Thomas Hölscher

Privatsache


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Familie den damals angeblich 15jährigen als den eigenen Sohn bezeichnet und aufgenommen hatte. Das türkische Konsulat hatte mitgespielt; nach eingehender Prüfung war Mehmet ein Sohn der Familie Yilmaz aus einem klitzekleinen Dorf irgendwo in Anatolien.

      Das türkische Konsulat in Düsseldorf spielte eigentlich immer mit. Meistens ging es allerdings darum, das Alter türkischer Mädchen heraufzusetzen, damit diese nicht mehr der deutschen Schulpflicht unterlagen, sondern der Mutter endlich im Haushalt und bei der Versorgung der jüngeren Geschwister behilflich sein konnten. Man entsprach damit schließlich auch nur einer Entwicklung, die sich im Heimatland ebenfalls seit einigen Jahren immer mehr durchsetzte: Jeder kannte Mohammed. Wer war schon Kemal Atatürk?

      Seit Mitte 1988 lebte Mehmet bei der befreundeten Familie und hatte mittlerweile einen Job als Hilfsarbeiter in einem Stahlwerk gefunden.

      Der junge Mann war in keiner Partei, nicht in der Gewerkschaft, und er wusste nicht einmal genau, was das Wort Betriebsrat eigentlich bedeutete; und doch galt er sehr schnell als politischer Störenfried mit abstrusen Ideen, der das Arbeitsklima im Betrieb erheblich verschlechterte, da sich vor allem seine angeblichen Landsleute sehr schnell weigerten, mit ihm überhaupt noch zusammenzuarbeiten.

      Dabei erzählte Mehmet gelegentlich nur die Geschichte seiner wirklichen Familie. Vom Vater, der irgendwann verhaftet worden war und seitdem aus unerfindlichen Gründen in irgendeinem Gefängnis saß; von der Mutter, die mit den acht Kindern in die nächste Stadt gezogen war, wo man schon mit einem Bein im Gefängnis stand, wenn man nur die eigene Sprache sprach. Aber niemand - weder deutsche noch türkische Kollegen - wollte derart traurige Geschichten hören. Es gab allerdings genügend Leute, deren einzige Aufgabe offensichtlich darin bestand, das Erzählen derartiger Geschichten zu verhindern.

      Zweimal war der junge Mann in den letzten Wochen bei der Polizei gewesen und hatte ausgesagt, massiv bedroht worden zu sein für den Fall, dass er noch einmal den Mund aufmachte. Er hatte auch einen Namen genannt: die Männer, die ihn unter Druck setzten, gehörten den Grauen Wölfen an, einer türkischen Faschistenorganisation, die immer unverschämter dazu überging, solche Landsleute in der Bundesrepublik völlig ungehindert zu drangsalieren, deren politische Auffassungen ihr nicht passten. Politisches Engagement galt überhaupt als großer Fehler; Kurde zu sein war anscheinend Hochverrat.

      Obschon er beide Male deutlich zum Ausdruck gebracht hatte, dass er Angst habe, hatte die Polizei den jungen Mann schnell abgewimmelt. Es liege schließlich keine Straftat vor, und somit könne man auch nichts für ihn tun. Was die Beamten nicht sagten, war, dass es ihnen ohnehin völlig wurst war, wenn sich da irgendwelche Ausländer gegenseitig die Schädel einschlugen.

      Und Graue Wölfe? Was war das denn? Waren das nicht diese ausgeflippten Alten, die jetzt auch noch eine politische Partei gegründet hatten, weil sie weichere Betten und eine Stunde länger Fernsehen im Altenheim durchsetzen wollten?

      Der Staatsanwaltschaft war dieser Name natürlich durchaus geläufig; es war schließlich nicht umsonst ein dunkelgrauer Mercedes am Abend des 8.Mai in die Provinz nach Gelsenkirchen geschickt worden.

      Und natürlich wusste man dort auch, dass der junge Mehmet Yilmaz mit seiner Einschätzung völlig recht hatte. Er hätte auch getrost behaupten können, dass sogar der türkische Geheimdienst völlig ungeniert in der Bundesrepublik operierte, um die eigenen Landsleute zu überwachen und nötigenfalls zu schikanieren. Auch damit hätte er recht gehabt. Nur konnte man so etwas eben nicht zugeben und schon gar nicht an die Öffentlichkeit bringen. Die Türkei war schließlich ein befreundeter Staat, war ebenfalls in der Nato und somit jederzeit bereit, die Werte der westlichen Welt zu verteidigen und zu diesem Zweck eine Unmenge Waffen auch in der Bundesrepublik zu kaufen.

      Man musste also zunächst einmal alles ganz genau überprüfen, nichts durfte überstürzt werden.

      Das erste Ergebnis dieser Überprüfung war dann auch gleich sehr befriedigend. Der junge Mann war ja eigentlich illegal in die Bundesrepublik gekommen, er war gar nicht der Sohn der Familie, bei der er seit drei Jahren wohnte. Letzte Zweifel über diesen Punkt waren durch eine kurze Kontaktaufnahme mit dem türkischen Konsulat schnell ausgeräumt.

