Gerd Pfeifer

...des Lied ich sing'


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niemand sein, dass er den Schlaf eines alten Mannes am Morgen durch das Öffnen der Haustür nicht stören würde.

      Sein Frühstücksritual ist in all den Jahrzehnten, die er in diesem Haus lebt, so gut wie unverändert geblieben. Selbst die Tageszeitungen, die er kauend liest, sind weitgehend die gleichen. Und noch immer mag er die bittere Orangenmarmelade aus Südafrika, viel Butter – sein Cholesterinspiegel ist noch in Ordnung, sehr zur Verwun­derung der Ärzte, die seinen Fettverbrauch kennen –, gebratene Eier mit knusprigem Speck, Käse – dünn geschabten Tête de Moine – und frische Brötchen, die splittern, wenn er sie aufbricht. Nur auf den starken, süßen Kaffee früherer Tage verzichtet er. Auf Anraten seiner Ärzte gibt es jetzt dünnen Tee ohne Zucker und die unvermeidlichen Obstsäfte. Und natürlich eine Vielzahl von Tabletten. Gegen Bluthochdruck, zur Be­handlung von Ödemen bei Herzleistungsschwäche, gegen die Entstehung von Blutgerinn­seln, zur Hemmung des Zusammenhaftens von Blutplättchen, gegen zu hohen Sauer­stoffverbrauch des Herzens und andere Fehlfunktionen seines Körpers.

      Noch vor weni­gen Jahren hat er sich über die Akribie lustig gemacht, mit der bereits jüngere Zeitge­nossen ihre bunten Pillen allmorgendlich neben den Frühstückstellern aufreihten. Heute führt er selbst sorgfältig Buch über seinen Medikamentenkonsum und fühlt sich schul­dig, wenn er – was häufiger vorkommt – die abendliche Einnahme seiner vorsorglich verschriebenen Lipidsenker vergisst. Falls er williger auf seine Ärzte einginge und der Pharmaindustrie weniger misstraute, würde sich die Zahl der Arzneimittel leicht verviel­fältigen lassen. Aber er glaubt nicht an die Allheilmacht der Chemie und die besserwisserische Weisheit der Medizin und ihrer Adepten. Zu oft hat er statt einer vernünftigen Antwort die rhetorische Frage gehört:

      "Was erwarten Sie? In Ihrem Alter!"

      Inzwischen ist er sicher: niemand kann heilen; Ärzte sind Reparateure mechanischer Unregelmäßigkeiten. Bestenfalls. Überhaupt werden seine Urteile, stellt er mit einem sich selbst verzeihenden Lächeln fest, immer apodiktischer. Ebenfalls eine Alterserscheinung. Widerspruch nimmt er äußerlich gelassen entgegen, beachtet ihn aber nicht. Er hält seine Auffassungen für durchdacht, wohlerwogen und abgeklärt, vielleicht nicht gera­de unumstößlich, aber doch feststehend und beispielgebend. Seine Meinung ist unverrückbar. Den Vorwurf des Altersstarrsinns lässt er an sich abprallen. Er will niemand überzeugen und nicht über­zeugt werden. Er hat sein nahezu biblisches Alter erreicht, ohne sich um die Meinung Anderer zu scheren. Es wäre unsinnig, ausgerechnet jetzt mit liebedienerischer Rück­sichtnahme auf die Jüngeren zu beginnen.

      Dennoch hält er ausgesuchte Höflichkeit für unverzichtbar. Schroffheit liegt ihm nicht. Allerdings: je höflicher er wird, desto finsterer sind nicht selten seine Absichten. Das hat Utas Mutter in einem der wenigen Augenblicke behauptet, da sie eigene Überzeugungen preisgab. Er hat viel von ihr gelernt. Auch dass es sich weder ziemt noch besondere Vorteile bringt, im Rampenlicht der Öffentlichkeit zu stehen. Dass er nun, im hohen Alter, mit diesem Grundsatz bricht, hat ihn selbst überrascht. Vielleicht ist es tatsächlich ein nicht zu unterdrückendes Bedürfnis alter Männer, über den eigenen Tod hinaus in der Nachwelt präsent zu sein – mit Kindern und Kindeskindern, mit wohltätigen Stiftungen oder Ehrenmalen, die allerdings ein wenig aus der Mode ge­kommen sind, mit Gebäuden, die den eigenen Namen tragen oder eben mit Alleen, die nach einem benannt werden.

      Jedenfalls wird morgen die Georg-Schäfer-Allee feierlich dem öffentlichen Verkehr übergeben.

      Angefangen hat das alles mit ein paar Mehrfamilienhäusern des sozialen Wohnungsbaus in der Vorstadt. Damals sollte er mehr als die Hälfte seines Einkommens der nichtsnutzigen Politikerkaste als Steuern überlassen. Da hielt er es für legitim, mehr Gedanken auf die Möglichkeit, Steuern zu sparen zu verwenden, als auf seine Einkommensmehrung. Es brachte mehr ein. Seine Berater waren – mit einigen Vorbehalten – der gleichen Meinung.

      Allerdings musste er lernen, dass Steuersparen ein weites Feld für Scharlatane war. Mit der ihm eigenen Vorsicht vermied er die gröbsten Fehler. Aber es dauerte länger als zwei Jahre, ehe er sich endlich entschloss, eine größere Summe zu investieren. Er begann, steuer­begünstigte Sozialwohnungen zu bauen.

