Stephan Kesper

Sealed


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ein mitleidiges Gesicht, »wenn Ihr den ganzen Tag am See verbringt, wissen wir doch auch nicht, was ihr macht.«

      »Wir müssen das ja nicht sofort entscheiden«, Hendriks Vater bemerkte Rachels Zurückhaltung angesichts dieser Idee.

      »Ich fände das supergut!«, Hendriks Mutter verfiel immer stärker in ihren niederländischen Akzent, der Mrs. Manchester zum Lachen brachte. »Hendrik wollte schon lange ein Teleskop besuchen«, sie hatte Schwierigkeiten, das Wort »Teleskop« richtig auszusprechen.

      Am nächsten Tag holte Rachel Hendrik ab, da sie vorgeschlagen hatte, zur Abwechslung mal an den Strand zu fahren. Sie kam mit einem großen, roten Fahrrad die Auffahrt hoch, wo Hendrik gerade dem Vorderreifen seines Rades etwas mehr Luft verpasste. Sie fuhren gemeinsam die North-Lake Road Richtung Westen, bis diese nach links auf den Highway abbog. Sie folgten einer schmalen Straße nach rechts, wo eine Unterführung unter dem Highway hindurch führte, der Lakeview vom Pazifik trennte. Dahinter mündete die Straße auf einen Parkplatz, der mehr Platz bot, als je genutzt worden war. Auf dem stand einsam ein roter Nissan. Sie ließen ihre Räder dort stehen, schlossen sie am Fahrradständer ab und folgten einem Pfad in die Dünen. Der Highway hinter ihnen überschwemmte die Gegend mit dem Rauschen von Reifen, dem Geheul alter Verbrennungsmotoren und dem monotonen Gesang der modernen Elektroantriebe. Der Weg führte sie über diverse Dünen immer weiter vom Highway weg. Und mit jeder Düne, die sie zwischen sich und die Straße brachten, wurde der Verkehrslärm leiser. Schließlich endete der Weg mit der letzten Düne und sie hatten einen gut zweihundert Meter breiten Stand zu überqueren, bevor sie das Wasser erreichten. Die Sonne brannte auf ihre Rücken. Mit jedem Schritt sackten sie im weichen Sand ein, das machte das Vorwärtskommen schwer und sie brauchten eine gefühlte Ewigkeit, den Strand hinter sich zu bringen. Als sie es schließlich geschafft hatten, standen sie an einem wunderschönen Stück Ufer, an dem sich hohe, gefährlich aussehende Wellen brachen. Jedes Mal, wenn eine Welle auf den Strand donnerte, konnte Hendrik es in seinem Bauch fühlen. Weiße Gischt stob in die Luft und er schmeckte Salz auf seinen Lippen.

      »Ich glaube nicht, dass wir schwimmen können«, schrie Rachel ihn durch das Getöse an, »die Strömung ist zu stark!«, ihre Haare wirbelten in wildem Chaos um ihren Kopf.

      Hendrik nickte und sie bauten zuerst ihr Picknick auf. Rachel legte eine große, karierte Decke in den Sand. Sie hatte für sich ein Kissen dabei und Hendrik nahm ein dickes Buch mit dem Titel »Advanced Calculus II« aus seiner Tasche.

      Als Rachel es sah, lachte sie und legte es auf eine Ecke der Decke, damit der Wind sie nicht wegtragen konnte. Die Sonne schien gleißend hell, die Wellen brachen sich am feinen, gelben Sand und am Himmel konnte er keine einzige Wolke entdecken. Hätte Hendrik den Tag mit nur einem Wort beschreiben müssen, seine Wahl wäre auf »perfekt« gefallen.

      Eine Frau – Hendrik vermutete, dass ihr der Nissan gehörte – warf in weiter Entfernung einen Ball in die Dünen, damit ihr Hund danach suchte. Ansonsten hatten sie die weitläufige Bucht, die sich in beide Richtungen gute zwei Kilometer erstreckte, für sich alleine. Der Wind blies in starken, unregelmäßigen Böen vom Pazifik her und ließ sie die Kraft der Sonne nicht spüren.

      Hendrik betrachtete Rachel, sie reckte ihr Gesicht der Sonne zu und der Wind riss ihre Haare aus ihrem Gesicht. Einige Sommersprossen blühten auf ihrer Nase und den Wangen, die an diesem Tag besonders deutlich hervortraten. Sie bemerkte plötzlich, dass er sie beobachtete, drehte sich zu ihm um und gab ihm einen langen Kuss.

      Ihr »Picknik« bestand aus einer Tüte Cheetos, die Rachel gerade aufriss und einer Flasche Dr. Peppers.

      Rachel redete nicht viel, sie sah über das Wasser hinaus und schien in Gedanken versunken. Der Wind bemächtigte sich der Tüte Cheetos und riss sie einige Meter über den Sand. Hendrik sprang hinterher und ergriff sie, bevor sie weiter wegfliegen konnte. Rachel stand plötzlich neben ihm: »Wenn wir zu diesem blöden Teleskop fahren, versprichst du mir, dass du nicht die ganze Zeit mit meinem Vater zusammen sein wirst?«

      Er sah ihr in die Augen und erkannte, dass sie sich Sorgen machte. Sorgen, dass sie nicht das Wichtigste für ihren Vater sein könnte.

