ich dir aber“, gab Lydia selbstbewusst zurück und ließ Pytlik mit einem leichten Rempler fast aus dem Gleichgewicht geraten, was dieser mit einem jugendlichen „Ich krieg dich!“ quittierte und ihr hinterher rannte. Die Wogen schienen geglättet.
Der Ölschnitzsee - bei den Einheimischen schlicht der Freizeitsee genannt - war nach seinem Bau Mitte der 1980er Jahre zu einem beliebten Ausflugsziel über die Gemeindegrenzen hinaus geworden. Klein, aber fein, taugte er nicht nur an heißen Sommertagen für eine willkommene Abkühlung, sondern bot Ausflüglern aus Nah und Fern zu jeder Jahreszeit eine gute Gelegenheit, die Natur zu genießen.
Pytlik war einige Male mit Justus Büttner auf ein Feierabendbier hier gewesen und hatte mit seinem langjährigen Gefährten und Leiter der Schutzpolizei alte Zeiten Revue passieren lassen. An diesem Samstagvormittag zeigte sich dem Ermittler und seiner Begleitung ein atemberaubendes Bild. Der Frost hatte eine hauchzarte Eisschicht auf die Wasseroberfläche gezaubert und der Blick vom hinteren Ende des Sees vor zum Überlauf schien fast ein wenig irreal - kitschig vielleicht! Keiner von beiden wollte die Szenerie kommentieren, aber jeder spürte für sich den ganz besonderen Moment und genoss ihn. Zwei Minuten später waren die beiden selbst Teil des Bildes. Als sie gerade auf der Überlaufbrücke waren, stoppte Pytlik plötzlich.
„Mist! Warte! Ich hab’ einen Stein im Schuh.“
Lydia brach langsam ab, tippelte allerdings auf der Stelle weiter und wandte sich zurück.
„Komm schon, Franz! Du brauchst doch nur noch mal eine kurze Verschnaufpause vor dem letzten Anstieg. Gib es zu!“
Pytlik brauchte keine Verschnaufpause, allerdings wusste er in diesem Moment noch nicht, dass er bereits wenige Augenblicke später kreidebleich und sprachlos nach Halt suchen würde.
„Beeil’ dich! Ich lauf’ schon mal weiter, sonst friere ich hier fest.“
Kaum hatte Lydia die letzte Silbe gesprochen, begann vor des Hauptkommissars Augen ein nur wenige Sekunden dauernder Film, den er sein Leben lang nicht vergessen sollte. Ohne, dass er die Gefahr schon bewusst ahnte, nahm er die beiden Lichter des Fahrzeugs wahr, das sich, von der Frankenwaldhochstraße herunter kommend, der Brücke näherte. Im gleichen Moment - Lydia war gerade wieder losgelaufen - geschah das Unfassbare.
„Aaaaaaaaaah!“
Das ploppende Geräusch kam direkt von unterhalb der Überlaufmauer und übertönte das filigrane Knacken des millimeterdünnen Eises. Lydia, die sich genau auf Höhe des Ereignisses befand, reagierte gleich einem scheuenden Pferd vor einem plötzlich auftauchenden Hindernis. Mit einem schreckhaften Schritt zur Seite trat sie nach dem lauten Schrei auf eine tellergroße, zugefrorene Pfütze, rutschte aus, verlor das Gleichgewicht und war innerhalb von Bruchteilen einer Sekunde zum Spielball der Schwerkraft geworden. Pytlik, gute zehn Meter von ihr entfernt, hatte aufgehört zu atmen. Er wusste nicht, wohin er sich zuerst wenden sollte. Mit dem halben Oberkörper, den Kopf zur Straßenmitte gestreckt, lag Lydia nach ihrem Sturz auf der Fahrbahn und schien nach dem harten Aufschlag benommen zu sein. Pytlik war unfähig, etwas zu tun.
Von den großen Scheinwerfern des Kleinbusses geblendet, riss er den rechten Unterarm vor seine Augen.
„Lydiaaa! Neiiiin!“
***
Dem Quietschen der Reifen folgte eine unheimliche Stille. Ohne zu wissen, warum, schaute Pytlik zunächst nach rechts, dem Kleinbus hinterher, der nach einer Schlingerfahrt und anschließender Vollbremsung leicht quer versetzt über die beiden Fahrspuren stand. Pytlik nahm die Bremslichter, den ruhig aufsteigenden Rauch aus dem Auspuff und die vereiste Heckscheibe wie eine stille Bedrohung wahr. Seine eigene Angst bemerkte er nicht. Nach wenigen Augenblicken fuhr das Fahrzeug weiter, ohne dass sich der Fahrer oder sonst jemand gezeigt hatte. Pytlik war es nicht einmal wichtig, sich das Kennzeichen zu merken - wieso auch?
Lydia! Blitzschnell drehte er sich um. Seine Lebensgefährtin saß bereits wieder aufrecht auf dem Schotterweg, hielt sich aber mit beiden Händen den Kopf und jammerte schmerzvoll. Der Kleinbus war ihr im letzten Moment ausgewichen.
