ich ihm zum ersten Mal im Vorhof des Hauses gegenüberstand. Er fixierte mich ernst und sagte, dass er zwar wie dreißig Jahre aussehen würde, in Wirklichkeit aber schon fünfzig Jahre alt wäre.
In mir brach eine Welt zusammen und sämtliche Gefühle stürzten auf mich ein. Ich fühlte mich verraten, benutzt, in einer Sackgasse, aus der es keinen Ausweg, kein Zurück mehr geben würde, doch ich akzeptierte es schon im gleichen Augenblick und freute mich über meinen Mut, die von mir getroffene Entscheidung zu tragen.
7. Realität
Ich lag stocksteif in meinem Bett, desorientiert, benommen. Ich hatte die Augen wieder geschlossen, nachdem ich sie ungläubig aufgerissen hatte und sah Bildfetzen des Traumes, die vor meinem inneren Auge, von meinem Bewusstsein wieder zurück in meine Erinnerungen glitten.
So real, so wahnsinnig real war der Traum gewesen!
Ich hatte bei keiner Szene auch nur den Hauch einer Ahnung gehabt, dass dies ein Traum hätte sein können, obwohl manche Aspekte wirklich verdreht und verrückt gewesen waren. Aber ich hatte das Gefühl gehabt, ich würde den Traum in Echtzeit erleben. Jede Sekunde so, wie sie in der wirklichen Welt verging.
'Wahnsinn!', dachte ich.
Ich war fasziniert, erregt, entsetzt, bestürzt, verwirrt zugleich und ließ mich in dem Auf und Ab meiner Gefühle weiter treiben.
Der Mann in meinen Träumen war ein Traummann gewesen. Groß, breite Schultern, dunkelblaue Augen, dunkelblondes Haar, Grübchen in den Wangen, wenn er lächelte. Fast wie mein Held in meinen Winterträumen, meine perfekte Vorstellung von einem Mann. Nur sein Haar war kurz und seine Gesichtszüge zu weich. Die animalische Ausstrahlung, die in meinem Bauch Schmetterlinge tanzen ließ, hatte ihm gefehlt.
Ich lächelte über mich. Ich wusste, dass ich einem perfekten Mann, wie ich ihn mir vorstellte, nie über den Weg laufen würde. Mochte vielleicht sein Aussehen stimmen, wäre vielleicht seine Art nicht zu meiner gehörig. Ich wusste, dass Schönheit nicht mit Sympathie einher kam. Aber ich konnte doch träumen...
Dann hatte ich ausgeträumt. Die Erlebnisse des Vorabends, die Erkenntnisse, die ich aus meinem Buch erhalten hatte, überschatteten meine fantastische Laune, in der ich mich seit dem Aufwachen befunden hatte.
Ich musste zu Yan und mit ihm reden.
Aber erst einmal wollte ich eine Tasse Kaffee trinken, dann würde ich mich bestimmt besser fühlen, sagte ich mir. Nach dem ersten Schluck fühlte ich mich tatsächlich besser. Ein leichtes Kopfweh, das sich angekündigt hatte, konnte somit rechtzeitig in die Schranken verwiesen werden.
Ich musste zu Yan, so bald wie möglich.
Ich würde sonst nicht mehr zur Ruhe kommen. Ich blickte auf die Uhr. Ich dachte mir, dass man um elf Uhr schon jemanden aus dem Bett klingeln konnte. Ich zog mich an und lief zu Yans Wohnung. Der Weg erschien mir dieses Mal sehr lang. Die Sonne schien, es würde wieder ein heißer Tag werden. Ich freute mich aber gar nicht mehr darauf, denn all meine Hoffnungen und Träume waren wie eine Seifenblase zerplatzt.
Ich stand vor der großen Tür des Wohnblocks und klingelte. Nach einer Minute klingelte ich nochmals. Wieder keine Reaktion. Wo war er denn nun schon wieder? Es gab nichts Schlimmeres, als wenn man versuchte, einen Menschen zu erreichen und es nicht schaffte und überhaupt nicht wusste, wie man ihn erreichen sollte. Ich war ratlos und fühlte mich so hilflos, so allein gelassen. Ich wusste gar nicht, wo ich anfangen sollte nach Yan zu suchen. Eigentlich wusste ich von Yan fast gar nichts, wie ich anfangs dachte, als ich noch verliebt in ihn gewesen war. Ich wusste weder, wo er abends hinging, wenn er Spaß haben wollte, wer seine Freunde waren, wer seine Bekannten. Ich wusste zwar, welche Fernsehsendung er am liebsten sah, was sein Leibgericht war, welche Musik er gerne hörte, aber das konnte mir in diesen Momenten nicht weiter helfen.
Ich musste ihn aber so dringend sprechen!
