damit zu vertun, sich mit nicht existenten Menschen und ihren ausgedachten Erlebnissen, Gedanken und Gefühlen zu befassen, erschien ihm geradezu als Inbegriff der Nutzlosigkeit. Und Reste dieser beinahe lebenslangen Überzeugung haften noch immer seiner Lektüre schöngeistiger Literatur an. Wenn er heute Spaß daran findet, geschieht es im Bewusstsein einer neuen Geisteshaltung - - dass er sich nämlich den Luxus erlauben kann, seine Zeit – auch wenn sie wegen seines Alters insgesamt nur noch knapp bemessen ist – unnütz zu vertändeln. Ist es vielleicht die ultimative Dekadenz des Alters, seine verbleibende Zeit hemmungslos zu verschleudern?
Wieder überzieht ein schiefes Lächeln sein Gesicht, als er sich vorstellt, was sein Vater zu dergleichen Gedankengängen meinen würde. Und seine Mutter erst!
Unschlüssig hielt sie – nachdem die Errichtung ihres Cafés beschlossene Sache war – Ausschau nach geeigneten Räumlichkeiten für ihren Traum. Als Martha 'mit ihrem ungeborenen Bastard' und einer kleinen Abfindung die Stadt verließ – '...sie war ohnehin nur hinter unserem Geld her, und du hast es nicht einmal bemerkt...' –, kaufte seine Mutter, als ob sie einen neuen Lebensabschnitt beginnen wollte, einen überdimensionalen Hut, der seinem Vater erst einen künstlichen Lachanfall und dann einen echten Wutausbruch abnötigte, um anschließend mit dem Statussymbol auf dem Kopf und einem Silberfuchsfell über der Schulter durch die Straßen Altonas zu schreiten und Mietshäuser mit Gasthausräumen im Erdgeschoss ausfindig zu machen.
Sie suchte länger als zwei Jahre.
Inzwischen hatte Georg die Schule abgeschlossen und half seinem Vater im Schankraum. Er war Stadtjugendmeister seiner Gewichtsklasse im Gewichtheben geworden und hatte einen unbotmäßigen Trunkenbold mit ausgestreckten Armen in das wassergefüllte Spülbecken des kupferbeschlagenen Tresens gesetzt, als der sich den Anweisungen seines Vaters provokant widersetzte. Seither war 'der Junge' eine Respektsperson hinter dem Tresen geworden. Er sagte nicht viel, zapfte ruhig die bestellten Biere, goss die Schnapsgläser voll 'bis über den Strich' und rechnete fair ab. Er war bald beliebter als sein Vater.
Aber es zog ihn hinaus in die große weite Welt.
Für ihn war das Berlin. Durch Vermittlung der Brauerei, die seinem Vater das Bier lieferte, erhielt er eine Anstellung als Kellner in einer Bierschwemme in Neukölln. Er war anstellig, wusste mit den Gästen umzugehen und tat sich eigentlich nur durch seine Unauffälligkeit hervor. Während der ersten Monate seines Aufenthalts in Berlin wurde er gelegentlich wegen des norddeutschen Tonfalls von seinen Kollegen gehänselt. Er trug es mit lächelndem Großmut. Erst als sein schlaksiger Intimfeind – niemand wusste, warum die beiden sich nicht mochten, auch sie selbst nicht –, ein hagerer Gastwirtssohn aus Moabit, es zu weit trieb, zeigte er eines Nachts auf dem Heimweg zu seiner möblierten Mansarde, die heimlich von seiner Mutter bezahlt wurde, dass er dem hinterhältigen Raufbold aus dem damaligen Arbeiterviertel körperlich überlegen war. Er verprügelte nicht nur den dürren Otto, sondern seine Freunde gleich mit.
Seine Heldentat sprach sich schnell unter den Kollegen und bei den Bedienerinnen herum, die traditionell im Rang und in der Bezahlung noch unter einem Hilfs-Commis standen. Es war daher kein Wunder, dass manche von ihnen ihren Lohn mit Dienstleistungen aufbesserten, die sie nach Dienstschluss dem einen oder anderen wohlhabenderen Gast erbrachten. Das war zwar strikt untersagt und führte bei Entdeckung zu fristloser Entlassung; aber solange sich der bevorzugte Gast nicht beschwerte und Denunziationen unter den Servicekräften verpönt waren, bemühten sich bestenfalls die Sängerinnen der Heilsarmee, die allabendlich ihre frommen Lieder zum Besten gaben und die Sammelbüchsen kreisen ließen, um die aus ihrem eigentlichen Beruf gefallenen Mädchen.
