Thomas Hölscher

Privatsache


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      Vielleicht nicht einmal ein besonders angenehmer; aber immerhin beschrieb er etwas, das sonst schon aus Scham einfach nicht sagbar war.

      Dass das alles so nicht stimmte, dachte er plötzlich und war selber erstaunt, wie aggressiv und zugleich bedrückt und verzweifelt ihn dieser Gedanke machte. Vor mittlerweile über 4 Jahren war seine eigene andere Hälfte in seinem Leben aufgetaucht. Und das nicht als Sinnestäuschung.

      Ganz konkret verfaulten die Überreste dieser anderen Hälfte seit über vier Jahren irgendwo auf einem Friedhof im Bochumer Norden.

      Irritiert und verlegen drehte er an dem Ring, den er seit über vier Jahren an der rechten Hand trug.

      Dann war ihm seine Rührseligkeit peinlich.

      4

      Gegen Abend landete die Maschine in Düsseldorf, und mittlerweile störte es Börner schon, dass die Mehrzahl der Passagiere in geradezu frenetischen Beifall ausbrach, als die Räder des Flugzeugs auf der Landebahn aufsetzten. Was sollte nun auch noch dieser Unsinn! Wurde eigentlich auch gebuht, wenn solch ein Teil abstürzte? Der Pilot tat schließlich nur seine Pflicht, und weshalb sollte man ihm dafür applaudieren?

      Börners Unausgeglichenheit steigerte sich zur Wut, als sich nur wenig später kaum einer der Fluggäste an die mehrfach wiederholte Aufforderung hielt, solange angeschnallt auf den Plätzen zu bleiben, bis die Maschine zum Stillstand gekommen war. Überall sprangen die Leute plötzlich wie auf ein vereinbartes Zeichen hin auf, standen sich in den schmalen Gängen gegenseitig im Weg und kramten Taschen, Jacken und andere Utensilien aus den Gepäckfächern über den Sitzreihen. Börner fand diese Leute geradezu widerwärtig; sie hatten es anscheinend nie gelernt, irgendetwas anderes zu sehen als ihre eigenen Belange. Er blieb nun erst recht sitzen und ärgerte sich anschließend darüber, dass er das Flugzeug als letzter verlassen musste.

      An der Gepäckausgabe konnte er seine Wut dann kaum noch beherrschen. Das Gepäckband war ringsum von einer dichten Menschenmenge umlagert, die sich gegenseitig schubsten, an die Seite stießen und mit ihren Koffern und Taschen drangsalierten. Obschon Börner sehr schnell hinter dem Gewimmel seinen Koffer entdeckt hatte, hielt er es für besser, das Ding noch ein paar Ehrenrunden auf dem gleichgültig vorübergleitenden Gepäckband drehen zu lassen. An diesem albernen Gewühle würde er sich jedenfalls nicht beteiligen.

      Endlich konnte auch er dann seinen Koffer nehmen und ihn gleich anschließend vor einem jungen Zollbeamten öffnen. Börner lachte resigniert: Er hatte es gewusst. Er hatte es einfach gewusst, dass es natürlich ihn treffen würde. Dass er dem Beamten deutlich sagte, was er von solchen Kontrollen hielt, veranlasste den jungen Mann aber offensichtlich nur dazu, nun ganz besonders intensiv zwischen dreckigen Socken, Unterwäsche und Jeans nach sonst was zu suchen.

      Restlos geladen folgte Börner dann den Hinweisschildern zur S-Bahn-Station, verlief sich zweimal, und als er den Bahnsteig endlich erreichte, war der Zug gerade weggefahren. Der Zeiger der großen Stationsuhr wippte auf 20 Uhr 57, und ein Blick auf den Fahrplan machte Börner klar, dass er nun bis kurz vor halb zehn auf die nächste Bahn in Richtung Düsseldorf Hauptbahnhof warten musste.

      Unruhig wanderten seine Blicke durch die S-Bahn-Station. Nichts interessierte ihn hier, überall war nur das, was man auch erwartete und ohnehin schon lange kannte: verdeckte Neonbeleuchtung, orangefarbene Fahrkartenautomaten, farbige Kacheln und riesige Plakatwände. Wer so etwas jeden Tag sah, freute sich schon auf seinen Jahresurlaub in Mallorca, nur um – dort angekommen – gleich bei seiner Ankunft das Gleiche zu sehen: verdeckte Neonbeleuchtung, Fahrkarten und Geldautomaten, farbige Kacheln und riesige Plakatwände.

      Vor allem waren nirgendwo attraktive Männer zu entdecken. Die hatten heute Abend offensichtlich alle etwas Besseres vor als hier herumzusitzen. Dann hatte er die beiden Polizisten entdeckt, die mit der Rolltreppe in die Station kamen und nun langsam am Bahnsteigrand entlang gingen und sich unterhielten. Beide waren noch sehr jung, und vor allem der kleinere sah ziemlich gut aus. Als die beiden an ihm vorübergingen, fing Börner plötzlich an zu lachen. Die meisten Leute versuchten doch, aus dem letzten Hängearsch noch einen knackigen Hintern zu machen; bei der Polizei in NRW schien man sich Mühe zu geben, das Gegenteil zu bewirken. Diese Uniformen waren wirklich der letzte Schrei! Vor allem die Hose des Kleinen war etliche Nummern zu groß, der straff gezogene Gürtel ließ den Unterleib in einem großen ockerfarbenen Sack schlabbern, und der Arsch schien ungefähr in Höhe der Kniekehlen zu hängen.

