Jean-Pierre Kermanchec

Douarnenez und das Geheimnis der Sardine


Скачать книгу

nach dem Rucksack, steckte alles hinein und sah sich nach einem passenden Versteck um. Er hatte auf einem Felsen an einem Parkplatz gesessen, einem Ausgangspunkt für Spaziergänger und Wanderer entlang des sentier côtier. Der ehemalige Zollsteg und jetzige Wanderweg, GR 34, der die gesamte Küste der Bretagne umfasste, war nur bei Tageslicht gefahrlos zu begehen. Der Parkplatz war von hohen Farnen umgeben, hinter denen er sich verstecken konnte. Er drückte den Farn vorsichtig zur Seite, um möglichst keine Spur zu hinterlassen, und trat auf den weichen Boden dahinter. Er hatte sich kaum geduckt, als der Wagen auf den Wendeplatz fuhr. So spät in der Nacht suchte kein Wanderer die Stelle auf. Es konnte sich also nur um den Killer handeln. Der Fahrer öffnete bei laufendem Motor die Fahrertür und stieg aus. Mit seiner großen schweren Taschenlampe begann er die Umgebung abzusuchen. Der helle Lichtstrahl fiel auf den Küstenweg.

      Hervé bekam Angst. Wenn der Mann den ganzen Parkplatz so ausleuchtete, würde er ihn zwangsläufig hinter dem Farn entdecken. Hervé drückte sich ganz flach auf den Boden. Irgendein dorniges Gestrüpp stach ihm durch die Kleider. Er unterdrückte sein Stöhnen und hoffte, dass der Mann schnell verschwinden würde. Der Strahl der Taschenlampe schwenkte jetzt landeinwärts, und der Lichtschein kam seinem Versteck immer näher. Nur noch wenige Meter und das Licht der Lampe würde ihn erfassen. Dann erlosch die Lampe, und sein Verfolger ging zum Fahrzeug zurück, stieg ein und fuhr den Weg langsam zurück.

      Hervé merkte erst jetzt, dass ihm der Angstschweiß von der Stirn rann. Er stand auf, es war eine Distel, auf der er gelegen hatte. Er müsste schaffen, unentdeckt von seinem Verfolger, zu einem bewohnten Haus zu gelangen. Auf keinen Fall dürfte der Verfolger seine Aufzeichnungen entdecken.

      Das Licht des Fahrzeugs war verschwunden, und seine Augen gewöhnten sich wieder an die Dunkelheit. Der fast volle Mond leuchtete klar. Er ging langsam um den Platz herum, kam an einem Papierkorb vorbei und sah eine Weinflasche, noch mit einem Korken verschlossen.

      Das ist die Idee! Hervé fühlte sich plötzlich in seine Kindheit versetzt, eine Flaschenpost! Eine Flaschenpost war zwar nicht die ideale Lösung aber eine Chance, die sich ihm hier bot. Er öffnete die Flasche und kippte eventuelle Restflüssigkeit aus, die Flasche war leer. Er holte die Aufzeichnungen aus dem Rucksack und rollte sie ganz eng zusammen. Dann fischte er aus seiner Hosentasche ein Gummi, seit seiner Jugend waren seine Hosentaschen mit allem was ein Mann brauchte gefüllt. Er rollte das Gummiband um die losen Blätter und schob sie in die Flasche. Mit Glück und der richtigen Strömung würde die Flasche in den Hafen von Douarnenez getrieben. Der Hafen konnte nicht viel mehr als acht Kilometer weit entfernt liegen. Er hielt sich an dem dünnen Strohhalm fest, dass seine Nachricht im Falle seines Todes auf diese Weise gefunden würde. Sollte er es bis zur Gendarmerie schaffen, wären die Aufzeichnungen sowieso überflüssig. Hervé verschloss die Flasche mit dem Korken und drückte ihn fest in den Hals. An einer Stelle der senkrecht abfallenden Steilküste holte er aus und warf die Flasche entschieden und mit ganzer Kraft ins Wasser. Viel Glück!

      Hervé ging, auf der Suche nach einem Haus, zurück. In der Bretagne gab es nur wenige Gegenden, in denen es kein Haus oder lieu dit gab, er würde einen bewohnten Ort finden. Der Mond erhellte den Weg, sodass er gefahrlos gehen konnte. Nach einer Weile sah er zwei kleine Lichter. Hervé ging darauf zu. Er hatte die beiden Lichtpunkte fast erreicht, als er feststellte, dass es sich um die Standlichter eines dunklen Vans handelte.

      Kapitel 9

      Yannick Detru hatte alle Hände voll zu tun, um die DNA der beiden Vermissten möglichst schnell mit den zwei Leichen zu vergleichen. Sein Erstaunen war groß, als er am nächsten Morgen die Ergebnisse vor sich liegen sah. Es gab keine Zweifel. Die Leiche im Koffer war Marc Le Bras, und der Tote in den Müllsäcken, den sie auf der Île Tristan gefunden hatten, war zweifelsfrei Hervé Floc´h. Er nahm die ausgedruckten DNA-Analysen und ging zu Anaïk.

