Thomas Hölscher

Privatsache


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dann war der schlimmste Teil des späten Spätdienstes fällig: das Verteilen der Tabletten. Gegen kurz nach halb zehn, als der Zivildienstleistende endlich hatte nach Hause gehen können, warf Schwester Elisabeth das Tablett mit den vielen bunten Pillen auf den Arbeitstisch im sogenannten Schwesternzimmer.

      Sie war übrigens wirklich Schwester, das heißt, sie hatte im Gegensatz zu den meisten ihrer Kollegen und Kolleginnen die dreijährige Ausbildung zur Krankenschwester absolviert. Vor ein paar Jahren war sie aus dem katholischen Krankenhaus im Stadtteil Horst geflogen, weil sie paketeweise Valium hatte mitgehen lassen.

      Sie hatte das damals gebraucht. Ihr Mann hatte die Anstellung in einem Eisen verarbeitenden Betrieb verloren und eine Umschulung machen müssen, die Kinder waren ein und drei Jahre alt gewesen, das Geld knapp, noch knapper als jetzt, wo der Mann doch wieder bei einer Schlachterei einen Job bekommen hatte. Dann wollte Schwester Elisabeth an all das gar nicht mehr denken. Mit 36 Jahren konnte man doch nicht mal als Frau zu alt sein, und wenn sie sich abends manchmal im Spiegel betrachtete, kam es oft vor, dass sie sich eigentlich noch ganz attraktiv fand und überzeugt davon war, es werde noch irgendetwas Aufregendes in ihrem Leben geschehen. Auf gar keinen Fall konnte es das schon gewesen sein.

      Sie hasste diese farbigen Pillen, die da vor ihr auf dem Tisch lagen oder auf den Boden gefallen waren. Nun musste sie das ganze Zeug wieder aufheben und je nach Farbe in die richtigen Schachteln schieben. Sie tat ihr Bestes und warf den verbleibenden Rest kurzerhand in den Papierkorb.

      Schuld an allem waren doch nur die Ärzte! Was waren die heute noch anders als Vertreter irgendwelcher Chemiekonzerne? Keinen der Bewohner störte es anscheinend, stundenlang im Aufenthaltsraum vor sich hin zu dösen oder auf den Abtransport ins Bett oder aufs Klo warten zu müssen, weil das Personal vor allem am Wochenende völlig überlastet war. Aber wenn nur eine dieser verdammten Pillen beim abendlichen Verteilen fehlte, dann war ganz schnell die Hölle los.

      Gereizt sah Schwester Elisabeth auf die große Stationsuhr, deren langer Sekundenzeiger unendlich schwerfällig über die schwarzen Zahlen und Striche wippte. Es war 20 vor 10, und nun begann der allerschwierigste Teil des Dienstes: das Warten auf die Ablösung durch die Nachtwache. Es war jeden Abend das gleiche Warten: Je näher die Uhr auf die zehn zuging, desto mehr hoffte man, dass nun nichts mehr geschah. Dass vor allem niemand mehr schellte. Dieses rhythmische Getute konnte die schlimmsten Hassreaktionen hervorrufen. Da waren die Bewohner dann nämlich keine alten Menschen mehr, die auf einen Klingelknopf drückten, weil sie Hilfe brauchten; da war nur noch ein großer Moloch, der einen mit seinen immer neuen Wünschen und Pingeligkeiten auffraß. Es hatte gar keinen Sinn, Mitleid zu haben. Nach ein paar Jahren in diesem Beruf merkte jeder, dass zuviel Idealismus Selbstmord war. Mitleid konnte man da nur mit sich selber haben. Schwester Elisabeth wollte einfach nach Hause. Dieser Freitag war der letzte Tag der Spätschicht; morgen früh musste sie bereits um 6 Uhr wieder beginnen, und irgendwann in den nächsten acht Stunden würde sie noch Hausfrau und Mutter spielen und vielleicht auch noch schlafen.

      Sie öffnete die Balkontür des Aufenthaltsraumes, und die nasskalte Aprilluft strömte herein. Sie wollte auf dem Balkon noch eine Zigarette rauchen. Je stiller sie sich außerdem auf der Station verhielt, desto geringer war die Chance, dass sich noch jemand mit irgendwelchen Wünschen meldete.

      Vom dritten Stock sah sie auf den Kussweg. Um diese Zeit war der Hinterausgang längst verschlossen, es war einfach nicht ratsam, nach Einbruch der Dunkelheit diesen Ausgang zu benutzen. Vor allem für Frauen nicht. Und dann musste sie plötzlich lachen. Nach Einbruch der Dunkelheit? War es am heutigen Tag eigentlich schon einmal hell gewesen? Den ganzen Tag hatten dichte tiefe Wolken alles Licht verschluckt, es war kalt und nass gewesen, eine Nässe, die einfach in der Luft hing und überall hinkroch. Auch jetzt trieb der Wind dichte Wasserschleier vor dem Licht der wenigen Laternen vorbei. Es sollte endlich Sommer werden. Noch immer waren die Tage so kurz, und was davon vielleicht noch verwertbar gewesen wäre, wurde fast ganz von der Arbeitszeit aufgefressen.