      Börner stand auf und warf seine Jacke über die Schulter; schon den ganzen Tag schleppte er das Ding mit sich herum, weil er alle wichtigen Papiere darin verstaut hatte. Dabei stieß die Zeitung unter sein Kinn, die immer noch in der Innentasche der Jacke steckte.

      Seit Tagen hatte er sich einfach nicht dazu entschließen können, die Zeitung mit dem Bericht über den Mord im Altenheim wegzuwerfen. Nun war er froh, sich durch nochmaliges Lesen des Artikels von seiner miesen Stimmung ablenken zu können. Die ganze Sache war tatsächlich kaum zu glauben: Da legte ein Achtzigjähriger einen anderen Opa um, weil der ihn angeblich zeitlebens als Schwulen drangsaliert und erpresst hatte. Ganz recht so, dachte Börner, und dann kam ihm seine selbstzufriedene Haltung dumm vor. Wer sagte denn, dass die ganze Geschichte überhaupt der Wahrheit entsprach? Bei diesem Revolverblättchen waren Zweifel schließlich angebracht.

      Aber zumindest das würde er schon herausfinden. Bereits vor Tagen hatte er sich vorgenommen, nachzuforschen, ob diese Geschichte tatsächlich so passiert war, wie sie in dem Zeitungsartikel beschrieben war. Der Tatort lag schließlich in unmittelbarer Nähe seiner Wohnung. Wie das zu tun war, das wusste er zwar noch nicht, aber nun machte es ihm Spaß, sich erste Pläne zurechtzulegen, und plötzlich schien ihm selbst eine Bahnfahrt von Düsseldorf nach Gelsenkirchen etwas zu sein, das man nicht einfach dem Zufall überlassen konnte. Er stand auf und informierte sich anhand der zahlreichen Fahrpläne. Dann war er ärgerlich; er würde erst um kurz vor halb zwölf in Gelsenkirchen ankommen.

      Um kurz vor halb zwölf war er dann nicht nur ärgerlich. Lohnte sich überhaupt irgendeine Anstrengung, um letztlich hier anzukommen?

      Auf den Bahnsteigen war nicht ein Mensch zu sehen. Den fast leeren Zug, der nun aus welchen Gründen auch immer noch bis Haltern weiterfuhr, hatte er als einziger verlassen. Mit der Rolltreppe fuhr er in die ebenfalls menschenleere Bahnhofshalle hinunter. Zwei türkische Jugendliche, die in diesem Augenblick von der Stadtmitte her die Halle betraten, um in die Neustadt – auch Klein-Istanbul genannt - zu gelangen, konnten selbst durch noch so lautes Gegröle kein Leben in diese städtebauliche Scheußlichkeit bringen. Ihr übermütiges Gelächter hörte sich eher an wie ein höhnischer Kommentar.

      Irritiert nahm Börner seinen Koffer und ging los. Zur Haltestelle der Stadtbahn brauchte man wohl erst gar nicht zu gehen. Um diese Zeit fuhr bestimmt keine Bahn mehr. Außerdem hatte er noch etwas vor.

      Er ging über die völlig ausgestorbene Bahnhofstraße. Außer Kaufhäusern gab es hier wirklich nichts. Keine Kneipe, kein Restaurant, gar nichts. Auch als er auf der Ebertstraße in Richtung Musiktheater ging, war weit und breit kein Mensch zu sehen. Nur aus einer Spielhölle kurz vor dem Theater waren Stimmen zu hören. Auch um diese Zeit saßen noch eine ganze Reihe von zumeist jungen Männern vor den blinkenden und klingelnden Automaten und versuchten das, was sie für das Glück hielten. Wenn er es in seiner weiteren Karriere tatsächlich noch zum Bombenleger bringen sollte, dachte Börner, dann würde er bei diesen Spielhöllen anfangen.

      Am Theater bog er nach links. Auf dem Weg zu seiner Wohnung war das zwar ein Umweg, aber in den Grünanlagen hinter dem Theater begann der Kussweg. Noch in Düsseldorf hatte er sich vorgenommen, an dem Altenheim vorbeizugehen, auch wenn nun der Koffer immer schwerer und die Luft empfindlich kühl wurde.

      Er folgte der vierspurigen Overwegstraße, weil er nicht durch die dunklen und verlassenen Anlagen laufen wollte. An der Einmündung der Grenzstraße blieb er einen Augenblick lang stehen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite lag das Polizeipräsidium.

      Hier war er fast anderthalb Jahr lang jeden Morgen treu und brav zum Dienst erschienen. Er war damals beim 1.K. gewesen, zuständig für Kapitalverbrechen, und wenn es so etwas