Thomas Hölscher

Der Pferdestricker


Скачать книгу

aber alles in allem wussten sie eben das Falsche, perfektionierten zumeist nur ihre technische Intelligenz und blieben darauf reduziert, eigneten sich eine oft unangreifbare Bauernschläue an, glaubten – je länger sie im Schuldienst war - immer ungenierter, sich allen traditionellen Bedeutungen entziehen zu können, ohne sich auch nur ein einziges Mal ernsthaft damit auseinandergesetzt zu haben.

      Sie war Oberstudienrätin für Latein und Französisch an einem humanistischen Gymnasium in Essen und hatte sich in den letzten Monaten schon des öfteren ganz diskret zu der Frage kundig gemacht, wie lange sie mit ihren 58 Jahren diesem Beruf noch nachgehen musste. In Gesprächen mit ihren wenigen Bekannten – fast ausnahmslos Lehrer – war des öfteren zur Sprache gekommen, dass man als Unterrichtender an einem Gymnasium noch die beste aller möglichen Karten gezogen hatte; der Job an einer Haupt- oder Gesamtschule vor allem im Essener Norden musste eine Tortur, die rapide steigende Zahl von Nachkommen sogenannter bildungsferner Haushalte gar nicht zu bändigen sein. Es wurden dann Horrorgeschichten erzählt von Kollegen, die im Unterricht sogar tätlich angegangen worden waren, und all diese Geschichten hatte sie mit der notwendigen Empörung zur Kenntnis genommen, sie in Wirklichkeit aber nicht geglaubt. Sie hatte sie einfach nicht glauben wollen, weil diese Vorstellung ihr eine geradezu bodenlose Angst einflößte und sie sich statt dessen lieber einredete, dass gerade sie es war, die den härtesten aller möglichen Jobs zu erledigen hatte und dafür auch völlig zu Recht am meisten Geld von allen Lehrern bekam: Auch Gymnasiasten waren heutzutage schon lange nichts anderes mehr als die allgemeine respektlose und frechdumme Masse, die nur noch Rechte und keinerlei Pflichten hatte, aber ihre wenn auch immer bescheidener werdende Intelligenz machte sie viel gefährlicher als dieses hirnlose und schmutzige Pack, das sich in den letzten Jahren anscheinend aus allen unterentwickelten Regionen der Welt in deutschen Schulen verabredet hatte, um dort das Chaos zu veranstalten. Nach zehn Jahren, die ihnen eine völlig unfähige und ignorante Kultusbürokratie als Schulpflicht verordnet hatte, war diese Charge in aller Regel nicht einmal in der Lage, die Sprache des Landes, in dem sie ihr Unwesen trieb, fehlerfrei zu sprechen. Diese Dinge wusste sie zwar nicht aus eigener Erfahrung, aber schließlich brauchte man nur den Fernseher einzuschalten oder die Zeitung aufzuschlagen, um derartige Dinge zu wissen. Wörter wie Latein und Französisch sagten solchen Leuten natürlich gar nichts. Aber das war auch völlig überflüssig, da sich dieses Gesocks ohnehin mit nichts anderem beschäftigte als damit, sich so schnell wie möglich zu reproduzieren. Und wenn sie an solche Dinge dachte, dann war sie manchmal sogar froh an einem humanistischen Gymnasium zu unterrichten, wirkte diese Schulform doch immer noch wie eine Art Filter, der den sozialen Abschaum außen vor hielt. Die Zugangsberechtigung war die soziale Herkunft, nicht unbedingt die Intelligenz der Schüler. Und ein paar renitente Akademikereltern, die bei jeder zu gebenden Note mit dem Rechtsanwalt drohten, waren immer noch leichter zu handhaben als ein Mob, der Gewalt in jedweder Form nicht nur androhte, sondern auch anwendete und letztendlich gar nichts lernen wollte.

      Eigene Kinder hatte sie nicht, war auch nicht verheiratet; überhaupt war da nie etwas Ernsthaftes gewesen mit Vertretern des anderen Geschlechts, und bis kurz vor ihrem 50. Geburtstag hatte sie sich einreden können, dass sie voll und ganz in ihrem Beruf aufging.

      Aber dann hatte sich etwas geändert. Nicht schlagartig, eher schleichend, so dass sie im Rückblick nicht einmal mehr sagen konnte, wann alles angefangen hatte. Und was genau es war, das sich geändert hatte, das konnte sie ohnehin nicht sagen. Es war nicht so sehr das Gefühl, etwas Unbestimmtes noch erreichen zu wollen; es war die immer häufiger auftretende Gewissheit, etwas ganz Bestimmtes endgültig verpasst zu haben.

      Im Frühjahr schließlich hatte sie es einfach nicht mehr ertragen können. Das war schon Wochen vorher klar gewesen. Also hatte sie verreisen müssen, egal wohin, nur irgend wohin. Und doch konnte man nicht einfach sagen, dass man nach Mallorca fuhr; Mallorca, das klang trotz aller Berichte über angebliche und tatsächliche Prominente, die sich dort niedergelassen hatten, schließlich immer noch nach Putzfrau und Proleten. Also hatte sie nach Valldemosa fahren wollen, in den kleinen Ort im mallorcinischen Gebirge, wo Chopin mit seiner Geliebten George Sand sein Lungenleiden hatte kurieren wollen. Mehrfach hatte sie im Kollegium ganz begeistert von George Sands „Ein Winter in Mallorca“ gesprochen, von ihrem Wunsch, diesen Ort Valldemosa einmal zu sehen, und dann erst hatte sie gewagt, die Reise zu buchen.

