und wahrscheinlich waren Jana und sie im Augenblick die beiden einzigen Personen in dem gesamten Gebäude, sagte sie sich noch einmal und sah mit fast theatralischer Geste auf ihre Uhr, als könne ihr ein Blick auf ihre Armbanduhr zumindest ein Stückchen von dem Gefühl zurückgeben, dessen Verlust ihr in schnell wachsendem Ausmaß fast körperlich bewusst wurde. Es war ein paar Minuten vor 12; sie hatte sich mit Jana um 12 Uhr hier verabredet.
Als sie den Türsummer hörte, drückte sie die Tür auf und ihr Blick fiel auf die verwaiste Rezeption, an der an normalen Tagen zwei bis drei Arzthelferinnen tätig waren. Jana, rief sie, wo steckst du?
Als sie an der Rezeption vorbeiging und in das menschenleere Wartezimmer blickte, fiel die schwere Tür zur Praxis wieder ins Schloss. Jana, rief sie noch einmal, wo steckst du denn? Dann sah sie, dass die Tür eines der beiden Untersuchungsräume, die nach links von dem langen Flur abgingen, offen stand und gleißendes Licht durch die Türöffnung in den Flur fiel. Jana? Hast du noch andere Patienten, oder darf ich hereinkommen?
Als auch nun keinerlei Reaktion der Freundin zu hören war, wurde ihr endgültig mulmig. Es hatte schließlich einen ganz konkreten Grund dafür gegeben, dass Richard sie eigentlich auf gar keinen Fall alleine zu diesem Termin und anschließend zu den Eltern hatte fahren lassen wollen, und dieser Grund hatte zu tun mit menschenleeren Orten und mit Frauen. Vor allem mit Frauen, die ... Sie verspürte einen fürchterlichen Widerwillen dagegen, das, was plötzlich als vage Möglichkeit aus ihrer Erinnerung aufgetaucht war, auch nur in Sprache zu fassen, und als es dann, ohne dass sie es noch kontrollieren konnte, in wüsten Bildern, zumeist von der Polizei aufgenommenen Tatortaufnahmen, durch ihren Kopf raste, wusste sie, dass sie kurz davor stand in Panik auszubrechen. Jana, was ist denn los mit dir? Bist du da?, rief sie noch einmal, als wolle sie sich selber Mut machen, lief schnell zu der weit geöffneten Tür des hell erleuchteten Zimmers, dessen grelles Licht harte Konturen in der ansonsten abgedunkelten Praxis warf und blickte in den Behandlungsraum.
Jana war da.
Sie lag auf dem Behandlungsstuhl.
Noch bevor sie ihr Entsetzen über das grauenhafte Bild herausschreien konnte, war sie von hinten gepackt und irgendetwas war in ihr Gesicht gepresst worden. Sekunden später verlor sie das Bewusstsein.
Bis zum Verlust des Bewusstseins dauerte es nur wenige Sekunden, aber in diesen Sekunden brannten sich dieses Bild und der schreckliche Geruch in ihr Gehirn ein, so dass sie es bis an ihr Lebensende nicht mehr würde vergessen können.
Dass auch bis zu ihrem eigenen Lebensende nicht mehr all zu viel Zeit vergehen würde, davon war sie wenig später völlig überzeugt.
Das erste, das sie beim Erwachen sah, war der blaue Stoff.
Nur nach und nach wurde ihr deutlich, dass sie auf dem Rücken lag, in einem von kaltem Neonlicht beleuchteten, weißgetünchten und gemauerten Raum, ihre Hände und Füße gefesselt waren, ihr Mund mit einem Klebestreifen verschlossen und ihr Kopf so fixiert war, dass sie direkt nach rechts auf den blauen Stoff sehen musste. Neben dem augenblicklich wieder präsenten grauenhaften Bild ihrer Freundin waren es vor allem die fürchterlichen Kopfschmerzen, die ihr die Orientierung erschwerten und hoffen ließen, dass sie so schnell wie möglich wieder das Bewusstsein verlieren möge, weil alles das, was ihr erwachendes Gehirn ihr mitteilte, einfach nicht wahr sein durfte.
Sie lag auf einer Art Pritsche, rechts neben ihr, kaum einen Meter von ihrem Kopf entfernt, saß ein Mann mit weit gespreizten Beinen, dessen Jeans sie als erstes gesehen hatte. Als sie versuchte, in sein Gesicht zu sehen, war ihr schlagartig klar, dass der Mann sie schon lange angestarrt, ganz offensichtlich nur darauf gewartet hatte, dass sie endlich die Augen aufschlug. Und als sich ihre Blicke für Sekunden trafen, verzog sich sein Gesicht zu einem höhnischen Grinsen, das sie augenblicklich zwang, ihren Blick wieder abzuwenden und die Augen zu schließen.
