Stephan Kesper

Sealed


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sich auf dem Schulgelände aus dem Weg zu gehen. Trafen sie sich dennoch zufällig, warfen sie sich verstohlene Blicke zu und lächelten oder berührten sich unauffällig an den Händen, wenn sie glaubten, nicht beobachtet zu werden.

      Am letzten Tag des Schuljahres – einem brütend heißen Tag Mitte Juli – trafen sie sich nachmittags wieder am See. Sie hatten fast drei Monate freie Zeit vor sich. Weder Rachels noch Hendriks Eltern erwarteten von ihnen, dass sie einen Job über den Sommer annahmen. Hendriks Eltern galten nicht als reich im klassischen Sinn, aber die Familie gehörte der oberen Mittelschicht an – einer immer kleiner werdenden Klasse. Im Gegensatz dazu hatten Rachels Eltern viel Geld, aber sie zeigten es nicht. Sie besaßen ein schönes Haus, aber nicht übertrieben. Sie fuhren gute Autos und ernährten sich gesund. Wie reich sie jedoch wirklich waren, blieb ein Geheimnis.

      Von daher mussten die beiden nicht ihr Taschengeld aufbessern. Und da sie keine Anschaffungen zu tätigen hatten, freuten sie sich auf einen langen, heißen Sommer, den sie überwiegend miteinander verbringen wollten.

      Rachel trug an dem Tag eine enge Jeans, die knapp unterhalb ihrer Knie aufhörte, ein weites T-Shirt und klobige Arbeitsschuhe, die gerade als modern galten. Letztere zog sie aus und stellte sie neben die Decke, auf der sie sich niedergelassen hatten.

      Hendrik zog seine Schuhe, Strümpfe, Hose und T-Shirt aus – die Badehose hatte er bereits an – und setze sich neben Rachel. Er spürte, wie die Sonne in den wenigen Minuten, in denen die Decke auf der Wiese lag, bereits den Stoff aufgeheizt hatte.

      Rachel sah sich um, ob sie beobachtet wurden. Sie konnte niemanden sehen. Dann zog sie einen roten Fetzen Stoff aus ihrer Tasche, zog unter ihrem T-Shirt ihren B.H. aus, das Bikini-Oberteil an und entledigte sich dann des weiten Shirts. Hendrik beobachtete sie dabei und wie so oft befürchtete er insgeheim, seine Halsschlagader (oder seine Hose) würde platzen. Unter ihrer Jeans trug sie bereits ihre Bikini-Hose. Dann sprangen sie gemeinsam ins Wasser, das ihnen einen kleinen Kälteschock versetzte.

      Nach einer Weile kamen sie wieder raus und legten sich ausgekühlt auf die heiße Decke.

      »Was sollen wir mit dem Sommer anfangen?«, fragte Rachel irgendwann zusammenhangslos.

      »Ich dachte, wir verbringen ihn zusammen?«

      »Ja schon, aber das hindert uns doch nicht daran, irgendetwas zu tun. So schön es hier am Wasser ist, könnte es auf die Dauer langweilig werden«, sie schirmte ihre Augen vor der Sonne ab und sah ihn an.

      »Was wolltest du schon lange mal machen, hattest aber nie die Zeit oder wolltest es nicht alleine machen?«

      Er überlegte: »Ohne Einschränkungen?«

      »Okay«, sie wurde neugierig.

      »Ich würde unheimlich gerne mal ein Observatorium besuchen. Mauna-Kea zum Beispiel.«

      Sie starrte ihn an, als hätte er gerade seinen Kopf abgenommen und aus seinem Hals wäre eine Jack-in-the-box Clownsfigur herausgesprungen. Seine Antwort musste falsch sein!

      »Was würdest du gerne tun?«, Hendrik hatte den Eindruck, seine erste, wirklich wichtige Lektion im Umgang mit Frauen gelernt zu haben.

      »Ich will nach San Francisco. Oder in irgendeine andere große Stadt. Mir geht dieses Nest auf die Nerven.«

      »Und was willst du in der Stadt machen?«

      »Alles Mögliche, in coolen Cafés sitzen, shoppen gehen, vielleicht mal in ein Museum.«

      Nun war es an Hendrik den Jack-in-the-box-Blick aufzusetzen. Zumindest brachte sie die Unterhaltung zum Lachen und wurde nicht der Grund für einen Streit.

      Rachel fischte aus ihrer Tasche zielsicher eine Flasche Sonnencreme heraus und hielt sie ihm hin. Dann nahm sie ihre schulterlangen Haare, drehte sie vom Rücken weg und legte sich auf den Bauch. Er ließ kleine weiße Kleckse auf ihren Rücken fallen und verrieb sie ungeschickt. Rachel öffnete das Oberteil ihres Bikinis, sodass er sie leichter eincremen konnte. Danach wechselten sie. Schließlich blieben beide auf dem Bauch auf der Decke liegen und sprachen von ihrem letzten Schultag.