      Und damit war dieser Fall für die Staatsanwaltschaft schneller erledigt, als man es hatte erhoffen dürfen.

      Für seine Freunde war damit der junge Mann erledigt.

      Es gab nun mehrere Varianten, wie die Bürokratie zum Endsieg ausholen konnte, aber wahrscheinlich würde man kurzen Prozess machen: Er würde die Aufforderung erhalten, die Bundesrepublik umgehend zu verlassen, und selbst wenn er um politisches Asyl bitten sollte, dann würde ein solches Vorgehen das Ende nur herauszögern. Aus bekannten Gründen konnte man als türkischer Staatsbürger in der Bundesrepublik wohl kaum als politisch Verfolgter angesehen werden.

      Das Ende sah in der Phantasie des jungen Mannes immer gleich aus: Er würde in ein Flugzeug Richtung Türkei gesetzt, und nach der Landung in Ankara, Istanbul oder Izmir würden sie spätestens unten an der Gangway schon auf ihn warten. Er würde nicht mehr auftauchen. Wenn er Glück hatte, vielleicht noch als Name auf einem Flugblatt von Amnesty International.

      Es sei denn, er würde sich wehren.

      Aber dafür war Mehmet Yilmaz gar kein Typ.

      Er war ein überaus liebenswerter Mensch, der nur einen Fehler hatte: er erzählte Geschichten, ohne sich vorher zu überlegen, ob andere diese Geschichten hören wollten oder nicht.

      Er war überhaupt viel zu naiv.

      8

      Für die Zeitung hatte Börner am Morgen des 10.Mai so gut wie gar kein Interesse. Er hatte Ärger, und das nicht zu knapp.

      Vor zwei Tagen war offensichtlich nicht nur der Schlauch seiner Waschmaschine geplatzt, sondern einigen seiner Nachbarn auch der Kragen. Sie hatten ihn eigentlich immer gemieden, aber nun taten sie es mit Bedacht. Außerdem hatten sie dem Vermieter offensichtlich nicht nur die Überschwemmung der Wohnung gemeldet, sondern auch deutlich zu verstehen gegeben, dass die Kündigung des Mieters Richard Börner auf das allergrößte Verständnis der übrigen Hausbewohner stoßen würde: der Kerl sei andauernd betrunken, außerdem schon lange arbeitslos und habe sehr häufig den seltsamsten Besuch. Sie wolle ja niemanden in die Pfanne hauen, hatte eine Frau den Vermieter sogar telefonisch wissen lassen, aber dass der Kerl homosexuell und deshalb vor sechs Jahren auch bei der Polizei bereits rausgeflogen sei, das wisse doch nun wirklich jeder.

      Börner war über diese Dinge informiert. Am gestrigen Abend hatte er dem Vermieter den Schaden melden wollen, damit die Sache nur möglichst schnell vom Tisch war. Es war ein langes Telefonat geworden, und was er dabei alles erfahren hatte, das hatte ihn schlichtweg umgehauen. Bis gestern Abend war seine Wohnung für ihn immer eine Art letzte Zuflucht gewesen, wo er unbehelligt von anderen tun und lassen konnte, was er wollte. Er hatte sich anscheinend geirrt.

      Eine ganze Weile hatte er geglaubt, sich die Vorwürfe und Unterstellungen gar nicht länger anhören zu müssen. Niemand hatte es nötig, sich so etwas sagen zu lassen. Dann dachte er schließlich an die Kosten, die er verursacht hatte und für die keine Haftpflicht aufkam, und dann hielt er es für ratsamer, sich zunächst einmal so etwas doch sagen zu lassen. Er hatte den Vermieter allerdings um ein klärendes Gespräch gebeten, zu dem dieser überraschenderweise auch sofort bereit gewesen war. Natürlich, gleich morgen um 11 Uhr sollte Börner bei ihm vorbeikommen.

      Er hatte den Mann noch nie gesehen. Seit er vor rund 15 Jahren die Wohnung in der Leipziger Straße bezogen hatte, war alles Notwendige schriftlich oder telefonisch erledigt worden. Es musste 1974 gewesen sein, dass er nach Schalke gezogen war. Er hatte die Wohnung damals genommen, weil sie in unmittelbarer Nähe des Abendgymnasiums lag, auf dem er schließlich sein Abitur nachgeholt hatte. Börner lachte zynisch bei diesen Erinnerungen: Mein Gott, das waren noch Zeiten gewesen! Da hatte er noch hehre Ziele gehabt! Es war lange her, sehr lange.

      Als er losging, schaute er noch einmal auf die Adresse. Es war und blieb die Hohenzollernstraße in Gelsenkirchen-Bulmke, eine Gegend, die er doch eigentlich sehr gut kannte. Den ganzen gestrigen Abend war er im Geiste diese Straße mehrfach