selbst den Kilometerzähler wieder auf Null gedreht hat?“ Dieser Vergleich löste beim Publikum das Platzen einer Lachbombe aus, so, als ob es schon leicht angeschickert in den Saal gekommen wäre oder die Studioluft hohe Erwartungen in dieser Richtung geweckt hätte. Jedenfalls amüsierte es sich und klatschte Beifall, und während dem grinste Alice Wunderland – bequem in ihrem Stuhl zurück gelehnt – so breit, als würde sie eine Banane quer essen. Und Vico Stricher wusste, dass er an diesem Abend sein Publikum nicht nur im Studio im Griff hatte, sondern auch zu Hause vor den Bildschirmen. Einzig Ali Baba spürte, wie seine ganze Kultur mit seinen Traditionen und ihm selbst den Bach herunter gingen. Er kam sich vor, wie entblößt und hatte den heißen Wunsch, dass jetzt irgendetwas in der Luft zur Rettung heran fliegen mochte.
„Meine Damen und Herren“, der Moderator hob seine Hand, um die Zuschauer/innen zu beruhigen, denn irgendwie musste die Sendung weiter gehen, da trommelten die Leute noch einmal – wie zum Abschluss – mit den Füßen auf den Boden. In dem Moment kam einer der zwei Herren vom Sicherheits-Risiko hinter dem Paravent aus seinen Tagträumen in die Realität. Er hatte eine ganze Weile nicht zugehört und fragte nun seinen höchst amüsierten Kollegen, was denn los wäre. Der Kollege erläuterte kurz, dass bei vorehelich entjungferten Türkinnen mittels zwei Stichen mit einer Nähnadel der Kilometerzähler wieder auf Null gestellt werden könnte. Dem Manne erschien vor seinem geistigen Auge die entsprechende Szene beim Frauenarzt, und auch er musste nun heftig lachen und sah sich veranlasst, vor Vergnügen mit der Hand auf seinen bedeckten Oberschenkel zu schlagen. Dabei löste sich durch die Erschütterung aus seiner entsicherten Waffe ein Schuss, die Kugel durchschlug ohne Mühe die Stellwand und mähte ein Bein von Frau Wunderlands Stuhl nieder. Diese stürzte vor Schreck Richtung Herrn Baba in die Kakteen hinein, dass dem Herrn die Töpfe um die Ohren flogen. Dieser hatte nun den dringenden Wunsch, sich vor der Feministin in Sicherheit zu bringen und wollte nur noch zum Ausgang. Dabei warf Herr Baba erst Vico Stricher um und dann zwei Stellwände des Studios. Dahinter wurden für die Kameras eine fahrbare Kantine mit Süßigkeiten und Getränken sichtbar sowie Kabellagen und übrig gebliebenes Putzpersonal.
Das Johlen des Publikums war nach dem Schuss in Schreien umgeschlagen, und während es zu den Ausgängen flüchtete, rannten die Studiomitarbeiter/innen wild im Kreis herum und rissen mit unkontrollierten Bewegungen den Rest der Stellwände, die Herr Baba verfehlt hatte, nieder. Den Kameras bot sich nun der unverhüllte Blick in die Studiokulissen auf ausgediente Bühnenbilder, alte Dekorationen und Gerümpel. Chaos! Der Produktionsleiter wunderte sich, dass die Kameras dieses Desaster übertrugen und ahnte, dass die Regisseurin in Schockstarre geraten war. Er bellte in sein Mikro: „Aus, aus!“, hastete in den Regieraum und drückte selbst den erlösenden Knopf. Die Sende-Automatik würde nun dafür sorgen, dass nach wenigen Sekunden Dunkelheit auf den Bildschirmen zu Hause ein Softporno anlief.
Nachdem keine weiteren Schüsse mehr gefallen waren, beruhigte sich das im Studio verbliebene Publikum, kurz danach auch das Personal. Nach ein paar Minuten wurde der Porno unterbrochen, und eine Ansagerin erschien auf den Bildschirmen, die um Verständnis für den Abbruch der Sendung ‚Verbotene Laber‘ bat. Ein Extremist – von welcher Seite wisse man noch nicht – hätte einen Schuss abgegeben. Durch den Schuss sei zwar niemand verletzt worden, doch ein Studiogast, die Feministin Alice Wunderland, stehe unter Schock, die Gewalt ihrer Rede hatte sie zutiefst bewegt. Der zweite Gast, Herr Ali Baba, wäre spurlos verschwunden, und es würde nach ihm gesucht. Der Moderator aber wäre wieder wohlauf. Die Polizei täte alles, den Fall vollständig aufzuklären. Die Einschaltquote hatte sich seit der Abgabe des Schusses verdoppelt.
