Didier Desmerveilles

Stieg Larsson lebt!


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sozusagen vollständig aus seinem Wortschatz zu verbannen. Er sagte jetzt »quasi«, aber er hütete sich davor, mit diesem Wörtchen allzu verschwenderisch umzugehen, und benutzte es nur, wenn es unbedingt notwendig und von der Sache her einfach unumgänglich war – zumindest in der Klasse von Hasso und Tim.

      Im Rahmen dieses umfassenden Parodie-Programms, das mit der Zeit für nahezu jeden aus dem Lehrkörper Verwendung hatte, als Vorlage für eine grobe Verzerrung, konnte auch Kirri sich behaupten. Er war nämlich im Zeichnen wesentlich begabter als Hasso und Tim und zeichnete für eine Rubrik mit dem Titel Das Lehrerkabinett verantwortlich. Es handelte sich um Karikaturen, für deren Sprechblasentexte Tim zuständig war. Im Lehrerkabinett – alternativer Titel: Lehrer­hitparade – wurden die Lehrer in der Reihenfolge ihrer Beliebtheit aufgelistet. Die Liste ergab sich aus einem Punktesystem, das Hasso entwickelt hatte: Jeder Schüler konnte einen Stimmzettel erwerben, auf dem die fünf beliebtesten Lehrer eingetragen und mit Punkten von fünf bis eins bedacht werden mussten. Den ausgefüllten Zettel konnte man in den Briefkasten der Schülervertretung im Erdgeschoss des Schlosses werfen. Auf der Grundlage dieser Stimmzettel – bei einem Punkte­patt gaben Hassos Zeugnis­noten den Ausschlag – erschien dann zwei Mal jährlich Kirris Lehrerkabinett, für das sich später der Name Gruselkabinett durchsetzte, in der von der Schüler­vertretung herausgegebenen Schülerzeitung mit dem bezeichnenden Titel Vox Populi. Die Zeitungsredaktion war selbstver­ständlich in fester Hand der Pyramide.

      Unausgesprochen stand zwischen Hasso und Tim eine kameradschaftliche und doch verbissene Rivalität, die gewissermaßen die Schattenseite ihrer gemeinsamen Interessen und Begabungen war. Ohne dass er es sich selbst eingestand, wollte jeder von ihnen der bessere Schüler, der beliebtere Mitschüler, der am meisten bewunderte Schauspieler und Kabarettist sein. Kirri stand mit seinen ganz anders gearteten Fähigkeiten und Interessen außerhalb dieses Vergleichs, war gleichsam außer Konkurrenz. Was die schulischen Leistungen anging, musste Hasso akzeptieren, dass er Tim nicht das Wasser reichen konnte. Tim glänzte in allen Sprachen, in Geschichte, Religion und Musik. In den naturwissenschaftlichen Fächern war Hasso der Bessere. Doch richtig glänzen konnte er nur in Sport. Der bessere Notendurchschnitt blieb Tim vorbehalten, was infolge der leistungs- und eliteorientierten Mentalität, die im Schloss herrschte, niemandem verborgen blieb, niemandem außer vielleicht Kirri. Ihm war Ehrgeiz im Kampf um gute Noten völlig fremd.

      Ihre Lust an der Schauspielerei und Zur-Schau-Stellerei brachte Hasso und Tim nicht nur auf so unnütze und geradezu verwerfliche Ideen wie die Ufo-Rache im Tabakladen, sie brachte sie auch auf den Gedanken, im Schloss eine Theater­arbeits­gemeinschaft, kurz TAG, zu gründen. Sie waren inzwischen in der Untertertia, dem achten Schuljahr. Die Ansprüche stiegen. Gespielt werden sollte, um Probleme bei der Kostümbeschaffung zu umgehen, eine in die Gegenwart verlegte Fassung von Schillers Räubern. Hasso betrachtete es von vornherein als Selbstverständlichkeit, dass er Hauptrolle und Regie übernehmen würde. Doch schon auf der ersten TAG-Sitzung gab es diesbezüglich Unstimmigkeiten. »Man kann nicht gut Regie führen und auch noch den Karl spielen«, urteilte Bert, einer der als Schauspieler engagierten Mitschüler. »Wer soll dir denn sagen, ob du gut wirkst, so wie du spielst? Du kannst dich selbst ja nicht von außen sehen.«