      Im Laufe der Jahre wiederholte er die Transaktionen. Sie wurden zu einem Routine­geschäft und Georg Schäfer zu einem stadtbekannten Bauherrn, der gute Werke tat, indem er die Wohnungsnot linderte. Die erzielten Über­schüsse schwankten. Die Steuergesetzgebung änderte sich fast von Monat zu Monat. Und nach ein paar Jahren war der lokale Wohnungsmarkt gesättigt. Es war an der Zeit, den Inve­stitionsort zu wechseln, vielleicht sogar Wohnimmobilien als Kapitalanlage zu meiden. Einmal noch ließ er sich von den politischen Beamten der Stadtverwaltung überreden – gegen weitreichende Garantien für öffentliche Zuschüsse und Mieterzuweisungen –, ein ziemlich weitläufiges Areal im Einzugsbereich der Universität zu bebauen. Es war allen klar, dass es seine vorläufig letzte Wohnungsbauinvestition in der Stadt sein würde.

      Dann waren die Bauten errichtet, die Wohnungen bezogen, Georg kassierte die Mieten und seine Steuervorteile, und jetzt war es an der Zeit, die Wohnanlage wieder zu verkaufen. Seine Makler suchten im Stillen, wenn auch nicht unbemerkt, nach einem geeigneten Investor.

      Vielleicht war dies der Grund für das Angebot der politischen Platzhirsche, ihn mit einer Straße, die nach ihm benannt würde, zu ehren. Möglicherweise hatten sie mit seiner Weigerung gerechnet, auf diese Weise doch noch zu einer Art öffentlicher Person zu werden. Ohnehin ist es selbst hier in der Provinz unüblich, Straßen nach lebenden Persönlichkeiten zu benennen. Und bisher hatte er sich auch standhaft geweigert, Orden und Ehrenämter anzunehmen, selbst wenn sie mit einem Sold oder anderen Einkünften dotiert waren – der einzigen Ver­suchung, die ihn beeindrucken konnte.

      Aber nun hat er sie alle – hoffentlich – ebenso gequält wie versteckt aufstöhnen lassen, als er die schmeichelhafte Ehrung unverhofft annahm.

      Der alte Mann stützt sich immer noch mit beiden Händen am Rand des antiken, mit zahlreichen Gebrauchsschrammen verunzierten Stehpults ab und schaut milde lächelnd in den plötzlich hell gewordenen Garten. Die Sonne hat sich durch die dicke Wolken­decke gekämpft, und er versucht sich einzureden, dass es ausschließlich das fassungs­lose Entsetzen der korrupten lokalen Politikerbande über seine unerwartete Zusage war, das ihn zur Annahme der Ehrung bewegte. Aber so recht ist er davon nicht überzeugt. Allein aus kindlicher Schadenfreude zu handeln, ist nicht seine Art. Er glaubt sich zu kennen. Vermutlich hat auch ein Großteil Geltungssucht seine Entscheidung be­einflusst. Niemand ist frei von dem Verlangen, öffentlich und über den Tod hinaus geliebt, geehrt, be­wundert oder wenigstens gekannt zu werden.

      Er hört die neue Haushälterin im Esszimmer mit Tellern und Schüsseln klappern und geht aufrecht und mit bemühter Lockerheit zum Frühstück.

      "Guten Morgen!", sagt die Neue und scheint bestrebt, eine etwas angestrengt wir­kende Fröhlichkeit zu verbreiten. Er antwortet mit einem undeutlichen Brummen. Chronisch heitere Menschen sind ihm ein Gräuel. Wortlos setzt er sich. Die Brötchen sind nur aufgewärmt, aber kross. Zufrieden grummelnd nickt er und legt sich Eier und Speck auf den Teller. Während er kaut, schlägt er die Lokalzeitung auf. Die Ankündigung der feierlichen Einweihung seiner Straße hatte die Pressestelle der Stadt in der gestrigen Ausgabe veröffentlicht. Heute schweigt sich der Lokalteil aus. Warum sollte die Redaktion auch eine Sensation daraus machen? Namensgebungen sind ein alltäglicher Verwaltungsakt.

      Was sein Vater wohl zu einer Straße gesagt hätte, die nach seinem Sohn benannt wird? Der Senior stellte zu seinen Lebzeiten keine hohen Ansprüche an den einzigen Sohn. Ihm reichte es, wenn er seinem Vater nicht auf der Tasche lag. Alles andere schien ihn wenig zu interessieren.

      Sie hatten beide – Vater und Sohn – keine einfache Kindheit gehabt. Beide waren Gastwirtssöhne. Das bedeutet: sie wurden bereits in frühester Jugend mit den eher abstoßenden Seiten der mensch­lichen Existenz konfrontiert, und das wiederum lehrte sie, Menschen geringschätzig zu betrachten. Ihre Verachtung richtete sich gegen jedermann. Auch gegen die eigenen Eltern. Gegen die Väter, weil sie betrunkene Säufer betrogen; gegen ihre Mütter, weil sie den Zoten der Zecher noch eins draufsetzten; und gegen die Trinker, weil sie sich willig übervorteilen ließen. Sie lebten beide zu ihrer Zeit in einer seltsam leeren, bier­dunstgeschwängerten Welt ohne erkennbaren