Carlo Fehn

Verdammte Erinnerung


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wie Pytlik Jahrgang 1950, war langjähriger Weggefährte des Hauptkommissars. Seine manchmal träge wirkende, stets jedoch scharfsinnige Art und Weise, war nicht jedermanns Ding. Pytlik, der kein gebürtiger Kronacher, ja nicht einmal Franke oder Bayer war, sondern die ersten acht Jahre seines Lebens in Berlin verbracht hatte, fand sich immer noch in Situationen wieder, in denen er Büttners gesprochenes Wort nur erahnen konnte. Diesmal blieben hinsichtlich des puren Verständnisses kaum Zweifel, was der Polizeihauptmeister gesagt hatte. Und inhaltlich - da war sich Pytlik sicher - mochte sein Kollege wohl auch Recht haben.

      „Im Moment denke ich gar nichts. Lass uns das hier erst mal sauber abwickeln! Wenn die Spurensicherung da ist und ich mit der Strehmel gesprochen habe, fahr’ ich nach Hause. Duschen, umziehen, schauen, was mit Lydia ist und dann müssen wir uns zusammensetzen. Das gibt einen Riesenaufschrei. Vielleicht können wir uns bis Montag einen Vorsprung herausholen.“

      „Du maanst, dass mir dess bis Modich vor der Bresse verheimlichn könna?“

      „Müssen wir! Wir machen die Straße von Windheim und von oben her dicht, bis hier alles abgeschlossen ist.“

      „Und woss is mit Wanderer?“

      „Lass dir was einfallen!“

      Mit einem Blick auf den schwarzen Plastiksack im Wasser ging Pytlik zu Büttners Auto.

      ***

      Es war fast halb eins. Mittlerweile herrschte am Ölschnitzsee reges Treiben. Pytliks Assistent, Cajo Hermann, war ebenso vor Ort, wie mehrere Kollegen der Schutzpolizei und die Staatsanwältin aus Mitwitz. Der Freizeitsee spiegelte das Blaulicht der anwesenden Einsatzfahrzeuge flackernd wider. Pytlik lief mit Lisa Strehmel, Hermann und Büttner zur Uferstelle, an die zwei Beamte den Plastiksack mit Holzstöcken hingezogen hatten. Die beiden grüßten die Herankommenden kurz und schauten dann neugierig zu Büttner. Der wiederum schien Pytlik ein Zeichen geben zu wollen.

      „Na gut, wer weiß, wann die von der Spurensicherung kommen.“

      Der Hauptkommissar zog sich die Plastikhandschuhe über, die er bereits griffbereit hatte und ging vorsichtig die fünf Meter am steilen Hang hinunter zum Rand des Sees.

      „Seien Sie vorsichtig, Pytlik!“

      Lisa Strehmels gutgemeinte Warnung schmeichelte ihm. Er mochte die gutaussehende Juristin. Sie war stets sehr kooperativ und auch, wenn es einmal Meinungsverschiedenheiten gab, fanden die beiden starken Charaktere meist eine Lösung. Als er in die Hocke ging, um den mit Algen und Schlamm bedeckten Sack zu begutachten, stutzte er zunächst, dann fiel es ihm ein. Es schien kein herkömmlicher Plastiksack zu sein, vielmehr handelte es sich um eine Leichenhülle, die man nicht an jedem Kiosk bekommen konnte. Die, die Pytlik in seiner langen Dienstzeit schon gesehen hatte, sahen ähnlich aus.

      Der Sack war von den Verwesungsgasen aufgebläht. Es handelte sich um eine luftdichte Hülle, wie sie häufig bei Gefahr von Infektionskrankheiten in Erdbeben- oder Seuchengebieten verwendet wurden. Die Außennähte waren verschweißt. An den vier Tragelaschen hingen Seile, die an der Unterseite zusammenliefen und anscheinend am Grund des Sees befestigt waren. Die Taucher würden das überprüfen.

      Pytlik war komisch zumute. Auch wenn er schon einige Leichen gefunden oder in der Rechtsmedizin auf dem Seziertisch hatte liegen sehen - was würde ihn jetzt erwarten? Die klare Luft würde schon sehr bald mit faulig-süßen Dämpfen angereichert sein, die beiden Schutzpolizisten traten vornehm ein paar Schritte zurück. Der Reißverschluss war völlig unbrauchbar, Pytlik nahm das Messer, das ihm Büttner mitgegeben hatte, zur Hand und setzte den ersten Stich in die schwarze Hülle, während er gleichzeitig versuchte, seine Nase so gut wie möglich vor dem ausströmenden Gestank zu schützen.

