Stephan Kesper

Sealed


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hier.«

      »Und so gefällt es dir?«

      »Nicht immer - wenigstens besteht hier keine Gefahr, in einen Schrank gesteckt zu werden.«

      Sie lachte wieder.

      »Was machst du?«, fragte er mit einem Blick auf den Block, den sie auf ihrem Schoß balancierte.

      »Ich zeichne nur etwas - katastrophal. Meine Karriere als Künstlerin ist in diesem Augenblick zu Ende gegangen.«

      »Wann hat sie denn angefangen?«

      »Vorhin«, Hendrik konnte nicht anders und stimmte in ihr Lachen ein.

      Dann nahm er all seinen Mut zusammen und versuchte beiläufig zu klingen: »Es ist ganz schön warm, willst du ein Eis?«, ihm wurde heiß im Gesicht, das hieß, es musste eine puterrote Farbe angenommen haben. Pochend machte sich sein Herz bemerkbar.

      »Fragst du mich nach einem Date?«

      »Nein«, log er. »Es ist einfach nur warm. Mr. Winback wird mit dem Eiswagen wohl noch nicht vor dem Schwimmbad stehen, also müssen wir zum Supermarkt laufen, hast du Lust?«

      »Wer ist Mr. Winback?«

      »Er fährt im Sommer immer mit diesem weißen Monstrum von einem Eiswagen durch die Gegend. Meistens, wenn es besonders heiß ist, steht er beim Schwimmbad und verkauft über den Zaun Eis an die Kinder.«

      »Hmm, kann sein, dass ich ihn schon einmal gesehen habe.«

      Sie stand auf, packte ihren Zeichenblock und die Stifte in ihre Tasche und legte sich den Riemen auf die Schulter. Da sie kein Fahrrad dabei hatte, bot er ihr den Gepäckträger an, doch sie lehnte ab.

      »Rachel«, sagte sie plötzlich am Waldrand, wo der Weg nach Lakeview entlang führte.

      »Hendrik«, antwortete er.

      Sie kamen auf die North-Lake Road und folgten ihr hinunter in das Stadt-Zentrum hinein. Den gesamten Weg musste er sein Fahrrad schieben, aber es machte ihm nichts aus.

      Auf der linken Seite tauchte die Lewis & Clark-Mall auf. Sie »Mall« zu nennen grenzte an eine freche Übertreibung. Der Laden bestand lediglich aus vollgestopften zwanzig Quadratmetern Verkaufsraum. Es gab ein mageres Supermarktsortiment, eine Selbstbedienungsmaschine zum Ausdrucken von digitalen Fotos, einen kleinen Tabakshop sowie ein verschlossenes Regal mit Spirituosen. Hendrik schloss sein Fahrrad ab, sie gingen hinein und kauften für Rachel ein Himbeer-Limetten-Popsicle und für ihn ein Ben & Jerry's Chunky Monkey.

      Als sie wieder rauskamen, brüllte jemand von hinten: »Prescott, du blödes Arschloch!«. Tommy-Lee stand dort, mit seinen geschätzten 200 Pfund Fleisch und Fett, sowie den zwei Gehilfen Brad und Ted an der Seite, die zu jeder Zeit um ihn herumwieselten.

      Tommy-Lee machte einige Schritte auf Hendrik zu und blieb Bauch-an-Bauch vor ihm stehen, ihre Nasen berührten sich beinahe. Dann schrie er mit hochrotem Kopf: »Deinetwegen kann ich jetzt meine Mathe-Note vergessen!« Er riss Hendrik das Chunky-Monkey aus der Hand und wollte es ihm ins Gesicht drücken. Hendrik wäre nicht zur Seite gewichen, wie es jeder halbwegs intelligente Junge getan hätte, denn seine angeborene Sturheit stand ihm dabei im Weg.

      In dem Moment, als Tommy-Lee seine Faust samt Ben & Jerry-Spezialität in Hendriks Gesicht versenken wollte, schrie er laut auf, ließ sich rückwärts auf den Boden fallen und hielt wimmernd seine Genitalien fest. Rachel machte einen Schritt vorwärts und sah über ihr Popsicle Brad und Ted an.

      »Möchtet Ihr auch noch was abhaben?«, fragte sie die beiden in einem Ton, der Hendrik das Blut in den Adern gefrieren ließ.

      Die Handlanger halfen ihrem zu Boden gegangenen Anführer auf die Beine und trugen ihn aus der Kampfarena. Als sie abzogen, drehte sich Rachel fröhlich um, als sei nichts geschehen: »Du brauchst ein neues Eis.«

      Es lag auf dem Asphalt. Sie warf es in den Mülleimer und sah Hendrik freudestrahlend an.

      Wortlos, erstaunt und stolz, ein solches Mädchen zu kennen, ging er hinein und kaufte eine zweite Portion.