Ich fuhr mir mit der Hand durch die Haare und überlegte, ob ich hier auf ihn warten sollte, fand das wenig effektiv und zudem peinlich, da ich unter Umständen vielleicht Stunden auf ihn warten musste.
Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen.
Ich fühlte mich so, als ob ich an einer Weggabelung stand und keinen der beiden Wege, die vor mir lagen, mit den Augen weit genug verfolgen konnte, um zu wissen, welchen ich einschlagen sollte, um an mein Ziel zu kommen.
Was war überhaupt mein Ziel - hatte ich eines? Diese Frage musste ich mir selbst verneinen. Ich wusste es nicht. Vielleicht sollte ich einfach in meine Wohnung gehen. Vielleicht stand Yan gerade genauso hilflos wie ich vor meiner Tür und wusste nicht, was er machen sollte. Innerlich schalt ich mich als einen Idioten. Welchen Grund sollte er denn haben, vor meiner Tür zu stehen? Wir waren kein Liebespaar. Wir waren Freunde. Nur.
Ich lief schnell nach Hause, aber ich wurde enttäuscht, denn kein Yan stand vor der Tür. Ich schloss die Tür meiner Wohnung auf, als das Telefon klingelt. Ich nahm ab und dran war...Yan!
Ich fing sofort an: "Ich war gerade bei dir. Ich muss dich sprechen."
Schweigen.
"Gut. Ich komme zu dir."
Minuten später war er bei mir - zum ersten Mal in meiner Wohnung.
Wir setzten uns an den Küchentisch und ich fing an zu erzählen: "Ich habe mir die ganze Zeit über Gedanken gemacht, warum wir beide die gleichen Träume hatten. Ich habe ein Buch gelesen, das die Antwort darauf haben könnte."
Yan sah mich ernst an: "Das ist gut. Dann brauchst du dir keine Gedanken mehr darüber zu machen."
Ich blickte ihn an. Hatte ich mich verhört oder hatte ich tatsächlich...Angst...in seiner Stimme gehört?
Ich fuhr fort: "Es gab schon Menschen, die die gleichen Träume hatten, weil sie etwas sehr Wichtiges gemeinsam hatten. Sie hatten die gleiche Mutter und den gleichen Vater. Zwillinge."
Ich schwieg. Jetzt war es heraus.
Yan lächelte mich an: "Ich war ein Einzelkind und meine Mutter hätte nie einen Grund gehabt mich deswegen anzulügen."
Ich schwieg weiterhin. Das hatte ich mir gedacht. Ich war auch ein Einzelkind gewesen. Hatte ich Yan eigentlich schon einmal gefragt, wie alt er ist, wann er Geburtstag hat? Wieso dachte ich erst jetzt daran? Wieso war ich trotz allem so voller Hoffnung gewesen, vielleicht einen verlorenen Bruder zu finden? Weil ich so allein war? Ohne Familie, ohne Verwandtschaft? Ich schüttelte den Kopf über mich. Jetzt bei Tageslicht kam ich mir richtig dämlich vor. Aber Yan lachte mich nicht aus. Dafür war ich ihm dankbar.
"He. Du brauchst dich jetzt nicht komisch zu fühlen. Mir ist auch schon der Gedanke gekommen, dass es so eine Übereinstimmung nur unter Zwillingen geben könnte. Davon hört man doch immer wieder. Ich hatte den Gedanken nur nie zu Ende verfolgt, weil ich nicht wirklich damit gerechnet hatte. Ich weiß auch gar nicht, wann du Geburtstag hast."
"Oktober."
"Siehst du, und ich im Mai. Es kann also gar nicht sein."
Ich fühlte mich noch dämlicher. Wieso hatte ich nie nach seinem Geburtstag gefragt? Das war doch unter Verliebten die erste Frage. Ich zündete mir eine Zigarette an.
Yan beobachtete mich und sagte: "Ich war gestern Abend noch mit Ralf Billard spielen. Dann gingen wir noch ein Bier trinken und ich habe von dir erzählt. Er will dich unbedingt kennen lernen. Ich habe ihm gesagt, was für eine tolle Frau du bist und nun ist er natürlich neugierig."
Ich sah ihn traurig an: "Dann sind wir nur noch Freunde und die Küsse waren ein Versehen?"
Yan blickte zu Boden: "Ich mag dich. Aber ich denke, wir haben uns zu sehr von dem einen Traum beeinflussen lassen. Es sind keine weiteren Gefühle mehr dazu gekommen."
Ich seufzte. Ich hatte es geahnt. Und wenn ich ganz ehrlich war, musste ich ihm Recht geben. Denn ich horchte in mich hinein und keine Schmetterlinge tanzten mehr in meinem Bauch. Er war ein guter Freund. Und das war in meiner Welt, in der ich