      Letztendlich hatte der Ort Can Picafort im Norden der Insel, den ihr eine junge Kollegin empfohlen hatte, zumindest nach ihrem Dafürhalten mit den Größen der europäischen Kultur so ganz offensichtlich gar nichts zu tun. Trotz der vier Sterne, mit denen sich ihr Hotel rühmte, und der sogar in ihrem Reiseführer erwähnten exquisiten Küche eher mit Putzfrauen und Proleten. Und auch den Spuren Chopins und George Sands in Valldemosa hatte man an einem einzigen Tag bequem nachgehen können, und bereits am späten Nachmittag hatte der Bus die kleine Gruppe mit Ausflüglern vor dem Hotel in Can Picafort wieder abgesetzt. Und von dem Augenblick an hatte sie begonnen, die Stunden und Tage bis zu ihrer Heimreise zu zählen.

      Sie wusste sich in diesem Touristenkaff einfach nicht zu verhalten. Alles, was dort angeboten wurde, interessierte sie nicht im geringsten; und was sie anderen hätte anbieten können, war auch dort so ganz offensichtlich nicht gefragt. Und somit war alles wie zu Hause, wie in Essen, wie in der Schule, wie immer. Vielleicht sogar noch schlimmer; denn das wunderbare Wetter der letzten Tage hatte es mehr als nahe gelegt, einfach hinauszugehen, sich an den Strand zu legen, in einem der zahlreichen Restaurants etwas zu essen, zu trinken, auf der Promenade einfach nur Menschen zu beobachten, auf jeden Fall irgend etwas zu tun, für das man die Abgeschiedenheit eines banalen Hotelzimmers allerdings hätte verlassen müssen. Und genau das konnte sie ohne Chopin und Georges Sand nicht.

      Zwei ganze Tage hatte sie nur im Hotelzimmer verbracht, dann war sie morgens mit einem an der Rezeption bestellten Taxi alleine nach Alcudia gefahren, aber dort war alles noch schlimmer gewesen, weil ein solcher Ausflug, wie sie meinte, einer gebildeten Person doch eigentlich die Verantwortung auferlegte, irgendetwas Sinnvolles zu tun, und das war ihr einfach nicht gelungen. Sie hatte nicht einmal mehr die Energie gehabt, den teuren Reiseführer, und sei es zur Wahrung irgendeines Scheins, auch nur aufzuschlagen. In dem Gesicht des jungen Taxifahrers, der sie aus der Stadt zurückgebracht hatte, wollte sie sogar ein unverschämtes Grinsen entdeckt haben und hatte dem Mann unterstellt, ihre Hilflosigkeit erkannt und seine Verachtung deutlich gezeigt zu haben. Und als sie um Punkt 17 Uhr bereits wieder in ihrem Hotelzimmer saß und auch noch feststellen musste, dass ihre Mitmenschen in diesem Touristenkaff um diese Zeit ganz offensichtlich erst richtig unternehmungslustig wurden, rechnete sie auf einem Stück Papier aus, wie viele Tage und Stunden sie noch in diesem Hotelzimmer würde verbringen müssen: Es war nun genau 17 Uhr und 3 Minuten. Also noch drei Tage und ziemlich genau sieben Stunden, bis man zumindest auf das übliche Bisschen Leben zu Hause wieder rechnen konnte.

      Schon als Schülerin war das Fach Mathematik ihre einzige Schwäche gewesen. Aber daran lag es nicht, dass sie sich in diesem Fall so gründlich täuschte. Sie hatte noch genau fünf Stunden und dreiundfünfzig Minuten zu leben.

      Wenn man die Straße von Can Picafort in Richtung Alcudia geht, gelangt man nach wenigen Kilometern in das Naturschutzgebiet der Albufera, einer Landschaft mit ausgedehnten Sumpfgebieten und dichten Schilfbeständen, das war ihr um halb sechs klar, weil sie es in ihrem Reiseführer gelesen hatte. Und da sie um kein Geld der Welt die wenigen Meter zur belebten Strandpromenade gelaufen wäre, ging sie um kurz nach sechs völlig plan- und ziellos über die Chaussee in Richtung Arta. Nach nur wenigen hundert Metern endete die Bebauung des monotonen Touristenortes und links und rechts der Straße lag eine Landschaft, die mit ihrem Kieferbestand auf sandigem Boden an eine Dünenlandschaft irgendwo weiter im Norden Europas erinnern konnte. Sie war nicht einmal zwei Kilometer von Can Picafort entfernt, als sie sich entschloss, in einen der sandigen Wege nach links einzubiegen. Sie nahm sich vor, nicht allzu weit zu laufen, alles zu tun, um sich ja nicht zu verlaufen; aber die Vorstellung, zu früh wieder in ihrem Hotelzimmer eingesperrt zu sein, ließ sie gleich alle Bedenken über Bord werfen. Schon nach wenigen Minuten war der Lärm der stark befahrenen Straße nicht mehr zu hören und sie hätte nicht mehr sagen können, wie oft sie auf einem der Wege nach links oder rechts abgebogen war.

      Es kam ihr die Idee, einen Augenblick zu rasten, sich einfach auf den sandigen Boden zu setzen und das herrliche Wetter und die Ruhe zu genießen; aber dann hatte sie diese Idee