Carlo Fehn

Verdammte Erinnerung


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      „Sagen wir mal so. Ich habe irgendwie das Gefühl, dass da etwas Größeres dahintersteckt.“

      „Was meinst du?“

      „Weiß nicht!“

      „Aha!“

      „Ein bekanntes und sehr gutes, abgelegenes Waldhotel zwischen Steinbach und Kleintettau, in dem eine offenbar alleinstehende russische Frau absteigt und relativ lange bleibt. Und ein Mord, der auf den ersten Blick nicht vermuten lässt, dass sich da jemand nur in der Zimmertür geirrt hat.“

      „Was soll das heißen?“

      „Na ja, formulieren wir es mal vorsichtig: Es lässt einiges darauf schließen, dass wir es hier mit einer Geschichte zu tun haben, die sich von unseren bisherigen Fällen deutlich unterscheidet.“

      „Wie kommst du darauf?“

      „Weiß nicht! Niemand hat etwas gesehen oder gehört und...“

      Pytliks Handy klingelte. Lydia schaute neugierig.

      „Guten Morgen, Doktor Weidner. - Aha, sind Sie sich sicher? - Sonst keine Verletzungen? - Keine Kampfspuren? - Sperma? Im Mund? Na, das ist doch schon mal was! Ich danke Ihnen. Schönen Tag noch.“

      Pytlik drückte auf die Taste mit dem roten Telefonhörer. Seine Stimme klang mit einem Mal etwas optimistischer.

      Die Informationen des Coburger Rechtsmediziners waren kurz und prägnant. Es hatte sich weitgehend bestätigt, was Pytlik vermutete. Die Tatsache, dass die Ermordete vor ihrem Tod noch Sex gehabt hatte, konnte immerhin zu einer Spur werden.

      „Na wenigstens etwas“, zeigte sich der Hauptkommissar zufrieden. Lydia gegenüber wollte er nicht im Detail ausführen, was bei der Spurensicherung am Tatort festgestellt werden konnte. Das schien ihm dann doch zu weit zu gehen.

      „Sie hat also mit ihrem Mörder gevögelt, ihm einen geblasen und danach hat er sie abgeknallt. Vielleicht war sie ja auch eine Prostituierte!“

      Lydia brachte das eben Gehörte mit für sie ungewohnt derber Rhetorik auf den Punkt.

      „Pass auf! Vorsicht!“

      Pytlik wurde mit voller Wucht in den Sicherheitsgurt gepresst, das Rattern des Anti-Blockiersystems zeugte von Gefahr. Im letzten Moment hatte sich das kleine Kitz doch noch überlegt, die Straße zu überqueren und im Gehölz kurz hinter Rothenkirchen zu verschwinden.

      „Ein goldenes Reh“, pustete Pytlik. „Das kann kein Zufall sein!“

      „Huch! Das war aber...“

      „Könntest du jetzt bitte einfach nur fahren!“ Pytlik hatte einen roten Kopf, der unter seinem stets gut gebräunten Gesicht mehr zu vermuten, als zu sehen war. War es nur der neue Fall? War es ihre Fragerei? War es ein versteckter innerer Druck, mit Lydia über die Zukunft reden zu müssen? War es die Frage danach, ob er nicht lieber wieder alleine sein wollte? Er wusste nur, dass eine Entschuldigung im Moment nichts bringen würde. Er hob sich das für später auf. Lydia fuhr weiter, nach zehn Minuten waren beide auf dem Parkplatz am Steinbacher Schützenhaus angekommen.

      „Gut“, begann Lydia das Gespräch zuerst wieder, während sie sich, an ihren Audi gelehnt, mit ausgiebigen Dehnübungen warm machte. Sie redete mit spitzer Zunge.

      „Ohne, dass ich dir jetzt wieder zu kriminalistisch erscheinen oder reinreden will, möchte ich dennoch wiederholen, wie der Vormittag nun geplant war. Nur, damit es nicht zu weiteren Angestrengtheiten kommt.“

      Pytlik hatte ebenfalls damit begonnen, seine Muskulatur auf Betriebstemperatur zu bringen und nickte ihr mit zusammengepressten Lippen zu.

      „Hier geht’s entlang?“ Lydia zeigte mit ausgestrecktem Arm zur Frankenwaldhochstraße, die an der Wasserscheide weiter in Richtung Kleintettau führte.

