Gerd Pfeifer

...des Lied ich sing'


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Birkenwassers der Schutzstaffel in seiner Nase zu spüren. Für eine skurrile Sekunde wundert er sich, wie wenig Blonde die arische Elite der Nation in ihren Reihen zählt. Dann hält er konzentriert die Luft an. Auch im Traum. Alle Kraft legt er in diesen Augenblick des brechenden Halswirbels. Doch er horcht vergeblich. Der Traum ist lautlos. Einen entsetzten Moment hält er inne, atmet heftig aus und nimmt staunend wahr, wie schwer der tote Körper plötzlich ist. Er lässt ihn angeekelt fallen. In dieser gläsernen Sekunde wird ihm bewusst, dass der Mann, der da zur Erde fällt, von einem Augenblick zum anderen eine Sache geworden ist, ein Gegenstand, ein Ding, eine Leiche, ein Problem. Lästig. Hässlich. Tot. Doch im gleichen Atemzug ist er, der junge Mann in seinem Traum, überwältigt von einem unbändigen Triumph, von seinem Sieg, dem Jubel:

      Ich lebe.

      Es ist die pure Euphorie. Ein Glücksgefühl, das keinen Skrupel kennt und keine Scham. Keine Schuld. Keinen Zweifel:

      Ich lebe.

      Und wieder ändert sich das Bild: Zornig fährt er auf vereister Straße seinen Lastzug, eingekeilt in ein Heer armseliger menschlicher Kreaturen, die mit Koffern, Säcken, Beuteln, Kisten und Kartons auf Handwagen, Karren, Fahrrädern, Pferden, Leiterwagen, mit Kindern an der Hand, Kleinvieh in Käfigen, Tieren am Strick, Säuglingen im Arm stumpfsinnig, halb erfroren, angstgetrieben, todesmutig in langer Reihe nach Westen trotten, einer ungewissen, trostlosen Zukunft entgegen. Er hupt ungeduldig, drängt die langsameren Wagen wütend zur Seite, schimpft, flucht, sieht sich nicht um, schaut in keinen Rückspiegel, will nicht sehen, dass er einen Pferdewagen mit den Menschen und ihren ärmlichen Habseligkeiten in den Straßengraben gedrückt hat, blickt nur nach vorn, um ein Ende, einen Anfang des schier unendlichen Zugs zu erreichen.

      Dann hört er die Flugzeuge. Sie kommen, tief geflogen, direkt auf ihn zu. Im Traum sieht er die hämischen Gesichter der Piloten, die jeden Einschlag ihrer Granaten, jeden neuen Toten mit einem Grinsen feiern.

      Augenblicklich fährt er schneller. Rücksichtsloser noch als vorher. Wer vor ihm nicht zur Seite springt, wird überfahren, aus dem Weg katapultiert, zerschmettert, zerschlagen, zerstört, getötet. Der Lastzug schlingert, er fängt ihn ab, hupt, die Räder drehen durch. Die Flugzeuge kommen zurück, schießen auch diesmal daneben. Nur ein Seitenspiegel wird getroffen. Seine Finger krampfen sich um das Lenkrad. Tief drücken sich die Fingernägel in seine Handflächen. Blut quillt. Er brüllt und flucht unflätig, will den dumpfen Aufprall der zur Seite geschleuderten Körper nicht wahrnehmen, die Schreie der Überfahrenen nicht hören.

      Er fährt um sein Leben.

      Endlich erreicht er das kleine Waldstück, fährt hinein. Immer tiefer. Fragt sich, ob er jemals wieder hinausfinden wird, ob er wenden kann, bleibt schließlich vor einem umgestürzten Baum stehen, schaltet den Motor ab.

      Und dann wird ihm die Stille bewusst, in der nur sein Schluchzen zu hören ist. Sonst gibt es keinen Laut. Nur Stille. Waldesstille. Totenstille.

      Davon erwacht er.

      Der Traum hat ihn freigegeben. Wieder einmal.

      Für eine Weile bleibt der alte Mann reglos liegen. Er spürt den Schweiß auf seinem Rücken, setzt sich auf, schüttelt unwillig den Kopf und streicht fahrig mit den Handflächen über das weiße Bettzeug, wendet sie, betrachtet sie und erkennt die Abdrücke der Fingernägel zwischen den Furchen seiner Greisenhände. Kein Blut diesmal. Tief holt er Luft. Es klingt wie Seufzen.

      Dann beruhigt er sich. Der Traum ist vorbei. Die Vergangenheit bewältigt. Er grinst aufsässig. Ihm fällt ein, dass er seinen Blutdruck messen sollte. Vielleicht sind Träume für sein krankes Herz gefährlicher als die alltägliche, gewohnte Routine.

      Noch immer mit dem Trotz auf seinen Lippen lässt er sich zurück in die Kissen fallen, verschränkt die Hände hinter seinem Kopf und starrt an die Zimmerdecke, ohne sie zu sehen. So liegt er ein paar Minuten. Dann schaut er zur Uhr. Einen Moment zögert er, wie um zu überlegen, ob es die richtige Entscheidung ist. Schließlich nimmt er das Buch vom Nachttisch, blättert, bis er die Seite findet, über der ihm gestern Abend die Augen zugefallen sind, und beginnt zu lesen.