      „Boah! Heiliger! Aaaah!“

      Pytlik wich ruckartig mit dem Kopf zur Seite. Die Gase, die ihm entgegen kamen, rochen bestialisch. Die Umstehenden zuckten ebenfalls zusammen und nahmen reflexartig die Hände vor das Gesicht. Pytlik zog sich den Jackenkragen über die Nase, um so wenig wie möglich von dem beißenden Gestank abzubekommen. Dann machte er sich daran, den Sack entlang des Reißverschlusses vorsichtig aufzuschneiden. Mit jedem Zentimeter mehr ergriff Ekel von ihm Besitz und er musste sich stark zusammennehmen, um nicht abbrechen zu müssen. Er dachte zur Ablenkung an Lydia. Wie ging es ihr wohl gerade? Was würde sie über diesen Tag, das Wochenende, ihre Beziehung denken? Mist, dachte Pytlik, nimm dich zusammen! Du musst das irgendwie in den Griff bekommen. Das hier geht vor! Er hörte von oben leises Murmeln und Wortfetzen wie „... bei Wasserleichen ganz schlimm...“ - „... möchte nicht mit ihm tauschen...“ oder „... je nachdem, wie lange die schon da unten gelegen war...“. Er meinte auch, von einem der Schutzpolizisten, ein bisschen weiter entfernt, so etwas wie „Wetten, dass er gleich kotzt?“ gehört zu haben. Wahrscheinlich aber nur Einbildung. Tatsächlich war es hart an der Grenze, als er die letzten Schnitte gemacht und die flügelartigen Gummifetzen des Leichensackes auf beide Seiten geklappt hatte.

      Langsam, fast bedächtig, entfernte sich Pytlik ein wenig von dem, was er auf den ersten Blick nur wegen Form und Größe als menschlichen Körper bestätigen konnte. Die Überreste waren bereits teilweise skelettiert. Wie er vermutet hatte, war nur wenig Wasser eingedrungen. Die Leiche war auch nicht von Maden oder sonstigen Insekten bevölkert. Spontan dachte er daran, dass hier jemand sehr professionell getötet hatte. Pytlik konnte gerade noch erkennen, dass es sich um einen Mann handelte. Von Kleidungsstücken oder sonstigen Gegenständen in der Hülle konnte er nichts feststellen. Außerdem fragte er sich, wie lange die Leiche bei diesem Zustand und den frostigen Temperaturen da unten schon gelegen haben mag. Doktor Weidner würde es herausfinden. Erst jetzt machte sich Pytlik Gedanken über den Kopf, der fehlte. Und darüber, dass es hier eigentlich gar keine Wasserleiche gab, sondern eine Leiche, die im Wasser abgelegt worden war. Aber er würde das nicht thematisieren.

      „Was ist das?“, war Lisa Strehmel als Erste zu hören.

      Pytlik fasste sich. Der Gestank hatte nun um sich gegriffen und alle Minen hatten sich deutlich verdunkelt.

      „Wenn ich es richtig sehe, ein menschlicher Körper! Ich vermute, dass es sich um einen Mann handelt und bin mir sicher, dass er keinen Kopf mehr hat.“

      Während Pytlik die Abscheu vor dem Entdeckten bereits abzulegen schien, stieß seine Feststellung bei den Anderen noch mehr auf Entsetzen. Einzig Strehmel behielt die Beherrschung. Nachdem sie ihren luxuriös anmutenden Wintermantel demonstrativ enger geschnallt und den Kragen hochgeklappt hatte, ging sie zurück zu ihrem Auto.

      „Gut, so groß ist dieser See ja nicht, dann warten wir halt auf den Kopf. Kann ja nicht so lange dauern, bis der auch noch auftaucht. Herr Pytlik, kommen Sie dann bitte noch zu mir!“

      ***

      Pytlik und Hermann saßen zusammen mit Lisa Strehmel in einem Einsatzbus der Schutzpolizei. Die Coburger Kollegen der Spurensicherung waren gerade angekommen und hatten die wichtigsten Informationen abgeholt, bevor sie sich an die Arbeit machten. Pytlik hatte sie gleich vorgewarnt, dass er die Leiche sozusagen schon geöffnet hatte.

      In Anwesenheit der Staatsanwältin mochten die „Weißkittel“, wie Pytlik sie nannte, nicht murren, was sie sonst in solchen Fällen aber gerne und ausgiebig taten. Für Pytlik jedes Mal aufs Neue ein leidiges Thema. Er telefonierte noch kurz mit dem Hotelmanager des Waldhotels „Goldenes Reh“, um ihm mitzuteilen, dass etwas dazwischengekommen war und er sich wieder bei ihm melden würde.

      „... ja, Herr von Mainegg. Wir werden die Ermittlungen in Ihrem Hotel so bald wie möglich abschließen. Dennoch müssen einige Punkte noch einmal geklärt werden. Das verstehen Sie sicherlich. Ich werde mich am Montag bei Ihnen melden. Bitte halten Sie sich zur Verfügung! - Ja, selbstverständlich. Geht in Ordnung. Schönen Tag noch, Herr von Mainegg.“

      „Arschloch!“ Pytlik zischte den Fluch kurz und bündig, nachdem er aufgelegt hatte.

      „Macht er Probleme?“, wollte Lisa Strehmel wissen. Sie hatte bereits unmittelbar nach den ersten Spurensicherungen im Fall der ermordeten Russin zwei Tage zuvor mit Pytlik gesprochen. Dem Hotelchef, Armin von Mainegg, schien die Tatsache, dass in seinem weithin bekannten Fünf-Sterne-Haus