      »Ich will nicht, ... du weißt schon ... das fünfte Rad am Wagen sein.«

      Hendrik lächelte sanft und strich ihr Haarsträhnen aus dem Gesicht.

      »Du hast keine Ahnung, wie wichtig du für uns bist«, er legte ihr einen Arm um die Schulter und führte sie zurück zur Decke.

      »Ich glaube, dein Vater will uns mitnehmen, weil er mit dir zusammen sein will. Ich bin nur die Ausrede.«

      Sie hielt ihn an und drehte ihn zu sich um. Sie sah in seine Augen, als ob sie zu erkennen versuchte, ob er auch wirklich die Wahrheit sagte.

      Dann zog sie ihn auf die Decke und küsste ihn innig.

      * * *

      Zwei Wochen später stand früh morgens Manchester mit seinem BMW vor dem Haus der Prescotts. Als Hendrik das Ritual der Verabschiedung mit diversen Umarmungen seiner Mutter, einem kräftigen Händedruck und einer kurzen Umarmung seines Vaters hinter sich gebracht hatte, sah er, wie Rachel ihn durch die Scheibe des Wagens anstrahlte. Sie hatte ihre Ansicht gegenüber diesem Ausflug in den letzten Tagen geändert. Sie freute sich ernsthaft und vielleicht – so dachte Hendrik – konnte er wie ein Katalysator wirken, damit sie und ihr Vater wieder ins Reine kamen.

      Manchester ging um das Heck des Wagens herum und kam über den Rasen zu Hendriks Eltern.

      »Ich werde gut auf ihn aufpassen«, sagte er und schüttelte ihre Hände.

      Hendrik ging zum Kofferraum des BMWs und warf seine Tasche hinein. Dann setzte er sich auf die Rückbank und berührte von hinten Rachels Schulter. Sie trug ein Spaghetti-Träger Shirt, sodass er ihre warme Haut spürte. Sie drehte ihren Kopf, lächelte ihn an und berührte sanft seine Hand.

      Manchester hielt noch einen kurzen Smalltalk mit Hendriks Eltern und verabschiedete sich dann ebenfalls.

      Der Wagen fuhr elektrisch, ohne ein Geräusch an und Hendrik sah durch die Scheibe, wie seine Mutter einige Tränen vergoss.

      »Ich weiß gar nicht, warum sie so einen Aufstand macht. Ich bin nicht zum ersten Mal unterwegs«, sagte er mehr zu sich selbst.

      Sie fuhren nach North Bend, wo Manchester den Wagen am Flughafen abstellte. Zwei Stunden später landeten sie in Phoenix, Arizona. Mit einem Mietwagen ging es in die Wüste hinein.

      Sie verließen die Stadt und folgten dem wie mit einem Lineal gezogenen Highway 60, parallel an einer Bergkette entlang, deren Ende weit jenseits des Horizonts lag. Nachdem sie die letzten Häuser hinter sich gelassen hatten, bestand die Landschaft nur noch aus vertrockneten Büschen und gelblichem, trockenem Boden. Vereinzelt ragten Kakteen zwei, drei Meter in die Höhe. Gegen Mittag machte der schnurgerade Highway eine Kurve nach links, endlich fuhren sie auf die Berge zu, die allerdings immer noch so weit in der Ferne lagen, dass sie keine Einzelheiten erkennen konnte.

      Hendrik musste eingedöst sein, er schreckte hoch, als der Wagen stehen blieb. Sie standen an einer Zapfsäule und Manchester tankte den Wagen voll, bevor sie tiefer in die Berge kamen. Mit einem elektrischen Wagen konnte man sich nicht über so weite Strecken trauen, ohne zu riskieren, im nirgendwo liegen zu bleiben.

      Rachel zog Hendrik aus dem Wagen und ging mit ihm in die künstliche Kälte des Verkaufsraumes. Sie standen an der Tiefkühltruhe mit bunten Eis-Packungen, als Manchester zu ihnen kam.

      »Ich werde noch einen Kaffee trinken«, sagte er abwesend, deutete auf etwas, das sich außerhalb der Tankstelle befand und ging zur Kassiererin.

      Rachel wusste offensichtlich, was das bedeutete und legte das Eis, das sie sich ausgesucht hatte, wieder zurück. Sie folgten ihrem Vater zum Wagen. Er fuhr keine fünfzig Meter weiter zu einem Restaurant. Ein hässliches, flaches Gebäude, das früher einmal jemand lieblos mit gelber Farbe angestrichen hatte. Überall blätterte sie ab und hinterließ grauen Beton. Große, staubige Fensterscheiben gaben den Blick ins Innere frei und über dem Eingang hing ein Schild: »Jim's Highway Diner«.

      Am Eingang empfing sie eine