flehte ihn an: "Nein."
Doch er nickte nur traurig, ernst. Ich stand schnell auf, warf mich zurück an die Wand, spürte die kalte, raue Oberfläche des Putzes, drückte mich Hilfe suchend daran. Der Mann bewegte sich nicht. Er wusste, dass ich kommen würde, wieder zu ihm kommen würde. Ich kannte ihn nicht, aber ich wusste, dass er mein Mörder werden würde.
Er nannte mich wieder bei meinem Namen: "Alena."
Ich fing an zu weinen: "Nein. Bitte! Tu es nicht. Ich habe solche Angst vor den Schmerzen."
Ich ging wieder zu ihm, wandte mich wieder ab. Obwohl er mich noch nicht verletzt hatte, spürte ich Schmerzen an meiner Kehle. Meine Angst vor dem Tod war gering, aber die vor den Schmerzen, die das gewaltsame Hinübergleiten in den Tod begleiten würden, war groß. Dann atmete ich ganz ruhig, hatte mich gefasst. Ich ging auf dem Mann zu, kniete vor ihm nieder, war bereit. Er setzte die kalte Klinge so an meiner Kehle an, als ob er versuchte, mir so wenig Schmerzen wie möglich zuzufügen. Dann schnitt er meine Haut ganz leicht an. Jetzt war ich auf den endgültigen Schnitt vorbereitet – der Schmerz konnte kommen. Ich sah ihm erst in die hellgrünen Augen, dann schloss ich meine Augen langsam, spürte den ziehenden, tiefen Schmerz, als er mir von rechts nach links die Kehle durchschnitt.
5. Realität
Ich schüttelte den Kopf, keuchte, der Mann vor mir, den ich auch schon in der Stadt getroffen hatte, war der Mörder im Rollstuhl! Meine Traumperson. Und ich war seine. Wir hatten den gleichen Traum erlebt - jeder aus seiner Sicht!
"Wie...wie hast du mich wieder erkannt?", fragte ich.
"Ich habe dich schon damals in der Stadt erkannt, aber da du nicht reagiertest, gar kein Erkennen signalisiert hattest, da dachte ich, dass ich mich geirrt hatte. Aber als ich dich heute wieder sah, da war kein Zweifel mehr möglich. Ich habe dich in meinem Traum...getötet. Und du existierst nicht nur in meinem Traum."
Seine Augen leuchteten. Es war unmöglich! Ich verstand es nicht, doch der Mann vor mir war tatsächlich der Mörder in meinem Traum!
Die Sonne brannte plötzlich heißer, Schweiß lief mir von der Stirn herab und ich wischte ihn gedankenlos mit dem Handrücken weg. Es konnte nicht möglich sein, ich hatte noch nie von so etwas Verrücktem gehört. Doch der junge Mann war genauso nachdenklich. Es gab keinen Zweifel.
Ich wollte mich dem stellen: "Nun gut, da haben wir etwas erlebt, das es eigentlich nicht geben dürfte. Wie ist dein Name?"
"Yan."
"Okay, Yan. Willst du dich nicht zu mir setzen?"
Er ließ sich vorsichtig neben mir nieder, achtete genau darauf, dass er mich nicht aus Versehen berührte. Ich fühlte mich genauso befangen und konnte mit dieser Situation noch nicht so recht umgehen. Es war abstrakt, aber genauso sehr machte es mich neugierig, denn ich liebte Geheimnisse, die ich lüften konnte. Ich fühlte mich wie die Hauptperson in einem Roman, die auf ein großes Geheimnis gestoßen war und es lösen musste. Solche Romane habe ich immer sehr gern gelesen, allerdings war ich noch nie in der gleichen Situation wie eine meiner Titelheldinnen. Das war im realen Leben etwas schwerer, als in einem Roman. Ich hatte kein Manuskript, nach dem ich mich richten konnte. Was sollte ich tun?
Wir fingen an in die übliche Konversation zu verfallen, wie sie bei zwei Menschen unterschiedlichen Geschlechts üblich ist, wenn man sich zum ersten Mal trifft und sich sympathisch findet. Außenstehende Personen hätten uns für ein Paar halten können, das sich kennen lernt und flirtet. Aber unsere Situation war ungleich intimer. Wir kannten unsere Träume! Nicht nur aus Erzählungen, sondern durch Erfahrungen erster Hand! Ich lächelte, als Yan mit seiner Hand in meine Richtung zeigte.
"Du hast da eine sehr interessante Tätowierung. Das hat bestimmt ziemlich weh getan", bemerkte Yan.
Ich schmunzelte. Jetzt befand ich mich wieder auf einem Terrain, auf dem ich mich auskannte. Diesen Satz habe ich bestimmt schon tausend Mal gehört! Ich sah an mir herunter, auf meinem Brustbein, zwischen meinen Brüsten prangte ein schwarzer Drache, mit weit ausgestreckten Flügeln und nach oben gerecktem, reptilienartigen Kopf. Er schien zu schweben, kurz in seinem Flügelschlag innezuhalten.