      Auf dem Rückweg nahm Rachel das Angebot, auf dem Gepäckträger zu sitzen an, und er bemerkte erfreut, dass sie sich während der Fahrt an ihn lehnte. So dauerte es nur wenige Minuten, bis sie seinen Platz am See wieder erreicht hatten. Sie wählten ein Fleckchen auf der Wiese in der Sonne und sprachen über alles und nichts: Die Schule. Ihre Probleme damit. Ihre Eltern, Musik, Kino und ihre Telefone. Ob der neue Apple-Kommunikator die Übermacht der chinesischen Produkte endlich doch noch brechen konnte, nach dem das iPhone 12 zu einem wirtschaftlichen Debakel geworden war, ob sie studieren wollten und wo. Ob Autos mit Brennstoffzellen einen geringeren ökologischen Fußabdruck hatten, als solche mit Batterien. Den Geschmack von Popcorn. Und vieles mehr.

      Nach der ersten Stunde ihres Gesprächs fiel Hendriks Schüchternheit von ihm ab und er redete mit Rachel wie mit seinen ältesten Freunden – er hatte genau drei. Als sich die Sonne hinter den Baumwipfeln auf der anderen Seite des Sees versteckte, begann es kalt zu werden. Ihre Hände und Lippen liefen blau an. Hendrik sprang sofort auf, als er es bemerkte und wollte sie nach Hause bringen. Doch sie sah ihn aus tief-schwarzen Augen an und flüsterte ihm zu: »Ich will aber noch nicht nach Hause.«

      In diesem Moment platze ihm beinahe seine Halsschlagader vor Glück, eine Wolke von Adrenalin tanzte durch seinen Kreislauf, machte ihn unempfindlich gegen negative Umwelteinflüsse. Er zog die Jacke aus, und legte sie sanft über Rachels Schultern. Dann setzte er sich neben sie und rieb vorsichtig mit der Hand ihren Rücken, um ihr Wärme zu spenden. Als Reaktion darauf bekam er den ersten Kuss eines Mädchens auf die Lippen, was seinen Adrenalinspiegel weiter in die Höhe trieb und die Jeans zu eng werden ließ.

      Rachel redete noch eine Weile, doch Hendrik bekam nicht viel davon mit. Er sah sie wie durch einen rosa Filter an und hörte, wie sie seltsame Laute von sich gab. Irgendwann wurde es Rachel endgültig zu kalt. Sie stand auf und reichte Hendrik seine Jacke.

      Da sie sich nicht dem Fahrtwind aussetzen wollte, verweigerte sie erneut den Gepäckträger. Sie gingen den Weg zu ihrem Haus zu Fuß.

      Die Manchesters lebten in einem zweistöckigen Holzhaus mit einer großen, überdachten Veranda, die fast um das gesamte Untergeschoss herumführte. Es stand auf einer sanften Erhöhung über der Straße. Die Wände hatten sie in hellem Grau gestrichen, genau wie die Säulen der Veranda. Türen und Fensterrahmen in Weiß. Es machte einen eleganten und teuren Eindruck. In der Einfahrt stand ein schwarzer BMW, aus dem in diesem Moment ein großgewachsener Mann in einem dunklen Anzug ausstieg. Er sah Rachel und winkte ihr zu. Dabei betrachtete er Hendrik freundlich, aber mit den wachsamen Augen des Vaters einer erwachsen werdenden Tochter.

      »Ist dein Vater Großindustrieller?«, raunte Hendrik Rachel zu und hob seine Hand zum Gruß.

      »Nein«, flüsterte sie zurück, »meine Mutter hat Geld. Er ist Physikprofessor.«

      Hendrik fielen spontan dreißig oder mehr Fragen ein, die er Rachels Vater stellen wollte. Aber dann sah er wieder in ihre dunklen Augen und wie von einer Windbö verweht, erreichten sie niemals sein Sprachorgan.

      »Hast du Lust, morgen etwas zu unternehmen?«, fragte er.

      »Klar«, und ihre Augen strahlten in der beginnenden Dämmerung. »Selbe Zeit, selber Ort?«

      »Ich bin da.«

      Unter den wachsamen Augen des Elternteils traute sie sich nicht, ihm einen Abschiedskuss zu geben. Aber ihre Augen sagten ihm, dass er einen bekommen hätte, wenn sie alleine gewesen wären. Und das reichte ihm.

      Er schwebte wie auf Wolken mit seinem Fahrrad durch die leeren Straßen. Den ganzen Abend über dachte er immer wieder an die magischen Momente dieses Nachmittags. Nach dem Abendessen verschwand er zur Überraschung seiner Eltern früh in seinem Zimmer, schloss leise die Tür ab und widmete sich unter der Decke einer intensiven Aufarbeitung der Geschehnisse.

      * * *

      Aus irgendeinem Grund hatte Hendrik Rachel vor ihrem ersten Treffen am See nie wahrgenommen. Jetzt leuchtete sie aus der Menge auf dem