      „Ja.“&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;

      „Gut, dann irgendwo in den Wald abbiegen zum - wie hieß der gleich noch? - Ölschnitzer See?“

      „Ölschnitzsee. Ja.“

      „Gut, Ölschnitzsee. Wie viele Kilometer sind das ungefähr?“

      Pytlik hatte keine Ahnung, zumindest keine genaue. Er hatte hier einmal eine Radtour mit seinem Kollegen Justus Büttner gemacht, der in Steinbach wohnte. Das war aber schon eine Weile her.

      Er verfügte über einen guten Orientierungssinn und würde sicherlich die eine oder andere Schleife einbauen können, so dass Lydias Pensum erfüllt werden würde.

      „Es ist jetzt“, Pytlik machte eine kurze Pause und blickte auf sein Handgelenk, „kurz nach neun. Ich denke, wir werden so zehn bis zwölf Kilometer hinbekommen. Sagen wir, so gegen halb elf müssten wir wieder hier sein. Das Freizeitzentrum befindet sich gegenüber.“

      Er machte eine Geste und zeigte in die entgegengesetzte Richtung, wobei er wie ein Verkehrspolizist wirkte, der mitten auf einer Kreuzung den Verkehr regelte.

      „Ich bin mit dem Hotelmanager um zwölf verabredet. Das heißt, eine gute Stunde schwimmen ist noch drin.“

      „Vielleicht kann ich ja auch zwei Stunden schwimmen und du holst mich später ab. Ich will ja nicht stören.“

      Die letzten Worte Lydias waren fast ungehört verhallt, da sie sich mit lockerem Trab bereits zum Radweg begab und dort, auf der Stelle tänzelnd, Pytlik mit herbeiwinkender Handbewegung aufforderte, sie nicht so lange in der Kälte stehen zu lassen.

      ***

      Nach wenigen hundert Metern waren Pytlik und Lydia nach links in den Wald abgebogen. Die niedrigen Temperaturen forderten die Lungen bereits zur Höchstleistung und erst nach einigen Minuten hatte sich für die Beiden der Spaß am Laufen und der Wahrnehmung der aufgeräumten und jungfräulich wirkenden Natur eingestellt.

      Pytlik versuchte, sich für den Lauf von den anderen Gedanken frei zu machen.

      „Da, schau!“ Lydias ausgestreckter Zeigefinger schnellte nach vorne. Ein Fuchs hatte hastig den lange geradeaus verlaufenden Schotterweg passiert. Mit einem kurzen Blick nach links schien er die beiden Sportler zu grüßen.

      „Natur pur“, schickte sie hinterher und ihr war anzumerken, dass sie sich von Pytliks störrischer Laune keineswegs hatte beeindrucken lassen. An der ersten Wegkreuzung deutete Pytlik nach rechts, danach querten sie die Straße, die nach Windheim führte und liefen dann eine ganze Weile parallel zur Frankenwaldhochstraße durch atemlose Stille, die nur vom Knistern der Schuhsohlen auf dem kalten Weg begleitet wurde.

      Nachdem beide ohne bedeutenden Wortwechsel schon eine beachtliche Strecke zurückgelegt hatten und nach einer Art Kehrtwende bereits wieder auf dem Rückweg waren, schaute Pytlik auf seine Uhr.

      „Zehn! Das könnte ganz gut hinkommen. Wenn ich mich nicht irre, müsste es da vorne bereits zum See runter gehen.“

      „Wenn du dich nicht irrst? Und wenn du dich irrst?“ Lydia war nicht wirklich bang, sie war gut trainiert.

      „Wenn ich mich irre? Dann rufe ich Cajo an. Sondereinsatz.“

      Cajo Hermann war Pytliks rechte Hand und die Zuverlässigkeit in Person. Pytlik lachte Lydia leise an und legte mit ein paar schnellen Schritten einen Zwischenspurt ein, wobei er ähnlich einer Dampflok die kalte Luft angeberisch in den Himmel blies.

      „Na, warte!“ Als Lydia den Hauptkommissar nach einigen Metern eingeholt hatte und beide wieder im Gleichschritt nebeneinander herliefen, war tatsächlich durch eine Baumgruppe der Windheimer Ölschnitzsee zu sehen.

      „Da!“ Pytlik, leicht außer Atem, schob das Kinn nach vorne, um Lydia zu zeigen, was er gesehen hatte.

      „Wow, ist ja ein Hammersee!“ Die Ironie in Lydias Stimme war nicht zu überhören, Pytlik nahm die Rolle des geforderten Verteidigers aber erst gar nicht an.

      „Ich schlage vor, wir laufen rechts bis vor zum Seehaus, dann links auf die Überlaufbrücke und danach hoch