Didier Desmerveilles

Stieg Larsson lebt!


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womit für die andern beiden ebenfalls das Startkommando gefallen war.

      Dummerweise lag das Internat auf einer kleinen Anhöhe oberhalb des Stadtgebiets. Nun ist eine Anhöhe im hohen Norden Deutschlands natürlich etwas völlig anderes als etwa im Harz oder im Schwarzwald, eben eine norddeutsche Anhöhe, eine Erhebung, die – sagen wir mal – einfach etwas weniger flach ist als das Flachland, das sie umgibt. Aber wenn man es eilig hat wie Hasso, Tim und Kirri an diesem Vormittag, wenn einem der kalte Wind auch noch eisige Schneeflocken ins Gesicht bläst, während man sich vorwärtszukommen bemüht, dann spürt man in den Beinen schon die leichte Steigung der Wegstrecke. Vor allem galt dies für Kirri, der kein besonders sportlicher Typ und außerdem leicht – aber wirklich nur leicht, darauf legte er Wert – übergewichtig war. Wie immer, wenn es schnell gehen sollte, hing er hinterher. »Nicht so schnell«, keuchte er ängstlich, weil er sich bereits ganz allein zu spät zum Unterricht erscheinen sah. »Wartet!«

      »Lass uns auf Kirri warten«, schlug Tim atemlos vor, als er hinter Hasso den Eingang zum Internatsgelände passiert hatte, dessen Schulhof menschenleer vor ihnen lag und auf dem lediglich der Wind, der die vereinzelten Schneeflocken auf- und niederfegte, für Bewegung sorgte.

      »Na gut, jetzt ist's sowieso egal. Bin ja kein Kameraden­schwein«, grunzte Hasso.

      »Ihr Ärren«, ächzte der Nachzügler, als er endlich zu ihnen stieß, »wieso lasst ihr mich so hängen?« Kirri hatte die Angewohnheit, seine beiden Lieblingswörter irre und Irrer »ärre und »Ärrer« auszusprechen. Hätte jemand versucht, ihn auf diesen Sprachfehler aufmerksam zu machen, er hätte nicht einmal verstanden, wovon die Rede war.

      »Du lässt dich doch selber auch immer hängen«, entgegnete Hasso bissig. Geschlossen stiegen sie schließlich die letzten Meter auf der steinernen Treppe des Schlosses zum Klassenraum der Untertertia hinauf.

      »Ich hab' ja gleich gesagt, das schaffen wir nicht«, murrte Kirri weiter. Hasso übernahm die Verantwortung, klopfte an die geschlossene Tür des Klassenzimmers und entschuldigte sich bei Herrn Meyer ausdrücklich für die Verspätung. Der Mathematiklehrer quittierte Hassos ungewohnt demütige Ausführungen mit einem spöttischen Grinsen und sagte: »Ach nee, Hasso Hawermann und seine Spießgesellen mal wieder! Ihr habt doch bestimmt wieder irgendwelchen Heckmeck vorgehabt, hm?« Hasso fühlte sich nun auf sicherem Terrain, die Einladung zu einem ironischen Schlagabtausch mit dem Lehrer nahm er dankbar an. Seine Stimme nahm wieder ihren gewohnt festen, sicheren Klang an, als er antwortete: »Heckmeck? Aber Herr Meyer, Sie kennen mich doch...«

      »Eben, Hawermann, eben.« Die Klasse lachte entspannt. Inzwischen wanderten die drei Zuspätkommer unauffällig auf ihre Plätze. »Aber du weißt gar nicht, was ich meine, hm?«

      »Sie sagen es. Ich weiß nämlich gar nicht, was Heckmeck ist. Wenn Sie Mecki meinen, den kenn' ich aus der Hörzu. Das ist so ein Igel mit Menschenkopf, der –«

      Die Klasse lachte. »Danke, Hawermann, reicht!«, würgte Meyer ihn ab. »Treib's nicht auf die Spitze, Hawermann. Mein Geduldsfaden ist heute nicht lang.«

      »Na, umso besser«, kam sogleich der Konter, »physikalisch gesehen ist dann die Wahrscheinlichkeit, dass er reißt, viel geringer.« Ein Gelächter wie ein Sturm. Meyer brauchte eine Weile, um die Klasse wieder zur Ruhe zu bringen. Er sah ein, dass er besser das Thema wechselte. »Gut. Vom Rhetorik-Kurs für Anfänger zu den Mathe-Hausaufgaben für Fortgeschrittene. Was sagst du denn dazu, mir deine mal zu zeigen, Hawermann?«

      »Ich sage dazu: Das versteht sich doch von selbst, dass ein Schüler seinem Lehrer die Hausaufgaben zeigt, und sollte insbesondere für einen Schüler wie mich kein Problem darstellen.«

      »Am besten an der Tafel hier«, schlug Meyer vor.

      »Wenn Sie meinen, dass ich an der Tafel besser bin als Sie...«

      Dieser Hawermann war doch ein verflixt ausgekochtes Schlitzohr. So leicht, merkte Meyer immer wieder, war dem nicht beizukommen. Aber Schüler wie er sorgten wenigstens dafür, dass der Unterricht nicht langweilig wurde.

      2 Die Pyramide

      Hasso Hawermann, Tim Rasmussen und Arnold Kirstein oder schlicht Hasso, Timmi und Kirri, wie sie sich selbst riefen, das waren Freunde, wie man sie nicht alle Tage findet. Freunde fürs Leben, hätte man meinen können, wenn man sie damals miteinander sah. Die gingen gemeinsam durch dick und dünn, und faustdick hatten sie's hinter den Ohren. Die besonderen Lebensumstände im Internat schweißten die Kinder enger zusammen, als es vielleicht ohnedies der Fall gewesen wäre. Keiner der drei Freunde vergaß je die Geburtsstunde der Pyramide, wie sie selbst sich später nannten. Es war eine schwere Geburt. Hasso und Kirri kannten sich schon seit der Fünften und hatten zunächst eines der seltenen Zweibettzimmer im obersten Stockwerk des Schlosses bewohnt, mit einer fabelhaften Sicht auf das Städtchen unter ihnen und den großen See, an dem es lag. Ihre Begeisterung hielt sich ziemlich in Grenzen, als ihnen die Internatsleitung an einem eisigen Februartag durch die Hausmeisterin Frau Bleiweiß mitteilen ließ, dass man einen neuen Schüler bei ihnen einzuquartieren gedachte und, indem man eines der Einzelbetten durch ein Etagenbett austauschte, aus dem Zwei-Mann- ein Drei-Mann-Zimmer machen würde. Freiräume, hieß es schon beinahe sarkastisch, habe man ja draußen an der freien Luft genug.

      Einsilbig und miesepetrig behandelten Hasso und Kirri, wie abgesprochen, den Neuankömmling, als er in seinem übergroßen braunen Wintermantel, schwere Koffer links und rechts, etwas scheu zum ersten Mal sein neues und ihr altes Zimmer betrat. Der Neue durfte ruhig merken, dass er nicht willkommen war. Hasso und Kirri gaben sich sichtlich Mühe, die gewünschte Wirkung zu erzielen. Als Tim sich ihnen vorstellte, blickten sie nicht auf, nickten nur einmal kurz, und als er anfing, Bücher in das für ihn eigens neu befestigte Regal zu räumen, blieben die anderen beiden stumm wie Fische im Aquarium an ihren Schreibtischen kleben und taten, als ob es für sie nie im Leben etwas Wichtigeres geben könne als die gewissenhafte Erledigung der Hausaufgaben, in die sie vertieft zu sein vorgaben. Dabei schielten sie aus ihren Augenwinkeln immer wieder verstohlen zu dem Neuen hinüber, der am anderen Ende des Saals weiter seiner Umpack­arbeit nachging. »Ich nehme an, das hier ist mein Bett?«, sagte er schließlich, mehr weil ihm das konsequente Schweigen im Raume Unbehagen bereitete, als aus echter Unwissenheit.

      »Mmh, das obere«, gab Kirri kurz angebunden zurück. »Ich kann nämlich nicht oben schlafen, weil ich Angst hab', ich fall' da raus.« Zu seinem Glück war Tim vorsichtig genug, nicht zu lachen. Kirri hatte eine dünne Haut, auch wenn man es ihm nicht unbedingt ansah. Er war ja auch sonst kein dünner Mensch. Kirri hatte schon mehr geredet, als Hasso lieb war. Ein Blick von Hasso – und wieder herrschte eisiges Schweigen.

      Nach einer Weile brach es plötzlich aus Tim heraus: »Stellt euch mal vor, ihr wäret neu an einem Ort, von dem ihr jetzt schon wisst, dass ihr lange Zeit dort bleiben werdet. Ihr kennt keine Menschenseele, und ihr seid allein. Dann begegnet ihr zwei Leuten, die schon länger an dem Ort wohnen und mit denen ihr eng zusammenleben werdet. Was würdet ihr von denen erwarten?«

      »Weiß nicht«, meinte Kirri, der am Überlegen war, aber noch nicht ganz durchschaut hatte, worauf Tim hinauswollte.

      »Ich würde froh sein, in Ruhe gelassen zu werden, so, wie ich's jetzt auch wäre«, fuhr Hasso ihn an.

      »Entschuldigung«, fauchte Tim zurück, »ich wusste ja nicht, dass ich in ein Heiligtum eingedrungen bin.«

      »Wenn du hier rumstänkern willst, kannst du dich lieber gleich verpissen«, donnerte Hasso. »So was könn' wir hier nicht brauchen. Hast du hier vielleicht schon was geleistet? Wer Ansprüche erhebt, muss sich erst mal beweisen.«

      »Du meine Güte, was denn für Ansprüche? Man wird doch noch mal 'ne Frage stellen dürfen!«

      Hasso war es gewohnt, den Ton anzugeben, sich als Chef zu profilieren. Mit Kirri gab es damit naturgemäß keine Schwierigkeiten. Schon seine Bequemlichkeit schloss jegliche Auflehnung aus. Doch der scheinbar so scheue und schmächtige dunkelhaarige Bubi, der da in sein Leben getreten war, das war einer, der nicht beliebig nach seiner Pfeife tanzen würde. Er war mit Sicherheit