      Dann fiel ihr Opa Wilmers plötzlich ein. Bei dem musste sie unbedingt noch vorbei. Opa Wilmers war eigentlich ein ganz lieber Kerl, pflegeleicht und außerdem wirklich ein armes Schwein. Vor allem aber konnte man es sich nicht erlauben, den Tod eines Bewohners nicht bemerkt zu haben.

      Und Opa Wilmers musste bald sterben. Deshalb hatten sie ihn vor zwei Wochen schon auf ein Einzelzimmer gelegt. Der alte Mann glaubte immer noch an seine Silikose, seine Steinstaublunge, von der er erzählen konnte, als handele es sich dabei um einen Orden, den man für 40 Jahre Arbeit im Pütt bekam. Dabei hatte er schon lange Lungenkrebs und saß überhaupt voller Metastasen. Natürlich hatte ihm das niemand gesagt. Und warum auch? Sollte er als Bergmann sterben. Bei fast Achtzigjährigen war es ohnehin egal, woran sie starben.

      Sie ging zurück ins Schwesternzimmer und nahm Wilmers Krankenakte, nur um noch einmal zu erfahren, was sie ohnehin schon lange wusste, weil sie es in den vergangenen Tagen immer wieder nachgesehen hatte. In der Rubrik Konfession stand römisch-katholisch, was ja an und für sich noch kein Beinbruch war, aber sie war in diesem Punkt durch ihre frühere Arbeit im katholischen Krankenhaus in Horst einfach vorbelastet: Wenn man dort in solchen Fällen versäumt hatte, den Geistlichen zu rufen, hatte es jedes Mal einen höllischen Ärger gegeben. Im Zweifelsfall ließ man besser auch mal einen Türken mit der letzten Ölung vor Allah erscheinen als einen Katholiken so ganz ohne vor dem katholischen Gott.

      Dann warf Schwester Elisabeth die Akte wieder zurück auf den Tisch. Es war schließlich nicht ihr Problem. Der Mann hatte selber noch nie den Wunsch geäußert, und auch seine Frau, die nur noch selten kommen konnte, weil sie selber schwer krank war, hatte noch nie etwas in dieser Richtung gesagt. Außerdem konnten die Geistlichen ja auch etwas aktiver werden! Den Pfarrer der katholischen Gemeinde hatte sie hier überhaupt nur dreimal gesehen. In ein Heim der Arbeiter-Wohlfahrt kam ein katholischer Geistlicher anscheinend nicht so gern. Und wenn, dann bewegte er sich hier wie ein Späher auf feindlichem Gebiet.

      Sollen sie sich doch um die Leute kümmern, wenn sie noch leben, dachte Schwester Elisabeth in selbstgefälliger Zufriedenheit. Nicht wenn sie schon so gut wie tot sind.

      2

      Schwester Elisabeths Gewissensbisse waren in der Tat völlig gegenstandslos. Mit Gott hatte Opa Wilmers schon lange nichts mehr am Hut, und auch mit der Welt von einem Tag zum anderen weniger.

      Schon seit fast zwei Stunden beschäftigte ihn die Frage, ob er das hinter seinem Bett befindliche Sauerstoffgerät abschalten sollte oder nicht. Er glaubte zwar, dass er auf das Gas verzichten konnte, das durch einen dünnen Plastikschlauch unter seine Nasenlöcher geblasen wurde; aber das leise Zischeln und Brodeln der Apparatur beruhigte. Vor allem lenkte es ab vom Zischen und Brodeln der eigenen Lunge, das sich unweigerlich zu einer neuen Explosion steigern musste, wenn er sich auch nur geringfügig bewegte. Und diese entsetzlichen Hustenanfälle waren das einzige, das ihn noch in Angst versetzen konnte. Mit dem Tod hatte er sich längst abgefunden; aber an das Sterben konnte man sich nicht gewöhnen.

      Außerdem war sein Spucknapf wieder bis zum Rand voll. Vielleicht hatten sie es wirklich nur vergessen, das Ding zu leeren. Vielleicht auch nicht, und auch das konnte man keinem übelnehmen. Bis vor ein paar Wochen noch hatte er das selber machen können. Für einen fremden Menschen musste es einfach eine Zumutung sein.

      Er hörte, wie die Balkontür im Aufenthaltsraum geschlossen wurde. Die roten Ziffern seines Radioweckers standen auf 21 Uhr 48. Schwester Elisabeth hatte also ihre letzte Zigarettenpause am heutigen Tag beendet. Sie würde gleich noch einmal in sein Zimmer kommen, wie sie es jeden Abend tat, und wie jedes Mal würde er sich schlafend stellen, damit sie endlich mit gutem Gewissen nach Hause zu ihrer Familie gehen konnte. Er hörte ihre Schritte auf dem Flur näher kommen; dann wurde die Tür leise geöffnet. Ein breiter Lichtstrahl fiel in das dunkle Zimmer, und er schloss die Augen. Er hörte, wie die Frau vorsichtig durch das Zimmer schlich und sich hier und da zu schaffen machte, spürte, dass sie eine Zeit lang regungslos neben seinem Bett stand und ihn ansah. Es war ihm einfach peinlich, für sie fast überdeutlich den Lebenden zu spielen, wo ihm doch das Totsein keine Angst mehr machen konnte. Zumindest glaubte er das, und dann entfernten sich ihre Schritte, das Licht verschwand, die Tür wurde behutsam ins Schloss