Didier Desmerveilles

Stieg Larsson lebt!


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war rau und fest, aber Edelgard beruhigte sie in keiner Weise.

      »Ist er denn schon achtzehn?«, erkundigte sie sich mit bröckliger Stimme.

      »Ich will 'ne rote Silvesterrakete«, wiederholte der Irre. Hilfesuchend blickte sie die andern beiden an.

      »Tut mir leid, er ist aus der Anstalt weggelaufen«, erklärte der große Blonde. »Ich soll eigentlich auf ihn aufpassen, aber er ist mir einfach durchgebrannt, und jetzt muss ich ihn zurückbringen. Wissen Sie, er leidet nämlich an Quinde­cimviri­orumque, und immer zur Adventszeit ist es dasselbe mit ihm: Die Tage werden kürzer, es gibt Frost, und der erste Schnee fällt, und da denkt er immer gleich an Weihnachten und an Silvester – und an rote Silvesterraketen. Die hat er so gern. Und jedes Mal, wenn wir dann an Ihrem Tabakladen vorbeikommen, dann kann ich ihn einfach nicht mehr halten. Er weiß, hier gibt's die Raketen, und dann wird er jedes Mal ganz wild und quengelt rum.«

      Der andere Junge, der etwas untersetzt war, fügte hinzu: »Er hat sogar extra ein Weihnachtsgedicht für Sie auswendig gelernt.«

      »Mmmh«, nickte der Irre, sichtlich von Stolz übermannt.

      »Na los, Jimmi!«, befahl der Große.

      »Advent, Advent, ein Lichtlein brennt«, stammelte der Irre und sah Edelgard treuherzig an, »erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier, dann stehn Raketen vor der Tür!«

      »Und dann gibt's noch viel mehr Lichter«, ergänzte der Große, »all die schönen Silvesterraketen, die explodieren, nicht, Jimmi?«

      Jim sagte Ja und klatschte vor Begeisterung in die Hände, was ziemlich ungelenk wirkte. Die Tabakhändlerin, die ein gutes Herz hatte, sah bereits all ihre guten Vorsätze und Prinzipien sich in Luft auflösen, aber sie durfte ganz einfach ihre Pflicht nicht verletzen, nein, sie musste jetzt stark sein, und deshalb sagte sie, von Mitgefühl ergriffen, dass es ihr leid tue, aber: »Ich kann ihm die nicht verkaufen.«

      »Ich will aber 'ne rote Silvester­rakete!«, quengelte Jim inzwischen beinahe weinerlich.

      »Nun sei nicht so stur, du hörst doch, dass das nicht geht. Die Dame kann dir keine rote Silvesterrakete verkaufen. Komm jetzt, wir müssen gehen.«

      »Ich will aber nicht gehen.«

      »Wirst du schon wieder ungezogen?«

      »Ich will 'ne rote Silvesterrakete!«, sprach Jim und setzte sich entschlossen auf einen Stuhl neben der Ladentür.

      Frau Kruse zugewandt, erklärte der Große: »Es tut mir leid, er ist manchmal ein bisschen bockig.« Und zu Jim sagte er zornig: »Du kommst jetzt mit!« und packte ihn mit Gewalt.

      »Nee!«, rief Jim, sträubte sich und riss sich von dem Großen los, der nun zu resignieren schien: »Also gut, wie du willst. Du kannst ja von mir aus hierbleiben, aber wir gehen jetzt!«

      Tatsächlich verließen die beiden mutmaßlichen Aufseher abrupt den Laden. Sie ließen ihren Schützling einfach zurück. Der blieb mit verschränkten Armen beleidigt auf dem Stuhl sitzen, während Edelgard Kruse unschlüssig hinter der Ladentheke stehen blieb und ihn beobachtete.

      »Mensch, die können mich doch nicht mit dem hier alleine lassen!«, sprach sie spürbar entrüstet vor sich hin.

      Nach einer Weile geschah etwas Sonderbares: Jim rutschte erst langsam vom Stuhl auf den Boden, dann begann er plötzlich zu zucken wie unter elektrischen Schlägen und wälzte sich unter erbärmlichen Blöklauten auf dem Boden hin und her.

      »Du meine Güte! Was mach' ich denn jetzt?«, schrie Edelgard Kruse. Man merkte ihr an, dass sie mit dieser Situation hoffnungslos überfordert war. Minuten verharrte sie ratlos vor dem Zuckenden, der schaumigen Speichel auf ihren Holzfußboden sabberte ehe, zu ihrer Erleichterung und Erlösung, die beiden anderen Jungen zurückkamen.

      »Ach du Schande«, rief der Große sofort aus, als er das Unglück sah, »er hat wieder einen Anfall! Und Sie stehen da einfach so rum? Hätten Sie ihm nur seine verdammte Silvester­rakete gegeben!«

      »Das darf ich doch nicht!«, verteidigte Edelgard sich verzweifelt.

