Abneigung gegen diese Erinnerungen, und als er sich dann auch noch sagte, dass das alles nun schon über sechs Jahre her war, ging er schnell weiter.
Die Erinnerungen ließen sich nicht verdrängen.
Vielleicht heilte die Zeit ja tatsächlich alle Wunden. Aber dann brauchte man viel Zeit. Sehr viel Zeit.
Er dachte an seinen Kollegen Milewski und glaubte augenblicklich, dass die Zeit keine Wunden heilte.
Langsam überquerte er die Grenzstraße, passierte den Schulhof der Lessing-Realschule und stand dann vor dem Straßenschild, das er heute unbedingt noch hatte sehen wollen: Kussweg.
Börner sah auf seine Armbanduhr. Es war inzwischen zwanzig nach zwölf.
Der Kussweg sah um diese Zeit nicht sehr einladend aus. Nur wenige kleine Laternen beleuchteten den Weg. Auf der rechten Seite lag das Altenheim. Der gesamte Komplex schien wie ausgestorben; nur in der Empfangshalle, in die man durch den Hintereingang sehen konnte, brannte noch Licht. Zu sehen war niemand.
Hier war also der Tatort.
Der Klang des Wortes schien ihm plötzlich viel zu harmlos, überhaupt nicht geeignet, das auszudrücken, was er empfand. Allein das Wissen, dass genau hier ein Kapitalverbrechen verübt worden war, hatte ihn immer fasziniert.
Immer wieder ließ Börner seine Blicke über die dunkle Häuserfront streichen. Schließlich ließ er den Koffer auf dem Weg stehen und ging auf den Eingang zu. Noch einmal vergewisserte er sich, dass im Inneren des Hauses kein Mensch zu sehen war, dann drückte er die Klinke der Tür vorsichtig nach unten.
Die Tür war nicht verschlossen.
Als er Stimmen im Haus hörte, zog er die Tür schnell wieder ins Schloss, nahm seinen Koffer und ging weiter. Mehrfach blickte er sich um, weil er sich plötzlich einredete, dass ihm jemand folgte. Er war froh, als er endlich die Grillostraße erreicht hatte. Er bog nach rechts, und an der Kreuzung mit der Kurt-Schumacher-Straße blieb er stehen. Die Ampel zeigte Rot, aber weit und breit war kein Auto zu sehen.
Die Gleise der Straßenbahn auf der Berliner Brücke leuchteten matt im Neonlicht der Straßenlaternen. Irgendwo da auf der linken Seite lag der Schalker Markt, von dem nichts mehr geblieben war als seine Geschichte. Ein kleiner, verwahrloster Platz, halb unter dieser Hochstraße versteckt, die den Verkehr über ein riesiges Industriegelände führte.
Schalke brachte ihn schließlich wieder auf andere Gedanken.
In dieser Saison mussten sie die Rückkehr in die erste Liga einfach schaffen, sonst war es zu spät. Er nahm seinen Koffer und überquerte die menschenleere Straße. In der nächsten Saison kamen schließlich die Vereine aus der DDR hinzu. Wenn Schalke durch die nicht in die 1.Liga kommen sollte, dann musste man sich das mit der deutschen Einheit aber wirklich noch mal in Ruhe überlegen. Endlich hatte er die Leipziger Straße erreicht und stand vor seiner Wohnungstür.
Die Ankunft war dann genau so, wie er sich das auch vorgestellt hatte: Die eigene Wohnung, die er in den vergangenen drei Wochen oft genug vermisst hatte, machte ihn sofort verrückt. Wohin er auch kam, Richard Börner war anscheinend immer schon da! In weiser Voraussicht hatte er vor über drei Wochen einen Kasten Bier gekauft, den er nun gleich zur Hälfte niedermachte. Dabei blätterte er immer und immer wieder die vor seiner Wohnung gestapelten Tageszeitungen durch, als müsse ihm schon längst ein wichtiges Detail entgangen sein.
Das Ergebnis blieb aber enttäuschend. Nun wusste er zwar, dass der Mord im Altenheim tatsächlich am 20.April geschehen war, aber der ganze Rest der Geschichte stimmte anscheinend nicht. Vor allem wurde mit keinem Wort erwähnt, was ihn von Beginn an an dieser Sache interessiert hatte. Da war überhaupt nur diese dürre, fast lächerlich wirkende Notiz im Lokalteil vom 23. April: Am vergangenen Freitag kam es im Altenheim an der Schalker Straße zu einem außergewöhnlichen Mordfall. Ein 80jähriger Bewohner tötete einen ungefähr gleichaltrigen Mitbewohner mit einem Hammer. Die Polizei steht, was das Motiv der Tat betrifft, vor einem Rätsel.
Als Börner endlich völlig betrunken in sein Bett fiel, war es bereits fast sechs Uhr. Draußen war es längst hell geworden, und ein Maitag hatte begonnen, wie man ihn sich schöner nicht vorstellen konnte.
Morgen würde er den ganzen Fall schon auflösen, dachte Börner.
Er fiel in einen nur oberflächlichen Schlaf. Mehrfach wurde er wach und fragte sich jedes Mal, ob er tatsächlich geträumt hatte von dem, was an seinem letzten Abend auf Mallorca angeblich passiert war.
Er war in sein Hotelzimmer zurückgekehrt und hatte sich mit allen noch verfügbaren Resten betrunken. Dann war er in das Hotel an der Cala Ferrara gegangen, war dort zunächst wahllos durch das riesige Gebäude gelaufen, bis endlich Bewohner das Personal an der Rezeption auf einen etwa 30 bis 40 Jahre alten Mann aufmerksam gemacht hatten, der anscheinend völlig betrunken durch das Haus lief und sich an allen Türen des Gebäudes zu schaffen machte: Mittelgroß, schlank, dunkle Haare, Oberlippenbart. Das Personal hatte den Mann schließlich aufgegriffen und zur Rede gestellt: Seinen Freund suche er, hatte der Mann gesagt und diesen Freund auch beschreiben können: Mittelgroß, schlank, dunkle Haare, Oberlippenbart. Sogar den Namen hatte er nennen können: Tim heiße der. Tim Neubauer.
Und bei jedem Erwachen wusste Börner wieder, dass alles das nicht angeblich passiert war: Nie würde er den Augenblick vergessen, als zwei Angestellte ihn schließlich mit Gewalt aus dem Haus geworfen hatten. Vor allem nicht die teils mitleidigen, zumeist aber höhnischen Blicke der Hotelgäste, für die sein Auftritt ganz sicherlich das Highlight ihres Urlaubs gewesen war.
Er hasste solche Leute.
Vielleicht war es dennoch nur die Scham gewesen, die ihn schließlich veranlasst hatte, auch das eigene Hotelzimmer bereits Stunden vor der Abfahrt des Busses zum Flughafen zu verlassen. Mit seinem Gepäck hatte er in aller Herrgottsfrühe am Strand der Cala Ferrara gesessen und stundenlang das Hotel beobachtet, auf dessen Balkon er den Mann gestern gesehen hatte. Erst als er hatte befürchten müssen, den Bus zum Flughafen zu verpassen, hatte er sich mit seinem Gepäck auf den Weg gemacht.
Mit blauer Sprühfarbe musste in der vergangenen Nacht jemand auf die zum Ort führenden Treppenstufen etwas geschrieben haben; er glaubte mit Sicherheit sagen zu können, dass das Geschreibsel am vergangenen Abend dort noch nicht gewesen war: Es wäre ihm auf jeden Fall aufgefallen:
Cada momento es unico
No hay instantes vacias
Y las horas pasan
Como minutos a tu lada
Auch mit großem Latinum war ihm nicht gänzlich klar, was dieser Text bedeutete; er würde auf jeden Fall in einem spanischen Wörterbuch nachschlagen.
5
Schon immer waren Börners Probleme für seinen Ex-Kollegen Volker Milewski völlig unbegreiflich gewesen. Auch nach Alcudia wäre der nie gefahren, weil da zu wenig los war, und einen gewissen Chopin hätte er bestenfalls als französischen Weichkäse identifiziert.
Außerdem fuhr Milewski überhaupt nicht mehr nach Mallorca. Dorthin war er vor 15 und mehr Jahren mal gefahren; heute traf man doch da seine Putzfrau, und damit hatte das Ganze einfach kein Niveau mehr. Milewski plante Urlaube in Kenia, Australien oder Sri Lanka. Das war natürlich auch eine Frage des Geldes, aber davon hatte Milewski genug. Er arbeitete zwar noch bei der Polizei, aber mittlerweile hatten seine Kollegen recht, wenn sie behaupteten, dort verdiene er nur ein kleines Taschengeld. Der Hof in Erkenschwick, den seine Frau vor ein paar Jahren geerbt hatte, brachte nun endlich das, was sie sich von Beginn an davon versprochen hatten: eine Menge Geld. Mittlerweile besaßen sie mehrere Tennisplätze, eine Reithalle, ein Restaurant. Es war eben alles nur eine Frage des unternehmerischen Einsatzes. Heute konnte Milewski über seine früheren Bedenken nur noch lachen: Wenn man erst mal etwas hatte, musste man investieren, und irgendwann konnte man gar nicht mehr verhindern, dass sich das Geld wie von selbst vermehrte. Fünf Angestellte konnte sein Hof mittlerweile beschäftigen; im Sommer würden sie ein paar zusätzliche Arbeitskräfte benötigen.
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