Thomas Hölscher

Der Pferdestricker


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aufschlug. Sie war sofort tot.

      Natürlich sorgte dieser Vorfall für einigen Wirbel in dem Hotel in Can Picafort. Zum Entsetzen des Hotelmanagers erregte die Polizeipräsenz in seinem Haus erhebliches Aufsehen. Auch am nächsten Tag noch wurden andere Gäste von der Polizei befragt, unterzogen aus Palma herbeigeeilte Beamte den Ort des Geschehens einer eingehenden kriminaltechnischen Untersuchung und dann kam man schnell zu einem Ergebnis: Die Tote war die 58jährige Oberstudienrätin Frau Dr. Ilse Hartmann aus Essen in Deutschland. Da es keinerlei Hinweise auf Fremdeinwirkung gab, wurden die Ermittlungen eingestellt und man musste von einem Unfall oder sogar von Selbstmord ausgehen. Ein Ergebnis, das sich übrigens durchaus auch mit den Aussagen der anderen Hotelgäste rechtfertigen ließ: Die Tote war allen Befragten – zumeist deutschen Touristen - als ausgesprochene Einzelgängerin vorgekommen, die auf jeden einen verschlossenen, auf suggestive Nachfrage sogar depressiven Eindruck gemacht hatte.

      Das kleine Pferd wurde bereits am nächsten Tag von Urlaubern gefunden. Und nur weil sie völlig empört mehrfach bei der Policia Regional anriefen, hielten zwei Beamte es schließlich für angezeigt, doch noch am Fundort aufzutauchen, allerdings nur, um sofort wieder zu verschwinden. Natürlich hatten sie das zerrissene Maul und die blutigen Flanken des Tieres auch gesehen, aber die Aufregung dieser überkandidelten Touristen trotzdem nicht verstanden. Spanien ist schließlich für alles mögliche bekannt und berühmt; für seinen Tierschutz eher nicht.

      Auch der Besitzer hatte keine Anzeige erstattet. Es handelte sich um einen Halbwüchsigen aus der Umgebung, der mit vier ausgemergelten Gäulen ein paar Euro verdienen wollte. Und weil er dazu keine Konzession hatte, war das eigentlich illegal. In Can Picafort gab es schließlich ein Hotel und einen teuren Touristenclub, wo man für viel Geld Reitausflüge buchen konnte.

      Das humanistische Gymnasium in Essen reagierte auf die Nachricht vom Tode der Mitarbeiterin mit respektvollem Desinteresse. Nur ein paar kleine Mädchen aus den unteren Klassen verspürten so etwas wie ein schlechtes Gewissen. Sie warfen sich nämlich vor, dass sie noch am letzten Schultag vor den Osterferien ihrer Lateinlehrerin zum Abschied nachgerufen hatten: Ilse, Ilse, keiner will’se.

      Natürlich nur leise, so dass die das nicht gehört hatte.

      Laut hätten sie sich nie getraut.

      Prolog 4

      21.6.2006

      Es gab Leute, die behaupteten, Uli Kubitzki sei nicht nur schwul, der Typ habe das Schwulsein erfunden. Und besagter Uli Kubitzki nahm solche Bemerkungen nicht nur nicht übel, sondern empfand sie fast schon wie eine Art Belobigung für eine Art von Lebensführung, zu der es für ihn niemals eine wirkliche Alternative gegeben hatte. Das Wort tuntig empfand er somit auch keineswegs als Beleidigung seines Auftretens, sondern als völlig adäquate Bezeichnung dafür.

      Sein Arbeitgeber, die Innenstadtfiliale einer großen Bank, sah das alles nicht ganz so locker. Mehrfach hatten Kunden nachgefragt, was denn das für ein komischer Vogel sei, der sie da bedient hatte. Niemand war dabei diskriminierend oder böse geworden; alle hatten sie lediglich über irgendein exaltiertes Verhalten des Bankangestellten lachen müssen, und dann war Uli Kubitzki aus der Kundenbetreuung zur Aktenverwaltung in ein Hinterzimmer versetzt worden. Da Uli Kubitzki zudem aus Wuppertal kam, hatte sein Auftreten in einschlägigen Kreisen schon längst zu einer Art Kosenamen geführt: Ulla de Wuppertal. Und bereits nach wenigen Wochen hatte dieser Name für ihn selber den Status eines Spitznamens oder Pseudonyms verloren: er nannte sich ganz einfach nur noch so.