"Ich liebe Drachen. Ja, es hat weh getan. Aber es ging vorbei. Nach zwei Wochen ist die Wunde abgeheilt und man spürt nichts mehr."
Dann kam die nächste Frage, die ich erwartet hatte, weil sie immer kam, wenn jemand mein Tattoo entdeckte: "Darf ich es einmal kurz berühren?"
Ich schmunzelte: "Klar. Aber du wirst nichts spüren. Es fühlt sich an wie normale Haut. Die Farbe ist ja unter der Haut."
Yan näherte sich mir vorsichtig, streckte seinen Zeigefinger auf und fuhr über den Kopf des Drachens.
Sofort zog er wieder den Finger zurück und lächelte: "Ja, es ist nichts zu spüren."
Ich wandte mich ab und zündete mir eine Zigarette an. Während ich den Rauch langsam ausatmete, wurde ich nachdenklich. Ich starrte auf die Glut meiner Zigarette und ließ den Blick dann über das Wasser gleiten. Es war ein herrlicher Tag. Viele Menschen waren vor der Großstadthitze hierher geflüchtet. So überfüllt der Strand an diesem Tag auch war, ich genoss dieses Mal seine Anonymität.
"Hast du jemals so etwas Verrücktes erlebt?", fragte ich, als ich das Gefühl hatte, dass das Schweigen langsam peinlich wurde.
Ich blickte Yan direkt an.
Dieser schüttelte nachdenklich den Kopf: "Nein. Noch nie. Vielleicht habe ich dich einmal auf der Straße gesehen und dich unbewusst in den Traum eingebaut. Vielleicht war es nur Zufall."
Jetzt schüttelte ich den Kopf, allerdings energischer als Yan zuvor: "Nein. Das hatte ich zuerst auch gedacht, aber das kann nicht so einfach sein. Es wäre ein sehr großer, wenn nicht fast unmöglicher Zufall gewesen, wenn wir beide genau den gleichen Traum gehabt hätten. Vielleicht wäre es wirklich denkbar, aber warum sind dann diese Parallelen in unseren Träumen? Das verstehe ich nicht. Und woher weißt du dann meinen Namen, wenn du mich nur irgendwo gesehen hast? Mein Name ist nicht alltäglich."
"Das stimmt. Aber ich habe einfach keine Erklärung dafür. Vielleicht ist es ein Wink des Schicksals."
Ich lächelte vorsichtig, allerdings wollte ich ihn nicht ermutigen, denn uns verband nur der gleiche Traum, sonst nichts! Sympathie. Ja. Mehr? Vielleicht. Yan spürte meine leichte Abneigung - er verabschiedete sich bald darauf und ich hatte wieder Zeit nachzudenken. Aber zuerst wollte ich meinen Kopf etwas freier bekommen und mich in die Fluten stürzen. Eine Lücke in den Menschenmassen ermöglichte es mir, mich gefahrlos ins Wasser begeben. Ich schwamm nur ein paar Züge, tauchte ein wenig unter und verließ Minuten später wieder das erfrischenden Nass, legte mich auf mein Handtuch und ließ mich trocknen.
Meine Augenlider wurden schwer, ich schlief schnell ein, denn als ich wieder die Augen öffnete, war die Sonne schon viel weiter gewandert und neigte sich dem Horizont zu. So beschloss ich, noch ein wenig am Wasser entlang zu laufen, da auch nicht mehr so viele Menschen am See waren. Meine Gedanken ließen mich nicht mehr los. Es war wohl ein einmaliges Erlebnis, das ich hatte! Andererseits bin ich auch nicht der Typ Mensch, der wegen ungelöster Fragen sofort zum Arzt rennt, weil ihm sein Geisteszustand suspekt vorkam - dazu hielt ich mich für zu gesund. Allerdings fragte ich mich, ob ich so etwas noch einmal erleben würde, es würde mich wirklich interessieren und ich fand es spannend - schließlich war mir ja nichts weiter geschehen, außer, dass ich den Mann aus meinen Träumen in der realen, wachen Welt kennen gelernt hatte.
Am Abend machte ich es mir bei einem Glas Wein und einem guten Film auf meiner Couch bequem. Ich lehnte mich entspannt zurück und wurde so richtig schön schwerfällig.
'Heute Nacht werde ich gut schlafen', dachte ich bei mir.
Am nächsten Morgen wachte ich desorientiert auf. Ich hatte einen tiefen Traum gehabt, aber ich wusste nicht mehr, worum es bei diesem Traum ging. Hoffentlich nicht schon wieder so ein Traum, bei dem mir am Tage die Traumgestalt über den Weg laufen würde.
Ich stand auf und überlegte, was ich