er an ihnen vorbei rauschte. Mittlerweile war er willkommen, sie kannten ihn und wussten, welche Stellung er für den Boss einnahm. Anfangs hatte Nemir mit Anfeindungen und Misstrauen zu kämpfen. Die Gefallenen duldeten in der Regel nur ihresgleichen unter ihnen. Seitdem er, zusammen mit der Auserwählten, einen Erfolg erzielt hatte, gab es keine Schwierigkeiten mehr mit den Gefallenen. Unabhängig davon konnte er ihnen nicht direkt in die Augen sehen. Das lag an seinen bisherigen Erfahrungen und die Qualen, die er erlitten hatte, bevor der Boss ihn aus der Gefangenschaft befreit hatte. Endlich! Er konnte das Eingangstor vor sich sehen, hinter dem sich die Räumlichkeiten von Arabas befanden. Die zwei Wachposten am Tor nickten ihm kurz zu, bevor sie das Tor öffneten und ihn durchließen. Nemir schlüpfte hindurch und erschrak jedes Mal, sobald das Tor polternd hinter ihm zufiel. Er hasste dieses Geräusch. Sein Herz raste und sein Atem ging flach. Mit seinen Klauen wischte er sich Spucke aus dem Gesicht. Sobald er Arabas sehen konnte, war er erleichtert. Er war da. Arabas nahm aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr und drehte sich um. Sobald er Nemir auf sich zurennen sah und den gehetzten Ausdruck in seinen Gesichtszügen deutete, entließ er den Leibwächter.
„Nemir“, rief er ihm entgegen, „wieso hat das so lange gedauert?“ Nemir blieb direkt vor ihm stehen, senkte den Kopf und schielte mit entschuldigendem Blick aus den schwarzen Kulleraugen zu ihm auf.
„Ich mich beeilt, beeilt ich mich, Boss“, plapperte er drauf los. Arabas schmunzelte über ihn und verschränkte die Hände hinter seinem Rücken. Er sah zu ihm herunter und nickte leicht.
„Das kann ich sehen, Nemir. Du bist außer Atem. Ich nehme an, du bringst Neuigkeiten für mich?“ Nemir drehte sich hüpfend im Kreis und klatschte in die Hände. „Sag mir, was du herausgefunden hast.“ Nemir sah Arabas direkt an und dachte kurz nach. Offensichtlich überlegte er noch, wie er sich ausdrücken sollte. Arabas wusste, dass Nemir mit der Sprache Schwierigkeiten hatte, vor allem wenn er nervös war. Er würde sich in Geduld üben müssen, obwohl er darauf brannte, die Information zu erhalten.
„Schlimm, ganz schlimm, Boss“, setzte Nemir an. „Gabriel nicht mehr da, ... er weg, jetzt neuer da, ... dunkler Engel, groß und stark er ist, groß und stark, jahaa.“ Arabas hörte aufmerksam zu und runzelte die Stirn.
„Was redest du da? Gabriel ist weg? Wo ist er?“ Nemir holte Luft und fuchtelte mit den Klauen vor sich herum.
„Neuer Engel da, ... er jetzt das Sagen hat. Nicht allein, nicht allein. Da noch zwei sind, noch zwei wunderschön, ich nicht kennen die Zwei.“ Arabas dachte über seine Worte nach. „Sie Auserwählte wollen und ihren Engel, beide wollen, beide, beide, beide. Sind schon auf den Weg, Boss. Böse Geliebte auch.“ Arabas hörte das Wort Auserwählte und das war alles, was er wissen musste. Ariana war in Gefahr. Und Jazar ebenfalls, wenn er Nemir korrekt verstand. Böse Geliebte? Damit meint er vermutlich Ophelia. Was hatte das zu bedeuten? Es half alles nichts. Arabas seufzte und beugte sich zu Nemir herunter.
„Ich muss diese eine Sache tun, Nemir“, meinte er entschuldigend zu ihm. Nemir riss die Augen auf und wimmerte. „Ich werde dir nicht wehtun, Nemir. Das verspreche ich dir.“ Arabas lächelte ihm zu, bevor er seine Hände auf Nemirs Kopf legte, die Augen schloss und in seine Erinnerungen vordrang. Jedes Mal wenn er das tat, war es für Arabas enorm schwer, sich in Nemirs Gedanken zurechtzufinden. Aus diesem Grund vermied er diese Prozedur. Dieses Mal war es zu dringend. Sie konnten nicht warten. Er musste wissen, was Nemir wusste und was er beobachtet hatte. Es dauerte eine Weile, bis Arabas in Nemirs Kopf fand, wonach er suchte. Er verfolgte stumm das Gespräch von drei Engeln. Danach sah er seinen Vater Gabriel, wie dieser abgeführt wurde. Sobald Arabas genug gesehen hatte, ließ er Nemir frei und tätschelte beruhigend seinen Kopf. „Danke Nemir. Das hat geholfen. Geht es dir gut?