Erwin Leonhardi

Behauptung statt Wahrheit


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      Die Verflechtung von Kirche und Staat ist so alt wie die Menschheit. Bei fast allen Naturvölkern kann man die Urversion ablesen, die als Muster für diesen gesellschaftlichen Dualismus gilt.

      Dort gibt es ein Stammesoberhaupt, meistens körperlich der Stärkste oder der geschickteste Jäger oder der Weiseste, zumindest jemand, der dieser Gesellschaft im täglichen Daseinskampf einen messbaren Nutzen bringt. Er ist der Herrscher. Und es gibt einen Magier oder Schamanen oder Medizinmann, eine selbst ernannte Autorität, mit der man es sich besser nicht verdirbt, weil er angeblich mit übersinnlichen Mächten in Verbindung steht. Er hat erkannt, dass er mit Mystifizierung Macht ausüben kann. Die mystischen Dinge behauptet er einfach und praktiziert Scheinbeweise. Seine Machtstellung gründet er auf die Verbindung zu irgendwelchen Göttern, die es regnen lassen, die gute Ernte gewähren, die Gesundheit verheißen, die im Prinzip alle nicht nachprüfbaren Vorkommnisse regeln. Tritt seine Prognose ein, untermauert das seine Fähigkeiten, tritt sie nicht ein, sucht er einen "Sünder" aus und sorgt mehr oder weniger grausam für dessen Bestrafung, möglichst in aller Öffentlichkeit. Für seine Dienste lässt er sich von der Allgemeinheit entlohnen, mit Geld oder Naturalien. Das Oberhaupt lässt den Schamanen gewähren, weil selbst ihm Unheil drohen könnte, sollte er in Ungnade fallen.

      Dieses allgemein bekannte, kleine Szenario ist die Urform von Staat und Kirche. In den später wachsenden Gesellschaften hat sich in Erweiterung der Urform eine Priesterschaft entwickelt, die sich in allen Kulturen höchste Macht angeeignet hatte.

      In Alt-Ägypten wurde dem Sem-Priester, seines Zeichens Hohepriester des Osiris, dem ägyptischen Gott des Jenseits, die Macht zugesprochen, nach dem Tod den König zu beleben, ihn zu regenerieren und dessen Weg zu ewiger Herrschaft zu öffnen. Welcher ägyptische König konnte sich im eigenen Interesse dieser Macht entgegenstellen?

      Die Griechen hatten schon sehr früh ihre Götterwelt geschaffen. Sie glaubten fest an deren Macht und richteten im Alltag ihr Verhalten nach dem vorgegebenen religiösen Kodex aus. Dass im frühen europäischen Mittelalter die griechische Götterwelt zur Mythologie herabqualifiziert wurde, ist der kirchlichen Überheblichkeit zuzuschreiben.

      Der babylonische Priester Berossos, ca. 330-280 v. Chr., ist bekannt als Verfasser eines historischen Werks in griechischer Sprache und als Begründer der hellenistischen Astrologie. Er diente dem Gott Bel-Marduk und genoss höchstes Ansehen im Herrscherhaus. In seinem Werk begründete er durch die Verbindung mesopotamischer und griechischer Tradition die Legitimierung der Seleukidenherrschaft. Der Nachfolger Alexanders des Großen, Seleukos I., wusste genau, dass ein verärgerter Berossos auch ein beliebiges anderes Herrschaftshaus hätte begründen können. Es wäre unklug gewesen, sich gegen Berossos zu stellen.

      In der römischen Religion übte während der Monarchie der König die obersten priesterlichen Funktionen aus. Zu Zeiten der Republik gebührte das dem Oberpriester. Die Priester genossen besondere Ehren- und Vorrechte und galten auch als Hüter der Traditionen, was sie in ihrer altertümlichen Tracht zum Ausdruck brachten. Wesentliche politische Entscheidungen während der Zeit der Republik wurden vorher mit dem Oberpriester besprochen. Es war politisch riskant, gegen den priesterlichen Rat zu handeln.

      Irgendwann im frühen Altertum ist neben anderen altorientalischen Religionen das Judentum entstanden. Grundlage dafür war die nicht ganz neue Idee des Monotheismus, die der ägyptische König Echnaton als Erster geprägt hatte. Dessen Ansatz mit dem einzigen Gott wurde allerdings nach seinem Tod durch die Priesterschaft eiligst getilgt. Zu viele Priester wären überflüssig geworden, wenn sich Echnatons Auffassung durchgesetzt hätte. Es ist nicht auszuschließen, dass die frühen Juden von der Ansicht Echnatons inspiriert waren, als sie ihren monotheistischen Gottesglauben schufen. Die spätere Ablösung des überaus strengen Gottes des Alten Testaments durch die Vaterfigur des gnädigen Gottes, die der Religionsstifter Jesus bewirkt hat, kam einer Erlösung gleich und wurde zum Fundament des Christentums. Insofern erscheint die Bezeichnung Erlöser in diesem Licht passend.

