts neben der Tür, und ein Pfeil deutete auf einen Klingelknopf unterhalb des Schildes. Noch bevor sie auf den Klingelknopf drückte und das Signal im Inneren der Praxis zu hören war, fiel ihr urplötzlich der Unterschied auf zu den beiden Malen, die sie bereits in diesem Haus gewesen war: Außer dem monotonen und weit entfernten Lärm des dichten