      »Das kann doch einer übernehmen, der in der betreffenden Szene nicht auftritt – als Regieassistenz«, entgegnete Hasso gereizt. Doch im gesamten Planungsgremium von insgesamt elf Leuten regte sich Widerstand gegen Hassos als selbstherrlich empfundene Ansprüche. Dass selbst sein bester Freund Tim mit Kritik an seiner Einstellung nicht sparte, wenn er sie auch noch so sachlich vortrug, erbitterte Hasso zusätzlich. Am Ende bekam Tim die Rolle des Karl von Moor, und Hasso musste sich mit der seines bösen Bruders Franz begnügen. Alle fanden, dass die Figur besser zu Hasso passe. Als weitere Maßnahme wurde der Registrierten komplett abgeschafft und in die Hände eines »Gruppenkollektivs« gegeben, dem auch Hasso angehören durfte. Doch der war damit alles andere als glücklich. »So wird das nie was«, lamentierte er, »wir brauchen einen, der die Entscheidungsgewalt hat, der im Extremfall sagt, was Sache ist und wie etwas gemacht wird. Sonst ist das einfach unprofessionell. Glaubt ihr, beim richtigen Theater läuft das so? Ich kenne' das! Basisdemokratie! Das klappt nur auf dem Papier. In der Realität läuft das hinaus auf endlose Debattierten mit tausend unqualifizierten Meinungen, aber ohne klares Ergebnis. Nachher gibt das lauter faule Kompromisse, und keiner ist richtig zufrieden. Ohne Kopf, ohne Visionär, der seine klaren Vorstellungen hat und die zielstrebig umsetzt, wird das 'n heilloses, kopfloses Durcheinander. Ich prophezeie' euch, die Sache endet im Chaos!« Aber der kollektive Unverstand hatte sich nun einmal gegen ihn und seine Vision von der Führung durch den einen starken Mann verschworen. Man beschloss, es erst einmal wie besprochen zu probieren. Falls es so nicht klappen sollte, könne man ja immer noch umdisponieren, hieß es. »Macht doch, was ihr wollt«, beendete Hasso frustriert die Diskussion.

      Am Abend in ihrem Zimmer gestand er seinen Freunden, dass er kurz davor gewesen sei, das Handtuch zu werfen. »Alles hinschmeißen?«, wiederholte Kir ungläubig. »Ich hab' schon mit den ersten Dekors angefangen.«

      »Findest du nicht, Hasso, dass du 'n bisschen über­reagierst?«, meinte Tim. »Du bist die Sache einfach zu forsch angegangen. Spielst dich da als Machiavelli junior auf! Die andern haben auch ihren Stolz. Die wollen sich nicht so einfach an die Wand drücken und bevormunden lassen.«

      »Sei du bloß ruhig. Als wäre' das nicht schon Ärger genug, bist du mir auch noch in den Rücken gefallen«, beschwerte sich Hasso. »Dabei weißt du genauso gut wie ich, dass Basisdemokratie Scheiße ist. Hat das vielleicht im Kommunismus geklappt? Jede Gemeinschaft braucht klare Führung. Basisdemokratie ist dagegen nichts als verkappte Anarchie, und Anarchie bedeutet Chaos!«

      »Basisdemokratie ist verkappte Anarchie, gut, aber der Kommunismus ist keine Basis­demokratie, sondern 'ne verkappte Diktatur. Und die ist genauso wenig die Ideallösung wie die Anarchie.«

      »Ideallösungen gibt das nicht«, warf Kirri ein.

      »Aber man kann sich ihnen anzunähern versuchen«, erwiderte Tim. »Und da ist der demokratische Mittelweg doch wohl der beste.«

      »Demokratie funktioniert so, dass gewählte Leute für einen beschränkten Zeitraum eine kontrollierte, aber trotzdem, genau betrachtet, ziemlich absolute Macht und Entscheidungsgewalt ausüben«, konterte Hasso, »und zwar wurde ihnen die mehr oder weniger freiwillig vom Volk übertragen, damit nicht alles im Chaos versinkt.«

      »Als Dienst«, wandte Tim ein. »Sie dienen damit den Interessen aller.«

      »Ach was, die logische Folge sind Machtpolitik und Machtbe­wusstsein. Oder fragt Helmut Kohl vielleicht nach der Meinung von Fritzchen Meier? Wie fing das denn mit Napoleon und Hitler an? Am Anfang waren sie durch den Willen des Volkes legitimiert.«

      »Ihr Amt bleibt trotzdem – oder deshalb gerade – ein Dienst am Volk und fürs Volk«, argumentierte Tim. »So war das zumindest mal gedacht. Denk an Friedrich den Großen: der Herrscher als erster Diener des Staates. Deshalb kann man wohl auch mit Fug und Recht behaupten, dass solche Leute wie Napoleon oder Hitler 'n bisschen übers Ziel hinausge­schossen sind. Wer herrschen will, muss sich als Diener bewährt haben. Sonst endet das Ganze in 'ner Katastrophe.«

      »Ja, ja«, gab Hasso verdrossen zurück, »knall du mir nur deine Bibelsprüche an den Kopf. Das ist genau das, was ich jetzt brauche. Erst fällst du mir in den Rücken mit deinem faulen Kompromiss­vorschlag –«

      »Jetzt hör endlich auf mit diesem dämlichen Gefasel von In-den-Rücken-Fallen«, unterbrach Tim ihn ärgerlich, »das ist doch nun wirklich Quark! Und sei nicht so verflucht selbstgefällig und egozentrisch! Man wird doch wohl ein Mal hinnehmen können, dass es andere Leute auch noch gibt und die auch ein Recht auf ihre Meinung haben. Keinem kann es immer nur nach seiner Nase gehen.«

      »Kinder, seid friedlich«, versuchte Kirri zu schlichten, den jeder Streit in seinem Harmoniebedürfnis empfindlich störte. Doch schon fiel die Tür hinter Hasso knallend ins Schloss. So endete jede Meinungsverschiedenheit, in die er verwickelt war, wenn er nicht recht bekam.

      Aber Kinder sind nicht so nachtragend wie Erwachsene, und auch wenn Hasso und Tim schon an der Schwelle zum Erwachsensein standen, war die Sache wie bisher jeder vermeidliche oder