      Nachdem die christliche Urkirche durch den römischen Kaiser Konstantin (272-337 n. Chr.) aus innenpolitischen Gründen offiziell anerkannt wurde, hat sie ihre Macht entfaltet. Im europäischen Mittelalter stellte sich das Papsttum zwischen Gott und die Herrscher, von denen viele selbst glaubten, sie seien von Gottes Gnaden in diese Führungsrolle gesetzt. Die über Jahrhunderte gepflegte Krönung der Könige und Kaiser durch den Papst diente der öffentlichen Machtdemonstration der Kirche. Diese Macht war kompromisslos.

      So konnte sich der Klerus aktiv in die Landesführung einmischen und die jeweiligen Königshäuser in eine Art Geiselhaft nehmen. Wer sich nicht fügte, wurde exkommuniziert. Das war Jahrhunderte lang die Höchststrafe für einen Herrscher und gleichbedeutend mit dem totalen Machtverlust. Jeder hat vom Gang Heinrichs IV. nach Canossa gehört. Ein bekanntes Beispiel für diese Art von Konflikten ist auch der Machtkampf zwischen dem englischen König Heinrich VIII. und Papst Clemens VII. Hier führte der Widerstand gegen die päpstliche Macht in England zur Kirchenspaltung.

      Über alle Religionen hinweg lässt sich ein absolut gleicher Dachgedanke formulieren: Die Priesterschaft ist eine selbst ernannte Autorität, welche die Kompetenz vorgibt, alleine zu wissen, was moralisch gut und böse ist. Wer zuwider handelt, wird mit göttlichen Strafen belegt. Der Staat hat die Aufgabe, die Wirtschaft und das gesellschaftliche Miteinander zu regeln, und sich aus den kirchlichen Regularien herauszuhalten.

      Nach dem Ersten Weltkrieg regelte die Weimarer Nationalversammlung 1919 in der Weimarer Reichsverfassung das Verhältnis von Staat und Kirchen neu. Sie schuf eine Basis, die auf Religionsfreiheit, weltanschaulicher Neutralität und der Selbstbestimmung aller Religionsgemeinschaften beruht. Die Staatskirche und Staatsreligion sind damit ersatzlos weggefallen. Aber schon 1926 bezeichnete Ulrich Stutz, ein deutscher Rechtshistoriker und Kirchenrechtler, die damals gewählte Konstruktion als "hinkende Trennung". Das heutige Grundgesetz führt die damaligen Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 der Weimarer Reichsverfassung im Artikel 140 ganzheitlich eingliedernd fort. So ist hier die Klarheit der Trennung nicht verbessert worden.

      Ein wesentlicher Unterschied in der Legitimierung besteht heute darin, dass die Staatsführung demokratisch gewählt wird, während die Organe der Kirchen absolutistisch bestimmt werden. Hier ist die Volksmeinung bedeutungslos. Diejenigen, welche die Kirche bezahlen, und für die ihre Kirche angeblich da ist, dürfen nicht mitbestimmen.

      Während sich der Staat eher selten, meist gar nicht, in die Angelegenheiten der Kirchen einmischt, ist der umgekehrte Weg fest etabliert. Es gibt in vielen Staaten kirchliche Zentralräte, die aktiven Lobbyismus betreiben. Umgekehrt gibt es das nicht. Es gibt zwar Botschafter im Vatikan. Deren Aufgabe ist es aber, Befehlsempfänger zu sein, nicht Berater.

      Ohne eine rechtliche Basis nehmen sich die Kirchen die Position der Mitsprache heraus, wenn es um Gesetze geht, die nach ihrer Auffassung ihr Selbstverständnis tangieren. Dazu gehören die Bereiche von Verhütungsmitteln, Schwangerschaftsabbruch, Stammzellenforschung, Tierversuche und andere Themen, für die sogenannte Ethikkommissionen eingesetzt werden. Die sollen den Kreis quadratieren und die Spannung zwischen Wissenschaft und Kirche neutralisieren. Bisher ist dies nur mangelhaft gelungen. Dass in diesen staatlichen Ethikkommissionen sehr häufig Vertreter der Kirchen vorkommen, kritisieren humanistische Verbände und Vertreter des Atheismus seit vielen Jahren. Sie bemängeln die Einmischung der Kirchen generell und auch, dass Nichtchristen und Konfessionslose nicht in gleichem Maße präsent sein dürfen, obwohl allein Konfessionslose mittlerweile ein Drittel der Bevölkerung ausmachen.

      Weitgehend unbekannt ist die Tatsache, dass die Kirche zustimmen muss, bevor eine vorgeschlagene Person einen theologischen Lehrstuhl an einer Universität einnehmen kann. Wer nicht linientreu ist, darf nicht lehren.

      Den Kirchen ist das nur möglich, weil die Politik sich nicht ausreichend dieser Einflussnahme erwehrt. Offenbar überwiegt die Angst vor Stimmenverlust den Neutralitätsauftrag. Dabei gebären sich die Kirchenführer als geistlich und moralisch höchste Führungsinstanz. Diese Rolle haben sie sich kraft souveräner Willkür selbst zugeschrieben. Begründet wird das Ganze mit der Bibel, der angeblich Heiligen Schrift, aus der sie eine Dogmatik abgeleitet haben,