Die Sache hatte für manche der männlichen Kollegen auch noch einen anderen Aspekt. Sie ließen sich ihr Schweigen bezahlen. In Geld oder schnellem Sex zwischen überquellenden Mülltonnen und leeren Bierfässer. Für Georg, dessen beherzte Mutter den väterlichen Ausschank sauber gehalten hatte, wie sie sich ausdrückte, waren das neue Erfahrungen. Und unerwartete. Es lief seiner Natur zuwider, Unkenntnis durch naive Fragen zu offenbaren. Er beobachtete, zog Schlüsse und glaubte nach einiger Zeit, die Umstände zu kennen. Dennoch war er überrascht, als Hilde, eine der kecken Bedienerinnen, ihn eines späten Abends um seine Begleitung durch die dunkle Nacht bat. Sie kam ohne Umschweife zur Sache, und die Selbstverständlichkeit, mit der sie ihr Anliegen vorbrachte, machte ihn unsicher.
"Ich habe gehört, dass du den dürren Otto und seine Freunde allein verprügelt hast", begann sie und in ihrer Stimme schwang unverhohlene Bewunderung, die auch darin zum Ausdruck kam, dass sie sich bemühte, Hochdeutsch mit ihm zu sprechen.
"Nicht direkt verprügelt", verharmloste er die Auseinandersetzung, "ich habe ihnen nur ein wenig die Arme verbogen."
Das entsprach der Wahrheit. Er hatte sie nicht geschlagen, sondern nur seine Körperkraft eingesetzt – allerdings derart intensiv, dass sie während einiger Tage nicht fähig waren, voll beladene Serviertabletts zu tragen.
Sie nickte. Anscheinend hatte sie seine bagatellisierende Reaktion erwartet. So undurchsichtig wie er glaubte war sein Charakter offenbar nicht.
"Du kannst ma helfen, wenn de willst."
Sie schaute ihn von unten herauf abschätzend an und vergaß das Hochdeutsch.
"Und wie?", fragte er, ohne sein Erstaunen zu verbergen. Niemand hatte ihn bisher um Hilfe gebeten.
Wieder nickte sie, wie zur Bestätigung einer vorgefassten Meinung. Und lächelte. Er fühlte sich unbehaglich. Ihm gefiel nicht, dass seine Antworten offenbar ihren Erwartungen entsprachen. Er nahm sich vor, in Zukunft noch weniger von sich preiszugeben.
"Haste letzte Woche mein blaues Auge jesehen?", fragte sie. "Die dickste Schminke hat nich jereicht, et ordentlich abzudecken."
Er hatte nichts bemerkt. Allerdings sah er die Bedienerinnen so genau auch nicht an. Zwar hatte er zu Haus, gleich neben dem Hafen, erste Erfahrungen mit ihresgleichen gesammelt, aber eine Offenbarung, die zur ständigen Wiederholung reizte, war es nicht gewesen. Jedenfalls war ihm Hildes Veilchen verborgen geblieben. Und selbst wenn er es entdeckt hätte, es wäre ihm gleichgültig gewesen.
Also schüttelte er wahrheitsgemäß seinen Kopf.
"Du siehst mich nich richtich an", warf sie ihm vor. Es klang kokett.
Er antwortete nicht. Wenn er zustimmte, wäre sie beleidigt. Und wenn er in diesem Augenblick, gleichsam nach Aufforderung, ihre Nase, ihre Augen oder ihren Mund bewundert hätte – zu weitergehender Beurteilung ihres Körpers hätte er sich nicht hinreißen lassen –, wäre das ein gar zu plumper Versuch gewesen, ihr zu schmeicheln.
Obgleich sie wahrscheinlich nichts anderes erwartete.
Aber er sagte nichts.
"Nun jut", sie nahm sein Schweigen mit Fassung auf und fügte unbekümmert und schamlos – ein anderes Wort für ihr Verhalten konnte er nicht finden – hinzu: "Een Jast, mit dem ick mir einjelassen habe, hat ma eene runterjehauen, weil ick ihn nich lutschen wollte."
Wieder blickte sie gespannt mit schrägem Kopf zu ihm auf. Sie wollte herausfinden, wie er reagierte.
Für einen Augenblick verlor er die Kontrolle über sein Gesicht. Aber er wusste nicht, ob sie es gemerkt hatte. Mehr als Verblüffung und einen gewissen Widerwillen hätte es ohnehin nicht ausdrücken können. Weil sie aber eine Antwort erwartete, fragte er dümmlich:
"Warum wolltest du nicht - - lutschen?"
Sie schüttelte vehement ihren Kopf, dass die Haare flogen, und versuchte, Ekel auszudrücken:
"Nee, nich bei diesen Dreckschwein."
"Und warum hast du ihn überhaupt rangelassen?"
Er wunderte sich über seine Reaktion und stellte mit merkwürdiger Genugtuung fest, dass er sich ihrem sprachlichen Niveau anpasste.
"Er hat jut jezahlt. Schon am Tisch."
Sie zählte weitere Vorzüge des Dreckschweins auf. Und dann seine Nachteile. Das Negative überwog.
"Du weeßt nich, wie de meesten