Mehr konnte man von einer Sendung nicht verlangen. Ja, Vico Stricher verstand es immer wieder, es auf den Punkt zu bringen. Er war einfach Klasse. Der Geschäftsleitung des Senders war klar, dass sie für die Werbeminuten nun noch mehr Geld würde abkassieren können, da dieser Vorfall weiteren Auftrieb in der Publikumsgunst bringen würde. Nachdem nun die Luft im Studio sogar bleihaltig geworden war, einigte man sich, von den Mehreinnahmen aus der Werbung eine Gefahrenzulage zum Honorar für Herrn Stricher zu genehmigen. Das hatte er verdient.
7 Die Dame ohne Unterleib
Eines frühen Morgens befand ich mich in Warteposition vor einem Studio im Hochhaus des Senders ‚TELLI‘ und wollte für den regionalen Radiokanal einen O-Ton abgeben. Das mir angewiesene Studio war allerdings noch geschlossen, der Techniker würde sich wohl verspäten. Ich ging den Gang entlang und betrachtete die Poster an den Wänden, die den Sendungen zugeordnet waren, als zwei Mitarbeiterinnen gleichzeitig von verschiedenen Richtungen kommend in das Studio nebenan gingen. Zufällig blieb die Tür wohl aus Nachlässigkeit einen winzigen Spalt breit offen – die Damen hatten nicht auf mich geachtet, denn da sie mich nicht kannten, musste ich wohl eine Freie sein, die auf jemanden wartete. Während ich mich für möglicherweise Vorübergehende in das Studium eines Posters vertiefte, wuchsen meine Ohren zur Rhabarberblattgröße an. Hier die Unterhaltung des Duos:
Gabi: Guten Morgen, Uschi. Dann wollen wir mal wieder!
Uschi: Ja, hallo, Gabi. Ich muss dir direkt etwas erzählen. Ich steh‘ noch unter Schock.
Gabi: Ist was passiert? Dein Auto?
Uschi: Nein, ich habe gerade noch fern gesehen …
Gabi: Schon morgens? Uschi!
Uschi: Na und? Du, stell dir vor, eine Talk-Show, es war eine Wiederholung von gestern Abend. Die haben im Fernsehen einen Mann, einen ausgewachsenen Mann, gebracht, der sich gern windeln ließ!
Gabi: Was? Windeln? Hat der das gesagt?
Uschi: Ja, deswegen hatten die ihn überhaupt eingeladen. Der Typ, dieser Moderator …
Gabi: Vico Stricher?
Uschi: Richtig, Vico Stricher, der hat das so dargestellt, als ob Sich-windeln-lassen das Normalste von der Welt wäre.
Gabi: Für Babies schon.
Uschi: Gabi, wer spinnt denn jetzt hier, der Windelmann oder der Moderator?
Gabi: Es gibt noch eine dritte Möglichkeit.
Uschi: Ja?
Gabi: Der Vico Stricher ist entweder selbst ein Windelmann oder wäre gern einer.
Uschi: Haha.
Gabi: Derzeit ist ‚Pervers‘ der Renner. Selbst hier im Haus. Das Fernsehen hat heute die Rolle des Jahrmarkts von früher. Da werden siamesische Zwillinge gezeigt, die Dame mit Bart oder ohne Unterleib und so weiter. Und die Leute finden das gut.
Uschi: Ja, aber die Dame ohne Unterleib möchte ich auch gerne einmal sehen.
Gabi: Uschi!
Uschi: Doch. Das ist interessant. Weißt du eigentlich, dass ich noch nie deinen Unterleib gesehen habe? Ich meine eher so deine nackten Beine im Sommer oder so?
Gabi: Nein?
Uschi: Du gehst auch immer so komisch. Du schwebst richtig. In deinen langen weiten Röcken. Manchmal, wenn ein Windstoß von vorn kommt, geht dein Rock so weit zurück, dass ich denke, du hättest keinen Bauch oder einen extrem flachen.
Gabi: Das ist auch kein Wunder.
Uschi: Nein?
Gabi: Ja, denn ich bin eine Dame ohne Unterleib (in dem Moment gab es ein Geräusch, als wenn etwas zu Boden gefallen wäre).
Uschi: Was? Ich hätte doch frühstücken sollen. Oder seh‘ ich noch fern?
Gabi: Nein, nein, das ist schon ganz richtig. Ich kaschiere das immer mit mehreren Röcken übereinander – und du wirst bemerkt haben, ich trage immer nur Stiefel. Auch sommers.
Uschi: Ja, eh, Moment mal. Du willst damit sagen, dass du deinen Unterleib nicht einsetzt, soviel ich weiß, hast du keinen Freund, also …
Gabi: Nein, nein, ich habe wirklich keinen Unterleib. Natürlich kann ich ihn dann auch nicht einsetzen. Hast du mich je essen sehen?
Uschi: Nein.
Gabi: Siehst du.
Uschi: