man die vierspurige Overwegstraße erst überquert, wird die Gegend ruhig wie ein vergessenes Abstellgleis. Zumindest was den Verkehr betrifft. Zur linken ein Schulgebäude, das mit seinen hellen Kacheln und immer schmutzigen Alufenstern aussieht wie die meisten deutschen Schulen: eine gemeine Mischung aus Gemeinschaftsdusche und Bahnhofsklo. Auf der rechten Straßenseite eine Häuserzeile, ein Sammelsurium von Koloniehäusern aus rotem Backstein und Mietshäusern im Stil der Gründerzeit.
Die Erinnerung an vergangene Zeiten war aber weitgehend schon herunter gekommen. Die ursprünglichen Konturen der Fassaden waren meist nur noch zu erahnen, überall platzte der Putz ab, die roten Ziegel waren schon lange schwarz, der Zement dazwischen tief ausgewaschen. Die hölzernen Fensterrahmen zeigten oft nur noch Spurenelemente der Lackfarbe, die irgendjemand irgendwann einmal darauf gestrichen hatte. Gardinen und Fensterschmuck hatten, wenn überhaupt vorhanden, den Charme der frühen 50er Jahre.
Aber hier herrschte Leben. Vor den zumeist offen stehenden Haustüren standen die Leute und unterhielten sich, eine Unmenge von Kindern tobte auf der Straße. Es waren unübersehbar Ausländer.
Typisch undeutsches Idyll, dachte Börner. Jedem mittelprächtigen deutschen Spießbürger würde bei diesem proletenhaften Lärm augenblicklich die Galle platzen.
Er war inzwischen müde, setzte sich auf die Stufen des Schuleingangs und sah den Kindern zu, die auf dem Bürgersteig und der Straße herumtobten und sich um die Erwachsenen ganz offensichtlich einen Scheißdreck kümmerten.
Und dann ging alles blitzschnell.
Wegen der quietschenden Reifen hatte er zunächst an einen Unfall in der Kreuzung oder einen jugendlichen Raser geglaubt, aber dann hielt der Wagen auch schon dicht vor ihm, irgendein alter großer Opel, cremefarben, schon stark verrostet. Mehrere Männer saßen darin, die Beifahrertür wurde aufgerissen, ein wahrscheinlich junger, vermummter Mann stürzte heraus, warf irgendetwas in Richtung des gegenüberliegenden Hauses und lief sofort zum Wagen zurück. Das Splittern von Fensterscheiben war zu hören, und plötzlich schlugen riesige Flammen aus der Wohnung im Untergeschoss. Börner sprang entsetzt auf, und in diesem Augenblick raste der Wagen mit quietschenden Reifen los. Das Fahrzeug hatte keine Kennzeichen.
Mit einem Schlag war die Idylle zerstört. Plötzlich schrieen die Menschen, Schaulustige kamen von überall her angerannt. Wie angewurzelt stand Börner auf dem Bürgersteig und sah auf das zerstörte Fenster, aus dem nun dichter Rauch quoll und nur noch vereinzelt Flammen züngelten.
Dann wollte er nur noch weg.
Ganz plötzlich war diese Idee in seinem Kopf gewesen: er durfte auf keinen Fall hier stehen bleiben. Es war klar, was nun geschehen musste: In ein paar Minuten mussten Polizei und Feuerwehr erscheinen, man würde vor allem nach Zeugen des Anschlags suchen. Wenn man einmal seine Personalien angegeben hatte, musste man auch mit einer Vorladung ins Präsidium rechnen.
Und da wollte er auf keinen Fall hin. Er wollte die ehemaligen Kollegen nicht wiedersehen. Keinen einzigen. Vor allem sollten die ihn nicht mehr sehen. Und angetrunken schon gar nicht. Sie würden natürlich Fragen stellen: Na, was machst du denn jetzt eigentlich? Was sollte er sagen? Und was hatte er schließlich mit den Problemen von Türken zu tun?
Er wünschte sich nur, dass es keine Neonazis war. Diese Knallcharge mit Glatze und Springerstiefeln hasste er wie die Pest. Dass er die Türken besonders in sein Herz geschlossen hätte, konnte er allerdings auch nicht gerade behaupten. Vor allem machte ihn das Geschwätz irgendwelcher sich progressiv gebender Deutscher wütend, die so taten, als handele es sich bei denen um so etwas wie eine aussterbende Spezies, die man unter Naturschutz stellen musste. Das Gegenteil war ganz offensichtlich der Fall. Und vielleicht war es ja so, dass die ersten gekommen waren, um die Arbeiten zu machen, die die Deutschen nicht mehr hatten machen wollen; aber von deren Kindern und Kindeskindern konnte man das nicht mehr unbedingt behaupten. Die verursachten vor allem Probleme. Du redest ja selber schon wie ein Nazi, hatte ihm vor kurzem irgendeine exaltierte Tunte in einer Schwulenkneipe in Essen ganz entsetzt vorgeworfen, und er war vor Wut fast explodiert: Hast du dir eigentlich schon mal überlegt, was die mit so Toleranz-Homoletten wie dir machen würden, wenn sie das Sagen hätten? Die Schwuchtel hatte sich empört von ihm abgewandt; vor allem aber hatte sie über eine Antwort auf seine Frage wohl noch nie nachgedacht.