      Anaïk stand an ihrer Pinnwand.

      „Hallo Anaïk“, begrüßte er die Kommissarin.

      „Bonjour Yannick, hast du etwas für mich? Ich werde aus den beiden Morden nicht schlau.“

      „Ja, wir haben die Identitäten“, sagte er.

      „Von Beiden? Sag bloß, es handelt sich um genau die zwei Vermissten?“

      „Genauso ist es, die zwei vermissten Männer liegen auf meinem Tisch.“

      „Das wird ein Schock für die Frauen“, meinte Anaïk.

      „Ihr werdet ihnen die Nachricht schonend beibringen müssen. Also, unsere Kofferleiche ist eindeutig Marc Le Bras. Der zweite Tote ist Hervé Floc´h.“ Yannick übergab Anaïk die ausgedruckten Analysebögen.

      „Für deine Unterlagen, falls du sie brauchst“, meinte er und verabschiedete sich von ihr.

      Anaïk informierte Monique sofort.

      „Damit sind wir zwar noch nicht sehr viel weiter, aber jetzt kennen wir wenigstens die Identität der Beiden. Die Frage nach dem Motiv bleibt bestehen. Was verbindet die zwei miteinander?“

      „Wir müssen uns mit ihren Frauen unterhalten. Vielleicht können die uns etwas über die Beziehung ihrer Männer erzählen. Ich hasse es, Todesnachrichten zu überbringen. Aber auch das gehört nun einmal zu unserem Beruf“, meinte Anaïk und erhob sich vom Besucherstuhl vor Moniques Schreibtisch.

      „Wir können sofort aufbrechen“, meinte Monique und wartete auf eine Reaktion ihrer Chefin.

      „Ich will mir vorher noch etwas ansehen. In fünf Minuten können wir uns auf den Weg machen.“

      Anaïk bereitete sich auf die Übermittlung der traurigen Nachricht vor. Angehörigen den Tod eines geliebten Menschen zu übermitteln gehörte zu den schwierigsten Aufgaben ihrer Tätigkeit. Ohne eine klare Vorstellung verließ sie das Büro und machte sich mit Monique auf den Weg nach Locronan, zu der jungen Frau Nivinic.

      Im Regen waren sie ausgestiegen und zur Haustür geeilt, hatten geklingelt und gewartet, dass Madame Nivinic ihnen die Tür öffnete.

      Bevor Anaïk noch irgendetwas sagen konnte, brach Laora in Tränen aus.

      „Er ist es, der Tote ist mein Vater!? Nicht wahr, der Tote ist mein Vater!?“

      Anaïk nickte und drängte die junge Frau ins Haus. Monique folgte ihr uns schloss die Haustür.

      „Kommen Sie, setzen Sie sich“, sagte Anaïk als sie im Wohnzimmer angelangt waren.

      Laora setzte sich auf den Stuhl, den Anaïk für sie unter dem Tisch hervorgezogen hatte.

      „Soll ich Ihnen einen Schluck Wasser holen?“

      „Nein, sagen Sie mir nur wieso? Wieso musste mein Vater sterben? Wer war es und warum?“

      „Das wissen wir noch nicht, wir sind mitten in den Ermittlungen. Zur weiteren Aufklärung benötigen wir ihre Hilfe. Meinen Sie, Sie können uns einige Fragen beantworten?“

      Laora fing sich etwas und sah Anaïk an.

      „Sie haben schon beim gestrigen Besuch gewusst, dass mein Vater tot ist? Sie haben es mir nur nicht sagen wollen?“, fragte sie anstelle einer Antwort.

      „Nein, das haben wir nicht gewusst. Wir wussten nicht einmal, dass der Tote, den wir gefunden haben, einer der beiden vermissten Personen ist. Erst der Abgleich der DNA hat uns die Antwort gegeben.“

      „Sie haben von zwei vermissten Personen gesprochen? Um wen handelt es sich bei der zweiten?“

      „Ebenfalls um einen älteren Mann. Er ist von seiner Frau als vermisst gemeldet worden. Auch von dieser Person haben wir uns gestern eine DNA besorgt. Jetzt wissen wir, dass beide ermordet worden sind, ihr Vater und der zweite Vermisste. Seine Leiche haben wir gestern auf der Île Tristan gefunden. Aber ich habe Sie gefragt, ob Sie uns ein paar Fragen beantworten können, es geht darum herauszufinden, ob sich die zwei Männer gekannt haben. Der zweite Tote heißt Hervé Floc´h.“

      Anaïk hatte den Namen kaum ausgesprochen, als Laora sich die Hand vor den Mund hielt