Thomas Hölscher

Privatsache


Скачать книгу

er die Chance gehabt, ein paar Worte mit einem Menschen zu wechseln, jetzt war es zu spät, nun lagen mindestens acht unerträglich lange Stunden vor ihm. Es würde langweilig, fürchterlich langweilig werden, und das war überhaupt das Schlimmste: diese entsetzliche Langeweile, die man nicht einmal zugeben konnte, wenn man die anderen nicht enttäuschen wollte. Die gaben sich schließlich alle Mühe, um selbst das Sterben erträglich zu machen. Er hörte, wie Schwester Elisabeth die Station verließ und in das oberste Stockwerk ging, wo sich das Personal umkleidete. Gleich würde sie wieder zurückkommen, die Station über das Treppenhaus verlassen, um sich bei der Nachtwache abzumelden, die immer im untersten Stockwerk saß.

      Es ist einfach Zeit, dachte Friedrich Wilmers. Du fällst den anderen nur noch zur Last, sie ekeln sich vor dir, und wenn sie es geschickt verbergen, ist es nur noch schlimmer. Er wollte sich nun einreden, dass es sein innigster Wunsch sei, endlich tot zu sein.

      Das fiel ihm nicht schwer.

      Zuerst kam der stechende Schmerz unter den Hacken wieder. Er versuchte, ihn einfach nicht wahrzunehmen, scheuerte dann aber doch mit den Füßen über das raue Bettlaken, obschon er wusste, dass er genau das nicht machen sollte. Er hatte sich an einigen Körperstellen schon wundgelegen, sie hatten es ihm gesagt, etwas dagegen getan, und zunächst hatte er das alles nicht so ernst genommen, sogar noch Witzchen darüber gemacht. Aber in den letzten Nächten war es dann unerträglich geworden, vor allem an den Füßen.

      Sein Blick ging zum Fenster. Wie mochte es nun draußen aussehen? Nass natürlich und ungemütlich. Trotz der bodenlangen weißen Gardine konnte er sehen, dass sie das Fenster verschlossen hatten, und er wusste, dass er nun das Sauerstoffgerät auf keinen Fall ausschalten konnte. Alleine der Gedanke, in einem völlig abgeschlossenen Raum zu sein, ließ ihn plötzlich nach Luft schnappen. Er musste sich zusammenreißen.

      Vor einer Woche hatte sie seine Frau zu ihm gebracht. Sie war selber schwer herzkrank, lebte aber noch in ihrer Wohnung, weil der Arzt sich geweigert hatte, sie pflegebedürftig zu schreiben. Wenn sie Glück hatte, kam sie ins Krankenhaus, bis sie endlich ein Pflegefall war. Aber so lange konnte er nicht mehr warten und wollte es auch gar nicht. Er wollte plötzlich lachen: Schließlich hatte er jetzt zum erstenmal in seinem Leben ein Einzelzimmer, und er würde es mit niemandem mehr teilen. Ein Einzelzimmer, das das Sozialamt bezahlte; denn wer konnte schon die dreieinhalbtausend Mark im Monat selber aufbringen? Das konnte auch niemand ernsthaft wollen. Für die, die hier wohnten, hatte das Geld seine Bedeutung weitgehend verloren.

      Nachts schien das Haus von einem sonderbaren Leben erfüllt. Es waren Geräusche zu hören, die tagsüber von der sinnlosen Hektik des Betriebs übertönt wurden, und in den endlosen Nächten hatte er mittlerweile eine wahre Meisterschaft darin entwickelt, die verschiedenen Geräusche zu identifizieren: Das leichte Glucksen in der Heizung, wenn die Pumpen das heiße Wasser durch die Röhren drückten, das Öffnen und Schließen verschiedener Türen, das leise Summen im Schwesternzimmer, wenn jemand die Nachtwache rufen wollte.

      Die Schmerzen in den Füßen wurden plötzlich bohrender, und nun begann auch das Zwicken im Rücken wieder. Vorgestern hatten sie ihn darauf aufmerksam gemacht, dass er nun auch am Steißbein eine wunde Stelle hatte, sie hatten Salbe darauf geschmiert und ihm angeraten, sich möglichst oft auf die Seite zu drehen. Er hatte plötzlich Angst, die Geduld zu verlieren: Man konnte es ertragen, wenn eine Stelle des Körpers schmerzte. Wenn es überall zugleich wehtat, würde er es nicht länger aushalten. Und jeder noch so kleine Versuch, sich selber zu irgendeiner Seite zu drehen, würde augenblicklich den brodelnden Vulkan in seiner Lunge zum Ausbruch bringen. Den Tod konnte er sich mittlerweile sogar als einen guten Freund vorstellen; das Sterben aber nicht: die Vorstellung, eines Nachts völlig hilflos an seinem eigenen Schleim qualvoll ersticken zu müssen, war ihm immer noch ein Horror.

      Irgendwann fiel ihm dann der Journalist wieder ein, der morgen wiederkommen wollte, und mit aller Macht klammerte er sich nun an diesen Gedanken. Je stechender der Schmerz wurde, desto mehr versuchte er sich auf den jungen Mann zu konzentrieren, der morgen noch einmal kommen wollte. Vielleicht schafften sie es morgen erneut, ein paar Stunden gemeinsam zu verbringen. Er würde jedenfalls alles daran setzen.