      »Hat er das schon lange?«, erkundigte sich der Große mit sachver­ständiger Miene.

      »Vielleicht eine Minute, das fing gleich an, nachdem Sie weg waren.«

      Der Große beugte sich nieder zu Jim, nahm ihn in den Arm. Der Untersetzte eilte ihm zu Hilfe, und gemeinsam stellten sie Jim wieder auf die Beine. »Ganz ruhig, Jimmi, ganz ruhig!«, redeten sie ihm zu.

      Während der Untersetzte sich weiter um Jimmi kümmerte, klärte der Große Frau Kruse auf: »Wissen Sie, das kann bei Quindecim­viriorumque schon mal vorkommen. Er ist sehr labil. Sobald ihn irgendetwas zu sehr aufregt...«

      »Komm jetzt«, sagte der Untersetzte zu Jimmi. »Was wolltest du denn auch nicht auf uns hören! Das hast du nun davon.« Endlich verließen sie, Jim gemeinsam stützend, den Laden. »Äh ja, also dann auf Wiedersehen!«

      Lieber nicht, dachte Edelgard Kruse und atmete auf, als die drei aus ihrem Geschäft verschwunden waren. Zwei Jahre, sagte sie sich, zwei Jahre noch.

      Was sich anschließend draußen auf der Straße abspielte, sollte Edelgard Kruse zum Glück nie erfahren. Wenige Meter von ihrem Tabakladen entfernt, brachen die drei seltsamen Genossen lauthals in Gelächter aus. »Auf Wiedersehen! Wenn die uns noch mal wiedersieht, bricht die tot zusammen! Das war echt die Härte!«, rief der Große. Sein Name war Hasso.

      »Das Gesicht von der Alten, wie ich mich da vor ihr am Boden gewälzt hab', vergess' ich nie«, keuchte der wundersam genesene Quindecim­viriorumque-Patient, der in Wirklichkeit Tim und nicht Jim hieß.

      »Die arme Frau, die hat bestimmt 'n Schock fürs Leben! Jungs, wir sind Schweine!«, brach es aus Hasso heraus.

      »Stimmt. Aber dein ›Entschuldigen Sie bitte, aber das ist Jim!‹ war einfach zu genial! Dafür hat sich das Ganze schon gelohnt.«

      Jetzt meldete sich auch der Dritte im Bunde zu Wort, der, obschon er in Wirklichkeit natürlich anders hieß, auf den Namen Kirri hörte: »Wir müssen ächt ärre sein, hier so'n Scheiß zu veranstalten. Aber auf der andern Seite hat die Alte auch selber schuld. Sie hätte uns eben damals in der Fünften die Ufos verkaufen sollen, anstatt sich so anzustellen, von wegen minderjährig und so.«

      »Quindecimviriorumque! Ich lach mich tot!«, brüllte Hasso. »Bin nur froh, dass ich das ohne Versprecher hingekriegt hab'. Und ohne Lachkrampf!«

      »Du Dödel, das muss Quinde­cimvirorumque heißen«, verbesserte ihn Tim, »ohne i; vir ist doch normale O-Deklination, also muss der Genitiv Plural virorum heißen, oder liege ich falsch?«

      »Das wird mir jetzt zu vir, äh, wirr«, kam die Antwort. »Und außerdem Scheiß drauf, meinst du, die Alte kennt sich aus mit unsern Lateinvokabeln?«

      »Naja, eine hat sie jedenfalls heute gelernt!«

      »Und dann war sie mit ihrem Latein am Ende, hihi!«, schloss Kirri mit seiner kauzig-hellen, vom einsetzenden Stimmbruch zusätzlich entstellten Stimme.

      »Ich fürchte, das sind wir gleich auch«, nahm Tim nach einem Blick auf seine Armbanduhr den Faden wieder auf, »sofern das für Mathe die richtige Formulierung sein kann.«

      »In Mathe war ich mit meinem Latein schon immer am Ende«, meinte Kirri, der nun seinerseits zur Uhr blickte und sogleich mit Schrecken feststellte: »Oh Mann, Scheiße, jetzt versteh' ich, was du meinst. Wir kommen zu spät! Wir kommen zu spät zur Mathestunde!«

      »Ein Blitzmerker eben!«, sagte Hasso zu Tim und klimperte ironisch mit den Augenlidern.

      »Ich glaube, Jungs«, meinte Tim, »wir haben diese Freistunde zur Genüge ausgereizt. Los jetzt, dalli!«

      »Nur noch fünf Minuten. Scheiße, das schaffen wir nie!«, seufzte Kirri.

      »Oh, Kirri! Halt die Klappe«, erwiderte Hasso, »und verlier' nicht immer gleich die Nerven. Das schaffen wir locker.«