Thomas Hölscher

Privatsache


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aus Erfahrung wusste, dass man verwirrten alten Menschen nicht widersprechen sollte, redete sie nur beruhigend auf den alten Mann ein, nahm von dem Alten unbemerkt ein Röhrchen Valium aus dem Medikamentenschrank, setzte ihn schließlich in einen Rollstuhl und fuhr mit ihm in den dritten Stock.

      Sekunden später fand Schwester Ingrid gar nichts mehr zum Lachen.

      In der folgenden halben Stunde erwachte das Haus zu einem für die Tageszeit völlig ungewohnten Leben: Die Besatzungen zweier Streifenwagen erschienen als erste, die Kollegen von der Kripo nur wenig später. Schwester Ingrid informierte auch die Stationsschwester, dann die Heimleitung, und gegen kurz vor eins glich die Station im dritten Stock des Seniorenzentrums am Kussweg einem Tollhaus.

      Es ging drunter und drüber, es wurde ein unglaublicher Lärm gemacht. Und letztlich verband doch alle Anwesenden auch etwas in diesem Chaos: Niemand konnte fassen, was da geschehen war.

      Ein 80jähriger Mann, der seit fast zwei Jahren schon zusammen mit seiner Frau in dem Pflegeheim wohnte, hatte den 79jährigen Mitbewohner Friedrich Wilmers durch mehrere Hammerschläge auf den Kopf getötet. Er gab lediglich an, durch diese Tat eine uralte Rechnung beglichen zu haben. Und das Motiv war nur eines der vielen Details, die an diesem Abend im unklaren bleiben sollten. Es war schon kaum zu erklären, wie der als bettlägerig geltende Mann den Weg von seinem Zimmer bis zu seinem Opfer zurückgelegt haben konnte.

      Und schließlich wusste niemand mehr weiter. Konnte man einen solchen Mann überhaupt festnehmen? Und wenn ja, wie? Mitsamt Krankenbett ins Präsidium rollen? Hauptkommissar Hebemann, erst seit einem knappen Jahr Leiter der Gelsenkirchener Mordkommission, war jedenfalls am Ende mit seinem Latein. Der anwesende Arzt überflog die Krankenakte des Mannes, wechselte ein paar Worte mit der Stationsschwester und lachte dann: "Ich glaube kaum, dass hier eine Fluchtgefahr besteht. Der haut Ihnen nicht mehr ab. Höchstens nach oben."

      Hauptkommissar Hebemann verstand nicht und bestand irritiert auf einer exakteren Klärung.

      "Dieser Mann ist todkrank. Er wird in den nächsten Tagen oder Wochen sterben", präzisierte der Arzt.

      "Dass die aber auch nicht warten können, bis sie dran sind!", sagte ein anderer Kripobeamter, ein riesiger blonder Kerl, der schon die ganze Zeit sehr offensichtlich mehr Interesse für Schwester Ingrid als für diesen ungewöhnlichen Fall gezeigt hatte. Aber auch über dieses Scherzchen konnte niemand lachen.

      Erst nach über zwei Stunden fiel das Haus wieder in die gewohnte Ruhe zurück; nur an Schlaf konnte kein Mensch denken.

      Die Bewohner ohnehin nicht. Sie waren nur ruhig, weil das von ihnen erwartet wurde. Es war schließlich immer so, wenn einer starb: Sie wollten verhindern, dass die anderen es mitbekamen, und weil sie sich dabei so anstrengen mussten, bekam man es natürlich immer mit.

      Aber in dieser Nacht war es tatsächlich ungewöhnlich laut gewesen.

      3

      Can Picafort war wirklich das Letzte!

      Börner hatte den Leihwagen an der breiten Hauptstraße nach Alcudia abgestellt, war durch ein schachbrettartig angeordnetes Sammelsurium nichtssagender Gebäude zur Abwicklung von Massentourismus gelaufen und ging nun die Strandpromenade entlang. Vor ihm lag der weite Bogen der Bucht von Alcudia, links und rechts umschlossen von hohen Bergen, deren Ausläufer weit ins Meer hinausragten und sich im Dunst verloren; strahlend blauer Himmel, türkisfarbenes Wasser, und das einzige, was störte, war dieses Can Picafort. Aber das tat es massiv.

      Der Strand war nur wenige Meter breit und soweit man sehen konnte mit sonnenhungrigen Touristen belegt. Eine kaum kniehohe Mauer trennte den Strand von der Promenade, die fast überall durch die Terrassen der zumeist riesigen, direkt ans Meer gebauten Hotels verstellt war. Scharen halbnackter Menschen saßen an kleinen Tischchen, tranken irgendetwas oder stopften in der Mittagshitze Berge von Essen in sich hinein und schauten dösig und gelangweilt in die wunderschöne Gegend. Aus den zum Meer hin offenen Bars und Restaurants dröhnten hemmungslos die Schlager der Saison und mischten sich auf der Promenade zu einem kaum erträglichen Lärm. Auf großen Schildern wurde auf deutsch und englisch angepriesen, was noch gegessen, getrunken und unbedingt noch erlebt werden musste. Gelegentliche Hinweise in der Landessprache gaben der Szenerie etwas Exotisches und sollten den Menschen wahrscheinlich nur das Gefühl vermitteln, tatsächlich Urlaub im Ausland zu machen.

      Nach nur wenigen Minuten wollte Börner weg. Egal wohin, nur weg hier.

      Er lief zum Wagen zurück, konnte aber wegen der unglaublichen Hitze darin nicht sofort einsteigen, sondern musste einen Augenblick beide Türen aufsperren, dann fuhr er los.

      Weshalb war er überhaupt nach Mallorca gekommen? Ihn musste der Teufel geritten haben! Er hatte zu allem Überfluss auch noch eines der angeblichen Sonderangebote der Vorsaison gebucht: zwei Wochen zahlen, drei Wochen bleiben. Wütend sah er auf den Kalender seiner Armbanduhr, aber der hatte sich seit heute morgen, als Börner das letzte Mal ungeduldig auf das Datum geschaut hatte, noch kein Stück bewegt: Noch immer war es Montag, der 30.April 1990, und keinen Tag später. Eine Woche musste er noch aushalten, obschon es ihm mittlerweile lieber wäre, diese eine Woche zu bezahlen und dafür sofort nach Hause fliegen zu dürfen.

      Er trat energisch auf das Gaspedal, und der lahm gefahrene Leihwagen, ein Corsa mit leicht verbeulter Motorhaube, beschleunigte langsam auf fast 120. Links und rechts der Straße zogen bald ausgedehnte Kiefernwälder vorbei, auf der rechten Seite waren in dem lichten Grün hohe Sanddünen zu erkennen. Er verringerte die Geschwindigkeit wieder. Es tat gut, diese hässliche Ansammlung von Hotels, Bars und voll gefressenen Menschen nicht mehr zu sehen.

      Bereits nach ein paar Tagen seines sogenannten Urlaubs hatte ihn der Mechanismus eingeholt, der ihn auch zu Hause kaputt machte: Er nahm sich vor, sich zu ändern, bewusster zu leben, sinnvolle Dinge zu tun, aber es dauerte nie lange, und alles schlug um in die Beliebigkeit, war plötzlich völliger Unsinn. Er hatte sich sogar Bücher über Mallorca gekauft, sich informiert, Pläne gehabt: auf organisierten Rundfahrten hatte er sich erzählen lassen, wann welcher Ort von wem und warum gegründet worden war, weshalb hier Steineichen und Pinien, dort aber Mandelbäume, Oliven und Johannisbrotbäume wuchsen, Antworten auf Fragen erhalten, die er sich noch nie gestellt hatte. Und jedes Mal hatte er es ganz plötzlich satt gehabt. Sollten sie doch hier anbauen, was sie wollten, er wusste doch nicht mal, wie diese blöden Dinger überhaupt aussahen, und es interessierte ihn auch nicht die Bohne. Den idyllischen Zufluchtsort von Chopin und seiner Geliebten, der Schriftstellerin George Sand, hatte er ebenfalls mit dem Leihwagen besucht, aber schon auf dem Weg nach Valldemosa hatte er nicht mehr gewusst, was er da eigentlich sollte. Sein Verhalten war ihm schließlich völlig idiotisch vorgekommen, weil er so krampfhaft nach Sinn suchte, wo doch alles Firlefanz war. Nach Geschichte, wo alles so unübersehbar und unausweichlich ein aufgeblasenes und völlig überflüssiges Heute war.

      Insgeheim wusste er auch schon, dass er heute nicht mehr wie geplant nach Alcudia fahren würde. Und dann mussten auch nur noch die ersten Häuser der stark zersiedelten Umgebung von Port de Alcudia auftauchen, und Börner kehrte um. Er hatte es satt und wollte zurück nach Cala d'Or. Der Ort lag im Südosten der Insel, die Fahrt würde sicherlich eine Stunde in Anspruch nehmen. Vor ein paar Wochen hatte ein starkes Unwetter die Insel heimgesucht und auch einige Straßen unpassierbar gemacht.

      Nur sein Hotelzimmer hatte ihn überrascht. Da ließ es sich aushalten. Von seinem Balkon im zehnten Stock konnte er sogar das Meer sehen. Gebucht hatte er Übernachtung und Frühstück, auf das er aber jeden Tag verzichtete. Ihm waren die Leute einfach zuwider, die sich auf das Büffet stürzten, als hätten sie wochenlang nichts zu essen bekommen. Außerdem hatte er Angst, die anderen Gäste würden seine Fahne bemerken, die er morgens immer hatte. Er nahm sich zwar jeden Tag vor, heute mal ausessen zu gehen, aber er tat es nie. Jeden Tag ging er in einen anderen der zahlreichen Supermärkte und deckte sich mit reichlich Alkohol für die langen Abende ein, die er ausnahmslos auf seinem Balkon im zehnten Stock verbrachte, wo er sich dann einredete, der Urlaub tue ihm wirklich gut. Nur ab und zu hasste er die vielen Menschen, deren ausgelassener Lärm meist bis weit nach Mitternacht aus dem Ort zu ihm drang.

      Am schlimmsten war