      Obschon, was wollte dieser junge Mann eigentlich noch? Ursprünglich hatte der ihm gesagt, mit Hilfe von Zeitzeugen eine längere Reportage über die Nazizeit für die Zeitung schreiben zu wollen, und er hatte ihn stundenlang ausgefragt. Von fehlender Vergangenheitsbewältigung hatte der Mann geredet, als könne er sich wirklich ein Urteil darüber erlauben, und davon, dass die letzten Zeitzeugen langsam aber sicher verstarben. Es hatte ihm wirklich Spaß gemacht, sich mit dem Mann zu unterhalten, aber aus irgendeinem Grund hatte er alles das von Beginn an nicht ernst nehmen können. Sie hatten über Dinge geredet, die ja doch jeder kannte, über die Machtergreifung, die Zerstörung der Arbeiterorganisationen, Verfolgung, Versuche des Widerstands. Über all das hatte er dem jungen Mann aus der Perspektive eines einfachen Bergmanns auf der Zeche Consol berichtet. Und ihm selber war dabei eines immer klarer geworden: Das alles kannte doch jedermann seit Jahrzehnten, zumindest wenn jedermann es wissen wollte. Das Thema war ausgequetscht wie eine Orange, über die eine Dampfwalze hinweggerollt war. Und was man erzählen konnte, war ohnehin nie das, was wirklich passiert war. Das nahm man mit. Das letzte Hemd hatte zwar keine Taschen; aber das galt nur für das Geld.

      Wirklich erzählt hatte er dem jungen Mann letztendlich ohnehin etwas ganz anderes, und die Erinnerung daran erfüllte ihn plötzlich mit einer tiefen Zufriedenheit. Irgendwann war Opa Wilmers dann eingedöst.

      Es waren immer nur kurze, traumlose Phasen, in denen sich sein Bewusstsein plötzlich abschaltete, zu kurz sogar, um beim verhassten Erwachen die Orientierung verloren zu haben. Jedes Mal war alles schlagartig wieder präsent: der Schmerz, die Angst, dieser Raum, das Gurgeln des Sauerstoffgerätes, die Geräusche des Hauses.

      Und doch hatte sich nun etwas verändert.

      Die Tür war einen Spalt breit geöffnet, das Licht aus dem Flur lief in einem spitzen Winkel über die Zimmerdecke, die Gardine vor dem Fenster bewegte sich leicht. Irritiert sah Wilmers auf die Leuchtanzeige seines Weckers. Es war kurz nach Mitternacht.

      Warum war er plötzlich so aufgeregt? Fast wollte er es genießen, dass er plötzlich so aufgeregt war, aber das gelang ihm nicht. Und dann blieb es dabei: Es hatte sich irgendetwas verändert.

      Die Nachtwache hatte in den letzten Tagen immer erst gegen Morgen nach ihm gesehen. Natürlich nur aus einem einzigen Grund: Sie hatte sehen wollen, ob er noch lebte oder schon tot war. Sie würde wohl Ärger bekommen, wenn erst die Frühschicht den Tod eines Bewohners bemerkte. Es war aber erst kurz nach Mitternacht.

      Nervös drehte er den Kopf nach links und rechts, der Sauerstoffschlauch rutschte unter seiner Nase weg, schien sich plötzlich um seinen Hals zu schlingen und den dringend benötigten Sauerstoff aufzuhalten. "Wer ist denn da?", brachte er mit Mühe heraus, und schon ließ der erste Hustenreiz den Körper verkrampfen.

      Dann war klar, dass sich etwas verändert hatte: Die Schnabeltasse mit Tee, die der Zivildienstleistende ihm jeden Abend auf den Nachtschrank stellte, war umgestoßen worden, und noch immer war das Tropfen der Flüssigkeit auf dem Boden zu hören. "Da ist doch jemand!", rief Wilmers energisch, dann kam der nächste Hustenreiz, und augenblicklich war sein Mund voller Schleim. Es war ein Vulkan, der urplötzlich aus seinem brodelnden Inneren den aufgestauten Schleim nach oben presste und das Atmen unmöglich machte. Er musste die Nachtwache rufen und fingerte nach der Schelle, die irgendwo auf seiner Bettdecke liegen musste.

      Wilmers sah noch die abrupte Bewegung neben seinem Bett, dann war sein sehnlichster Wunsch mit einem Schlag erfüllt.

      Er war tot.

      Um viertel nach zwölf erschien im Schwesternzimmer des untersten Stockwerks ein alter Mann bei der Nachtwache, der behauptete, gerade einen Mitbewohner getötet zu haben. Schwester Ingrid - auch sie war examinierte Krankenschwester und hatte jahrelang in der Psychiatrie gearbeitet - lachte lauthals und überlegte sofort, welches pharmazeutische Mittel dem alten Mann wohl am besten verabreicht werden könnte, um ihn zu sedieren. So sagte man immer, wenn man wollte, dass jemand endlich den Mund hielt und schlief.

      Der Alte bestand aber hartnäckig darauf, dass die Schwester augenblicklich mit ihm in den dritten