      Auf möglichst ausgedehnten Kontakt mit den einschlägigen Kreisen legte Ulla den allergrößten Wert. Obschon er nicht schlecht verdiente, war seine Behausung eher bescheiden und die Einrichtung mit dem Wort spartanisch noch wohlwollend beschrieben. Er konnte zwar auch im Internet stundenlang seinen Wünschen und Träumen nachhängen, aber wirklich interessant war eine virtuelle Welt für ihn nicht; dort konnte man den Appetit anregen, gegessen wurde woanders. Er brauchte ganz einfach den direkten Zugang zur Realität, und deshalb ging ein großer Teil seines Gehaltes drauf für zumeist mehr als extravagante Kleidung, für Püderchen. Kremchen und Düftchen und die fast täglichen Besuche irgendwelcher Schwulenkneipen in allen möglichen Städten des Ruhrgebiets, in Düsseldorf oder in Köln. Eine Zeit lang hatte er allen Ernstes geglaubt, irgendwann einmal seine finanzielle Situation verbessern zu können durch die Herausgabe eines Schwulenführers durch den Großraum Rhein-Ruhr oder die Erstellung einer solchen Website im Internet; aber davon war er inzwischen wieder abgekommen, weil er ehrlicherweise in der Einleitung schon hätte schreiben müssen, dass ein Besuch dieser Etablissements sich fast nie lohnte: Man konnte hinfahren, wohin man wollte, man traf immer die gleichen Leute mit immer den gleichen Wünschen, Träumen und zynischen Abwehrmechanismen, und die wenigen Typen, deretwegen man sich eigentlich auf die Suche gemacht hatte, bekam man ohnehin nicht.

      Und er machte sich fast jeden Abend auf, um einen Mann zu finden, auf dessen Typ ihm die unzähligen Websites im Internet jeden Tag mehr Appetit machten. Als Tunte konnte er natürlich nichts gegen Tunten haben, aber sexuell interessierten die ihn überhaupt nicht. Er liebte die maximale Differenz, die richtigen Kerle, die tough guys. Nur schien bei denen die Nachfrage nach Tunten äußerst begrenzt. Lediglich ein paar türkische Kerle hatten ihm bei seinen regelmäßigen Cruisings auf dem Kölner Hauptbahnhof schon mal gezeigt, wo der Hammer hing. Aber da war immer der fade Nachgeschmack gewesen, dass die Kerle aus Gründen, die wohl mit ihrer Kultur zusammenhingen, notgeil gewesen waren, sich mit ihm einen Spaß erlaubt hatten und die gleiche Übung auch an sonst was praktiziert hätten, wenn es nur lebendig war, man es degradieren und sich daran als Mann beweisen konnte. Er war zwar ein Paradiesvogel, auch hatte er aus reiner Wissbegierde schon einige Male Websites zum Thema bestiality besucht, aber diesbezüglich war der Lustgewinn jedes Mal ein sehr überschaubarer gewesen. Für die Gestaltung des eigenen Liebeslebens kam so etwas eher nicht in Frage. Weder als Täter noch als Opfer.

      Und dann hatte sich von einer Sekunde auf die andere alles geändert. Er wäre alles geworden, Ziege, Esel, Huhn oder auch nur ein Stück blutige Schweineleber mit einem Schlitz drin, einfach alles, nur um in die Nähe dieses Kerls zu kommen.

      Es war an einem Freitagabend in Dortmund gewesen. Dort war ein echter Kerl gewesen, bei dem ihm augenblicklich eines aufgefallen war: Der hatte endlich mal nicht sofort weggeschaut, sondern hatte zunächst sekunden-, wenig später sogar minutenlang seinem inquisitorischen Blick standgehalten. Sie waren schließlich ins Gespräch gekommen und wenig später hatte er den Kerl sogar mit in seine spartanisch eingerichtete Behausung in Wuppertal genommen. Es war spät am Abend gewesen und dennoch hatte er plötzlich eine riesige Lust verspürt, seine gesamte ihm gegenüber oft sehr reserviert auftretende Nachbarschaft auf sich aufmerksam zu machen: Seht her, solch einen Typen kann ich abschleppen!

      Jonas hieß der Kerl, und obschon Ulla nicht sonderlich bibelfest war, wusste er, dass es dort irgend so eine komische Geschichte mit einem Walfisch gab.

      Es sollte aber noch viel biblischer werden; denn irgendwann fing dieser Kerl an zu erzählen, dass er nur eine Art Vorprogramm sei für eine Show, in deren Genuss Ulla auch noch kommen könne, wenn er nur wollte. Und auch das weckte bei Ulla irgendwelche nebulösen Erinnerungsfetzen aus zehn Jahren katholischem Religionsunterricht; da hatte doch auch mal jemand gesagt, er selber sei zwar schon eine heiße Nummer, aber es werde jemand kommen, dem traue er sich nicht einmal die Hose aufzumachen. So oder zumindest so ähnlich.

      Zum ersten Mal dämmerte dann in dieser Nacht bei Ulla die Erkenntnis, dass das sexuelle Verlangen schon seit Jahrmillionen nie etwas anderes als eine virtuelle Welt im Kopf jedes Einzelnen war; und solang sie dort blieb, war sie grenzenlos, machte vor gar nichts halt. Ihre Umsetzung in der realen Welt allerdings fand die Grenzen spätestens dort, wo der Körper des Menschen an seine Grenzen kam, weil er zum Beispiel den ihm zugefügten Schmerz nicht mehr als sexuelle Stimulation empfinden konnte, sondern als elementare Bedrohung und ihn ganz einfach nicht mehr aushielt.

      Und dieser Jonas ließ ihn diese Grenze ganz schnell erreichen, scherte sich um seine Einwände überhaupt nicht und verstand es vor allem, sich über Stunden auf dem schmalen Grad zwischen dem Auslösen schier grenzenloser Lust und dem Zufügen von nicht mehr zu ertragendem Schmerz zu bewegen. Dass er dabei