      Irgendwann ließ Rachel die Bombe platzen: Sie erzählte ihm, dass sie sich auf dem Schulhof in ihn verknallt hatte, aber keine Chance gesehen hatte, wie sie sich in der Schule kennenlernen konnten. Also hatte sie ihm bis zum See verfolgt und tauchte dort einige Tage später auf – total »zufällig« natürlich.

      Erst gegen acht Uhr zogen sie sich wieder an. Die Sonne hatte noch nicht die Bäume am Ufer gegenüber erreicht. Als Rachel ihre Jeans hochzog, sagte sie plötzlich »Scheiße«, und drückte mit einem Finger auf ihren Unterschenkel, der den Nachmittag über in der Sonne gebraten hatte. Ein weißer Fleck bliebt im Rot zurück, das sie vorher nicht bemerkt hatte.

      Sie begutachtete Hendriks Beine, deren Färbung sie an gekochten Hummer erinnerte.

      »Das gibt einen Sonnenbrand. Wir hätten uns sorgfältiger eincremen sollen.«

      Hendrik brummte zustimmend.

      Auf der Rückfahrt schrie sie auf Hendriks Gepäckträger vor Schmerz auf, wenn er über eine Bodenwelle fuhr und ihre Hose am Sonnenbrand rieb. Lachte aber auch gleichzeitig dabei. Sie nannte so etwas immer keinen »richtigen« Schmerz.

      Als sie bei Rachels Haus ankamen, stand ihre Mutter in der Einfahrt, lud Einkäufe aus ihrem SUV aus und bekam einen Schreck, beim Anblick ihrer Tochter.

      »Seid Ihr wahnsinnig? Wisst Ihr denn nicht, was Ihr damit Eurer Haut antut?«, sie nahm Rachels Kinn in die Hand, drehte es hin und her, um ihr Gesicht zu untersuchen. Dann erst bemerkte sie die starke Rötung an Rachels Beinen und gab einen lang gedehnten, wimmernden Ton von sich.

      »Und du bist auch keinen Deut besser«, warf sie Hendrik vor.

      »Das ist nicht so schlimm, es ist kein richtiger Sonnenbrand. Es ist nur rot und morgen wird man es kaum noch sehen«, entschuldigte sich Rachel. Ihre Mutter bedachte die Bemerkung nur mit einem kritischen Blick, bei dem sie ihren Mund zu einem waagerechten Strich werden ließ.

      »Komm' rein, ich mache gleich Abendessen«, sagte sie dann resignierend. »Willst du mit uns essen?«

      Hendrik wusste nicht, was er tun sollte, die Einladung kam überraschend. Er sah zu Rachel herüber, die kurz lächelte. Dann wusste er Bescheid und nickte Mrs. Manchester zu.

      Sie drückte beiden jeweils eine braune Papiertüte mit Einkäufen in die Hand. Rachel ging vor und zeigte Hendrik den Weg. Die Wohnzimmereinrichtung zeugte von gutem (teurem) Geschmack. Eine aus zwei dunklen Couchen bestehende Sitzgruppe orientierte sich zu einem breiten Kamin, der mit rötlichem Holz abgesetzt den Raum dominierte. Im hinteren Bereich hatte Rachels Vater eine Arbeitsecke. An einem Whiteboard an der Wand standen diverse mathematischen Berechnungen, die so kompliziert waren, dass Hendrik sie nicht einmal ansatzweise verstand.

      Ohne zu fragen, ging er näher heran, um sie sich genauer anzusehen. Im Vorbeigehen bemerkte er, dass unter dem Schreibtisch ein voluminöser Computer stand. So etwas benutzen Leute seit Jahren nicht mehr. Der Rechner musste entweder alt oder sehr leistungsfähig sein, sodass er nicht in die übliche, integrierte Bauweise passte. Er gab ein sehr leises Rauschen von sich. Ein Lüftungssystem, dachte Hendrik.

      Dann wanderte sein Blick wieder zum Whiteboard. Er sah Differentialgleichungen, diverse Symbole, die er nicht zuordnen konnte und Integrale. Aber die Integralrechnung hatte er sich erst für nächstes Jahr vorgenommen. Daher wusste er darüber noch nichts.

      »Hallo?«, Rachels Stimme riss ihn aus seinem Staunen heraus.

      Hendrik wurde rot, »Entschuldige, ich wollte nur mal schauen.«

      »Das ist das Zeug, mit dem sich mein Vater beschäftigt – total langweilig, wenn du mich fragst.«

      Hendrik schüttelte den Kopf: »Ich wünschte, mein Vater würde sich mit so was beschäftigen.«

      Sie gingen in die Küche, wo Rachels Mutter die Einkäufe in die Schränke verteilte. Auch die Küche konnte als innenarchitektonische Meisterleistung durchgehen. Modern und offen, mit weitläufigen Flächen dunklen