“ Nemir zappelte nervös und legte den Kopf schräg. Er nickte eifrig. Er schien sich daran zu gewöhnen. Arabas wusste, dass nur er das bei ihm tun durfte. Es zeugte von seinem Vertrauen, welches er in ihn setzte. Er hatte nicht vor, dieses Vertrauen aufs Spiel zu setzen. Nemir war ihm ans Herz gewachsen. Er würde ihn zu jeder Zeit beschützen und auf ihn achten. Er winkte seinen Bediensteten und befahl für Nemir Essen zu bringen. Nemir stürzte sich sofort auf das Fleisch und fing an zu essen. Arabas wusste nicht, wie lange es her war, seitdem er gegessen hatte. Normalerweise würde er ihn tadeln, er solle langsamer essen, dieses Mal beließ er es dabei. Seine Gedanken kreisten um das, was er in Nemirs Kopf gesehen hatte. Er war beunruhigt. Das entwickelte sich ganz und gar nicht so, wie er das wollte. Er hatte erkannt, wer der neue Befehlshaber war. Es handelte sich um niemand anderen als Rafael, der Erzengel Rafael. Und zu allem Überfluss hatte er zwei der begabtesten Engel an seiner Seite, die für ihn kämpften und seine Ziele umsetzten. Das war schlecht. Hinzu kam, dass sein Vater keine Befehlsgewalt mehr hatte. Das bedeutete, dass das Versprechen, welches er ihn gegeben hatte, hinfällig war. Arabas hatte Gabriel das Versprechen abgenommen, dass er und sein Gefolge in Ruhe gelassen werden von den Engeln. Dieses Versprechen behielt Gültigkeit, solange Gabriel der Befehlshaber war. Arabas seufzte schwer. Von nun an standen die Gefallenen wie gehabt auf der Liste der meist gesuchtesten Verbrecher, wenn es um die Engel ging. Als ob das noch nicht genug war, befand sich Ariana ebenfalls in Gefahr, genauso wie ihr Beschützer Jazar. Allerdings wusste Arabas noch nicht aus welchem Grund. Was wollte Rafael von der Auserwählten? Und was von Jazar? Der Engel war freiwillig gefallen und erinnerte sich an nichts mehr. Er war keine Gefahr für den Erzengel. Oder? Ausgerechnet Sariel. Er war ernsthaft besorgt. Sariel, der Vollstrecker genannt, war ein gefährlicher Gegner, weitaus gefährlicher als sein Bruder oder Rafael. Sariel unterstand zwar Rafael, dennoch umging er gern Befehle und handelte eigenmächtig. Dieser gefährliche Engel war auf den Weg zu Ariana, die keine Ahnung hatte. Arabas sah sein eigenes Vorhaben davon schwimmen. Es nützte alles nichts. Er konnte jetzt noch kein Mensch werden. Er brauchte seine Fähigkeiten und seine Beziehungen, wenn er Ariana helfen wollte. Das wollte er um jeden Preis. Das schuldete er ihr. Dass da Gefühle mit im Spiel waren, beachtete er nicht. „Hast du irgendetwas über den freien Fall herausfinden können, Nemir?“, fragte er. Nemir sah kurz von seinem Essen auf. Mit vollem Mund versuchte er, die Frage zu beantworten:
„Nicht viel, Boss, nicht viel. Ich wissen, Rafael nicht wollen, dass andere darüber mehr erfahren. Besonders Auserwählte nicht, besonders Auserwählte und Menschen nicht, die Menschen nicht, Boss.“ Arabas nickte unzufrieden und grübelte. Rafael wusste mehr darüber, weitaus mehr. Aus einem bestimmten Grund wollten die Erzengel nicht, dass mehr über den freien Fall bekannt wurde. Arabas war sicher, dass es nicht nur darum ging, dass die Menschen davon nichts wissen sollten. Seit jeher wurde ein Geheimnis darum gemacht, speziell unter den Engeln. Niemand wusste genau, was für Auswirkungen der freie Fall auf einen Engel hatte. Bisher konnte Arabas keinen Engel finden, der freiwillig gefallen war. Das war seltsam. Sicher hatte es nicht nur Jazar gegeben, der diese Entscheidung getroffen hatte. Wo waren die anderen Engel, die dasselbe Schicksal trugen, wie Jazar? Weshalb wollten die Erzengel, dass nichts darüber bekannt wurde? Arabas hatte ein mieses Gefühl, desto mehr er darüber nachdachte. Er überlegte sich bereits die nächsten Schritte. Als Erstes musste er sein Gefolge in Alarmbereitschaft versetzen. Der Frieden war vorbei. Sie konnten jederzeit mit einem Angriff rechnen. Es wurde Zeit für ihn zu gehen. Arabas wusste genau, wo er jetzt sein musste. Hoffentlich kam er nicht zu spät.
Ariana wälzte sich im Bett hin und her. Ihr gequältes Stöhnen erklang im Schlafzimmer, vermischt mit einzelnen Wortfetzen, die sie im Schlaf unbewusst von sich gab
„Nein ... nicht jetzt ... ich muss ihn finden, lasst mich.“ Ihre Arme nach oben gestreckt, schien es, als ob sie jemanden von sich stieß. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten und sie schlug in der Luft zu. Mit ihren unkontrollierten Bewegungen kam sie gefährlich nahe dem Bettrand. Die Bettdecke lag auf dem Boden. Ohne Vorwarnung fiel sie aus dem Bett und landete unsanft auf dem Boden. Mit aufgerissenen Augen suchte sie die Gegend ab, orientierte sich und senkte frustriert ihren Kopf. Sie setzte sich im Schneidersitz auf den Boden und wischte ihre Haare aus dem Gesicht. Schweiß bedeckte ihren Oberkörper, der mit einem weißen Unterhemd bekleidet war. Wie oft verfolgte sie dieser Traum schon? Sie hatte aufgehört, mitzuzählen. Dieses Mal war es aufwühlender, sodass sie aus dem Bett gefallen war und somit aus ihrem Schlaf gerissen wurde. Es war mitten in der Nacht und stockdunkel im Schlafzimmer. Ihr Blick richtete sich auf den Wecker, der auf dem Nachttisch stand. Zwei Uhr in der Nacht. Sie hatte erst zwei Stunden geschlafen. Falls man von Schlaf reden konnte, bei dem