Über die Grillostraße ging er zügig zu seiner Wohnung zurück. Bereits an der Einmündung des Kusswegs hörte er die Sirenen der Feuerwehr, dann raste ein Polizeiwagen mit Blaulicht an ihm vorüber.
Er konnte seine Nervosität kaum noch ertragen. Wenn ihn nun jemand dort hatte sitzen sehen? Ihn als verdächtige Person beschrieb oder sogar gekannt hatte? Es war nicht auszudenken. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, am Tatort zu bleiben. Er glaubte, jeden Augenblick zu zerplatzen.
Als er wenige Minuten später nach Hause kam, hatte der Schlauch seiner Waschmaschine genau das schon längst getan. Die ganze Wohnung war unter Wasser gesetzt worden.
Die Nachbarn hatten die Tür zu seiner Wohnung von der Feuerwehr aufbrechen lassen. Einige von ihnen standen immer noch im Hausflur zusammen und ereiferten sich über die Ungeheuerlichkeit, die dieser undurchschaubare und letztlich fast unheimliche Mitbewohner da angerichtet hatte. In ziemlich barschem Ton klärte ein älterer Mann ihn über das auf, was passiert war, und Börner nickte nur. "Na bitte!", hörte er die zischelnde Stimme einer Frau. "Der ist doch schon wieder besoffen."
Er fühlte eine irrsinnige Wut in sich hochsteigen. "Leckt mich doch alle mal am Arsch!", wollte er schreien und die Wohnungstür mit einem lauten Knall hinter sich zuschlagen.
Beides ließ er bleiben. Es hätte ohnehin niemand geleckt, und außerdem war das Türschloss von der Feuerwehr aufgebrochen worden.
Das konnte ja heiter werden.
7
Am übernächsten Tag konnte man in den Lokalteilen der meisten Tageszeitungen nachlesen, was an jenem Abend in der Grillostraße geschehen war: Bisher unbekannte Täter hatten am Abend des 8.Mai 1990 einen Brandsatz in die Wohnung eines türkischen Gastarbeiters in der Grillostraße in Schalke geworfen. Die Wohnung war völlig ausgebrannt, das Haus hatte vorübergehend evakuiert werden müssen, und erst nach über einer Stunde hatte die Feuerwehr den Brand unter Kontrolle bringen können.
Für derartige Meldungen stellten die Zeitungen in aller Regel keine eigenen Recherchen an, sondern brachten - sprachlich leicht variiert - das, was dem offiziellen Polizeibericht ohnehin zu entnehmen war.
Niemand widersprach der Darstellung des Geschehens in der Zeitung.
Die meisten Leser empfanden es ohnehin fast als Zumutung, wenn neben den interessanten Artikeln über Kaninchen- und Taubenzüchter, Bürgermeister und Stadtdirektoren, lokale Karnevalsprinzen und Schützenkönige auch noch berichtet wurde, dass da irgendeinem Türken ein Molotow-Cocktail in die Bude geworfen worden war.
Andere hielten den Mund, weil sie kein Interesse an der Wahrheit und außerdem noch die Macht hatten, die Wahrheit nicht an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen.
Die wirklich Betroffenen hatten einfach Angst.
Dabei war der Aufwand zur Klärung des Geschehens an jenem Abend ganz unglaublich gewesen. Die Feuerwehr hatte das Haus innerhalb weniger Minuten völlig unbewohnbar gemacht, die Polizei hatte in kürzester Zeit die Umgebung weiträumig abgesperrt, einige verdächtige Ausländer vorläufig festgenommen und sich überhaupt alle Mühe gegeben, jedem zu zeigen, dass - entgegen einer landläufigen Meinung - auch ausländische Mitbürger beschützt werden.
Natürlich waren es Flugblätter linker Splittergruppen, auf denen in den nächsten Tagen behauptet wurde, dass sogar der Staatsanwalt der politischen Abteilung höchstpersönlich nach 23 Uhr in einem dicken Mercedes noch vorgefahren sei.
Der Anschlag hatte einem 19jährigen Mann gegolten, der zwar einen türkischen Pass besaß, selbst aber den größten Wert darauf legte, zu betonen, dass er kein Türke, sondern Kurde sei. Der junge Mann lebte seit rund drei Jahren in der Bundesrepublik, weil er in einem Land leben wollte, in dem er endlich sagen durfte, dass er