      Ein neuer Tag hat seinen Anfang genommen.

      Der alte Mann lehnt sich – Stunden später – aufatmend in seinen Sessel zurück.

      Er legt das Buch beiseite, in dem er seit dem Morgengrauen liest, erst im Bett und später am großen Wohnzimmerfenster, dessen Flügeltüren bis zum teppichbelegten Fußboden reichen. Für eine Weile schaut er gedankenlos auf Utas Bild, das an der gegen­überliegenden weißen Wand hängt. Dann stemmt er seinen unwilligen Körper schwerfäl­lig aus dem Sessel, richtet sich vorsichtig auf, atmet tief durch und entspannt sich, als er nur den üblichen Rückenschmerz spürt. Schleppend geht er ins angren­zende Arbeitszimmer. Er macht kein Licht. Die Helligkeit des frühen Herbstmorgens reicht aus, um sich in dem kleinen Zimmer mit den Bücherregalen an den Wänden zu orientieren. Wahrscheinlich brauchte er überhaupt kein Licht. Al­les steht seit Jahrzehnten an seinem gewohnten Platz.

      Teilnahmslos blättert er in den Papieren auf dem Schreibtisch. Er weiß nicht, was er finden will, oder ob er überhaupt etwas sucht. Ziellos stellt er sich ans Fenster, öff­net es einen Spaltbreit, schaut hinaus in den Garten und weiter in den Stadtpark, der gleich hinter einer breiten Hecke beginnt.

      Vor Jahren führte dort ein öffentlicher Spazierweg vorbei. In Herbst und Winter, wenn nur noch blätterlose Zweige die Sicht versperrten, konnten die Passanten, falls sie gute Augen besaßen oder ein Fernglas benutzten – das kam öfter vor als die Anlie­ger dachten –, bis ins Wohnzimmer sehen. Erst wenn Schnee gefallen war, ließ die allgemeine Neugier nach. Die Angestellten des städtischen Gartenbauamts schaufel­ten nur die Hauptwege frei. Auf die verschneiten schmalen Pfade am Rand des Parks verirrte sich kaum noch jemand. Dennoch störte das öffentliche Interesse die Grundstücks­eigentümer. Der alte Mann mobilisierte seine Nachbarn. Einer von ihnen war ein bekannter Verwaltungsrechtler. Er sorgte dafür, dass die Stadtverwaltung die Grenzpfade mit blickdichten Sträuchern bepflanzte und verwildern ließ. Gegenüber der Presse ließ das Gartenbauamt etwas von Rückbau verlauten. Das war eine bewusste Irreführung, mit der die Lokalpolitiker noch die unsinnigste Straßenbaumaßnahme begründeten. Jedenfalls war der störende Weg nach einiger Zeit zugewachsen. Die auserlesenen Grundstücke der zu den größeren Steuerzahlern der Stadt zählenden Anwohner waren auch von der rückwärtigen Seite nicht mehr einsehbar.

      Der alte Mann steht lange bewegungslos am Fenster und beobachtet, wie ein kräftiger Wind die letzten Blätter von den Zwei­gen weht. Auf der Terrasse bildet sich ein Wirbel, der das regenfeuchte Laub in eine Ecke fegt.

      Gedankenverloren wendet er sich ab, geht zu seinem altmodi­schen Stehpult, das ihm die Mühe des Hinsetzens und Aufstehens erspart, und schreibt eine Notiz für den Gärtner. Vielleicht denkt er sogar daran, sie ihm rechtzeitig auszuhändigen. Manchmal vergisst er Dinge. Das Laub muss, bevor es zu verrotten beginnt, vom Ra­sen gekehrt werden. Wahrscheinlich weiß das der Gärtner. Aber es kann nicht schaden, ihn daran zu erinnern.

      Früher hat er gelegentlich Arbeiten im Garten eigenhändig erledigt. Er liebte den Herbst, wenn er in der Morgendämmerung leichtfüßig im Stadtpark durch den Bodennebel lief. Nach einer halben Stunde kam er durch eine versteckte Gartenpforte zurück und freute sich auf eine heiße Dusche; von Zeit zu Zeit auch auf eine Gelegenheitsbekanntschaft, die im Bett auf ihn wartete.

      Inzwischen sind die wilden Zeiten vorbei. Endgültig. Er hat sich mit den Unzulänglich­keiten seines Alters abgefunden. Auch die Nachmittage mit der Peters sind längst Ver­gangenheit. Seine verbrauchten Organe spielen nicht mehr mit. Und ein Übriges bewir­ken die Medikamente, die er regelmäßig nimmt.

      Das Alter ist eine lästige Angelegenheit und Altersweisheit eine erlogene Erfindung der Resignation, von einer doppelbödigen Biedermeier-Gesinnung zur Tugend erhoben, um dem sinnlosen Dahinsiechen eine erhabene Bedeutung zu verleihen. Er bemüht sich nach Kräften, Sartre, Wilde, Cocteau, Shaw oder Bierce – er weiß nicht mehr, von wem das Bonmot stammt – nicht zu oft zu zitieren, von denen einer beklagte, dass die Jugend an viel zu junge Leute verschwendet