Das Bild schien sich auf ihrer Netzhaut eingebrannt zu haben, und sie wusste, dass sie eine perfekte Personenbeschreibung dieses Mannes hätte geben können, ein Gedanke, der sie weiter beunruhigte. Dieser Mensch würde ihr keine Chance lassen, seine Personenbeschreibung noch irgend jemandem mitzuteilen: Mitte bis Ende 20, einsachtzig bis einsfünfundachtzig groß, braune, gescheitelte Haare, graue Augen. Und doch wusste sie augenblicklich, dass diese Personenbeschreibung zu oberflächlich und nichtssagend war, etwas Entscheidendes, vielleicht das Wichtigste bei dieser Beschreibung noch fehlte.
Erst als sie nun seine Atemzüge hörte, seinen Atemzug plötzlich direkt vor ihrem Gesicht verspürte, riss sie instinktiv die Augen wieder auf: Sein Gesicht war so dicht vor dem ihren, dass sich ihre Nasenspitzen fast berührten, er wich wie erschrocken zurück und ließ sich dann mit einem Lachen, das dem eines Kindes glich, wieder auf den Sessel zurückfallen. Nun sah sie zum ersten Mal die große schwarz-weiße Wanduhr, der Uhr auf einem Bahnsteig ähnlich, an der Wand links hinter dem Mann. Es war 15 Uhr 20. Als habe der Mann nur darauf gewartet, dass sie endlich die Uhr hinter seinem Rücken zur Kenntnis genommen hatte, hob er langsam vom Boden ein Blatt Papier hoch, auf das mit gestochen scharfer Schrift etwas geschrieben worden war, und hielt es ihr vors Gesicht: Um 18 Uhr werde ich mit dir beginnen, um 19 Uhr wirst du nur noch tot sein wollen, aber um 20 Uhr wirst du immer noch nicht aussehen wie diese Schlampe, Frau Dr. Jana Wirkner. Ich freue mich auf dich. Jonas.
Er musste ihr erneutes Entsetzen bemerkt haben, denn wieder sah er sie höhnisch grinsend an, warf sich plötzlich mit fast kindischer Freude in den Sessel zurück, schlug sich wie vor Vergnügen auf den linken Oberschenkel fasste sich dann mit der rechten Hand zwischen die weit gespreizten Oberschenkel und manipulierte völlig ungeniert an seinem Geschlechtsteil, bis es deutlich unter dem blauen Stoff der Jeans zu erkennen war.
Und dann war ihr schlagartig klar, was bei der Beschreibung dieser Person noch gefehlt hatte: Es war das zur äußeren Erscheinung dieses Mannes absolut nicht passende Benehmen eines Kindes, das sie nun mit erwartungsvollen Augen anstarrte und sich ganz offensichtlich überhaupt nicht über die Tragweite dessen im Klaren war, was es da anstellte.
Als wolle er das unterstreichen, hielt er ihr noch einmal den Zettel vor das Gesicht, wie ein Kind, das irgendetwas gezeichnet hatte, von dem es vielleicht dumpf ahnte, dass es das besser nicht getan hätte, und das nun voller Spannung auf die Reaktion eines Erwachsenen wartete: Um 18 Uhr werde ich mit dir beginnen, um 19 Uhr wirst du nur noch tot sein wollen, aber um 20 Uhr wirst du immer noch nicht aussehen wie diese Schlampe, Frau Dr. Jana Wirkner. Ich freue mich auf dich. Jonas.
Eine derart infantile Person konnte einen solchen Text nicht einmal schreiben, davon war sie überzeugt; dass er das angekündigte Vorhaben in die Tat umsetzen würde, daran hatte sie nicht den leisesten Zweifel.
Bereits eine halbe Stunde zuvor war bei der Kripo in Essen ein Anruf der Kollegen aus Recklinghausen eingegangen. Ein gewisser Oberkommissar Sundermann teilte einem völlig verdutzten Kollegen kurz und bündig mit, die Polizei solle augenblicklich die Praxis einer Frau Dr. Jana Wirkner am Rüttenscheider Stern aufsuchen; es sei dort höchstwahrscheinlich etwas Schreckliches geschehen. Als der Essener Beamte nachfragte, um genauere Informationen zu erhalten, war die Verbindung bereits unterbrochen.
Nur wenig später hielt ein Streifenwagen der Essener Polizei vor dem Gebäude am Rüttenscheider Stern und zwei uniformierte Beamte stiegen aus dem Wagen. Sie waren überrascht, als sie die Praxis der Gynäkologin unverschlossen vorfanden; zur Beschreibung ihrer Befindlichkeit nach der Überprüfung der Praxis sollten ihnen auch nach Jahren noch die Worte fehlen.
Es blieb nicht bei dem Grauen, das alleine schon das Bild und der entsetzliche Geruch verursachte.
Die junge Ärztin war an ihren Behandlungsstuhl gefesselt, zerschnitten und regelrecht ausgeweidet worden wie ein erlegtes Wild, wobei der Täter die Eingeweide und inneren Organe wie Trophäen in der ansonsten durch den weißen Anstrich und die weißen Vorhänge fast steril wirkenden Praxis verstreut hatte. Die weiteren Untersuchungen sollten aber vor allem eindeutig ergeben, dass die junge Ärztin noch gelebt hatte, als der Täter sein Werk begonnen hatte.
Tagebuch
19.3.1999
Bin gerade aus Prag zurückgekommen.