„Lydia! Wie geht es dir? Zeig mal! Schön langsam!“
Pytlik nahm Lydia in den linken Arm und untersuchte gleichzeitig mit seiner rechten Hand ihren Kopf und das Gesicht auf äußere Verletzungen. Sie schien bis auf Kopfschmerzen weitgehend unversehrt zu sein, allerdings hatte sie die Todesangst wohl ziemlich mitgenommen. Sie wimmerte leise vor sich hin und noch bevor Pytlik wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, stammelte sie mit ängstlicher Stimme und mit einer Geste hin zum Wasser, ohne den Blick zu heben: „Was war das? Was ist das?“
Pytlik war nun hellwach. Seit dem Moment, in dem er das Geräusch gehört hatte, war sein kriminalistischer Spürsinn aktiviert. Es gab nur eine Möglichkeit. Das idyllische Bild des mit einem leichten Eisüberzug bedeckten Ölschnitzsees hatte vor wenigen Augenblicken tatsächlich einen Riss bekommen. Ein schwarzer Plastiksack trieb ruhig an der Oberfläche.
***
Pytlik fasste in die kleine Gesäßtasche seiner Laufhose und rief zunächst Justus Büttner an, in der Hoffnung, dieser wäre zuhause und könnte am schnellsten vor Ort sein. Gleichzeitig würde er zwei oder drei Streifenwagenbesatzungen zum Freizeitsee beordern. Danach informierte er Cajo Hermann, den er beim Frühstücken in Kronach störte, ihm die Dringlichkeit der Situation aber unmissverständlich deutlich machte. Hermann wies er zudem an, alle erforderlichen Maßnahmen für die Bergung einer Wasserleiche in die Wege zu leiten. Die Staatsanwältin Strehmel zu informieren, übernahm Pytlik persönlich.
„Ja, äh, Pytlik, Kripo Kronach. Guten Morgen, Frau Staatsanwältin.“
Pytlik hatte sich in der Zwischenzeit zunächst noch um Lydia gekümmert, die sich nur schwerlich von den Geschehnissen zu erholen schien. Außerdem hatte er den Plastiksack in Augenschein genommen und mit erfahrenem Blick gemutmaßt, dass es sich beim Inhalt nur um menschliche Überreste handeln konnte.
„Ja, ich weiß, wie spät es ist, Frau Strehmel. - Nein, das ist es ja. Eigentlich war ich gerade auf dem Weg zum Waldhotel, einige Fragen klären wegen der ermordeten Frau. Wie wir das besprochen hatten. - Um es kurz zu machen: Kennen Sie den Ölschnitzsee in Windheim? - Ja, genau den. - Ich war hier joggen. Es gibt mit hoher Wahrscheinlichkeit eine weitere Leiche. Sie müssen kommen. - Doch, das ist mein Ernst!“
Pytlik war mittlerweile nicht mehr der Jogger am Samstag, er war seit Minuten der Hauptkommissar aus Kronach, der es nun womöglich mit zwei Leichen zu tun hatte. Daran, was in den nächsten Stunden und Tagen los sein würde, mochte er noch gar nicht denken. Er hoffte nur, dass Büttner genügend Decken und etwas Warmes zu trinken für Lydia und ihn mitbringen würde. Wenn nicht bald die Zufahrtswege abgesperrt würden, könnte es zu einem Auflauf neugieriger Menschen kommen. Der schwarze Plastiksack lag ungefähr drei oder vier Meter weit vom Brückengeländer des Sees entfernt ruhig im Wasser.
***
Justus Büttner reichte Pytlik alle mitgebrachten Decken, nachdem er sich zunächst bei Lydia vorgestellt und sich nach ihrem Befinden erkundigt hatte. Pytlik wollte sein Privatleben eigentlich so gut es ging von seinen Arbeitskollegen fernhalten. Die aktuelle Situation war nicht dazu angetan. Nachdem Lydia warm eingepackt und mit heißem Tee versorgt war, setzte sie sich in Büttners Auto, um sich dort weiter aufzuwärmen und auf die Streifenwagenbesatzung zu warten, die sie zu Pytlik nach Hause bringen würde.
„Hurnsaggramend, Franz! Dess gibbds doch nedd! Jetzt ach nuch a Wasserleich - wenns ana is! Woss issn genau bassierd?“
Pytlik erzählte Justus Büttner in Kurzform die wichtigsten Details. Die vom Schweiß nassen Klamotten hatte er ausgezogen. Mit einem übergroßen T-Shirt, einem XXL-Pullover und einer Jacke Büttners, die dieser mitgebracht hatte, sah der durchtrainierte Hüne ein bisschen komisch aus. Sein Kollege war eben eher der gemütlich-unsportliche Typ.
„Und? Woss dengsda? Dess konn duch ka Zufoll sei! Also, ich mahn, stell dir moll vor: Vorgestern werrd die Russa im Hodell erschossn, heud wumöchlich nuch a Leich, an Staawurf weid entfernd. Dess is ka Zufoll, glaab mer dess!“
Hätte