Gerd Pfeifer

...des Lied ich sing'


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Buch hier kaufen", sagte er, nachdem die Verkäuferin, die er von der Straße aus beobachtet hatte, ihn endlich entdeckte und nach seinen Wünschen fragte. Es schien zum guten Ton zu gehören, die Kunden nicht mit Fragen zu belästigen. Er wunderte sich, wie die Leute ihren Umsatz machten.

      Mit dem Finger zeigte er auf das teuerste Buch, das in seinem Leitfaden für die Gastronomieberufe aufgeführt war. Seltsamerweise hatte es weniger Seiten als ein paar billigere, die da auch erwähnt wurden. Aber wenn er schon ein Buch kaufte, durfte es ruhig das teuerste sein. Vielleicht beeindruckte das auch die Verkäuferin.

      "Wahrscheinlich haben wir das nicht im Bestand", sagte das Mädchen bedauernd. "Ich muss es für Sie bestellen."

      Sie blätterte in einem dicken Wälzer. Ein so schweres Exemplar von Buch hatte er noch nie gesehen. Höchstens auf Bildern. Anscheinend enthielt es alle Titel, die jemals gedruckt worden waren. Die Verkäuferin blickte wieder auf.

      "Es gibt eine neue Auflage. Schon die zweite nach der, die in Ihrer Bibliographie erwähnt wird. Soll ich sie Ihnen zur Ansicht bestellen? Sie ist etwas teurer geworden."

      Sie nannte den aktuellen Preis.

      Er war verwirrt. Was war eine 'neue Auflage'? Wieso konnte die kleine Verkäuferin – bestimmt nicht älter als er – ein Wort wie 'Bibliographie' fließend aussprechen, und was bedeutete es überhaupt? Wo lernt man so etwas?

      Aber tapfer nickte er und fügte ein krächzendes "Ja, bitte" hinzu.

      "Es wird ein paar Tage dauern. Der Verlag hat hier kein Auslieferungslager und ich glaube nicht, dass der Grossist ein so seltenes Fachbuch vorrätig hat."

      Sie fragte ihn nach seinem Namen und seiner Adresse und händigte ihm zur Erinnerung die Durchschrift ihrer vorgedruckten Notiz aus.

      "Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?"

      Er schüttelte den Kopf und stolperte verwirrt zum Ausgang. Als er sich bewusst wurde, dass er einen kläglichen Abgang machte, blieb er abrupt stehen, fasste sich an den Kopf, als ob er etwas vergessen hätte, und ging zurück an eines der Regale im Hintergrund, wo er wahllos ein Buch herauszog, darin blätterte und es wieder zurückstellte. Er hatte vor Aufregung kein Wort lesen können und jeden Augenblick damit gerechnet, dass ihm jemand das Buch aus der Hand riss und ihm in Rechnung stellte. Aber nichts geschah. Im Gegenteil, als er wieder an der Verkäuferin vorbeiging, nickte sie ihm lächelnd zu und sagte höflich Auf Wiedersehen. Er lächelte zurück und atmete tief auf, als er endlich wieder auf der Straße stand.

      Der alte Mann sitzt an seinem Schreibtisch

      im Arbeitszimmer und schaut wie oft in letzter Zeit durch das Bild seiner Frau hindurch in die Ferne der Vergangenheit. Wäre er abergläubisch, er würde an seinen nahen Tod glauben. Aber noch fühlt er sich gesund, vielleicht ein wenig müde. Die Altersgebrechen, die ihn plagen, nimmt er wie seine Ärzte als natürliche Reaktion seines Körpers auf die Abnutzungen hin, die er ihm zugemutet hat. Warum soll er klagen? Die jungen Leute – und alle Leute sind jung in seinen Augen – kennen doch nur eine Erwiderung:

      "Sie besitzen ein gesegnetes Alter!"

      Als ob das ein Argument ist.

      Die Erinnerungen, denen er neuerdings gern nachhängt, sind erfreulicher als die Gegenwart. Zwar waren die Zeiten damals nicht leichter und angenehmer auch nicht - - wahrscheinlich waren sie eher schlimmer, aber er war jung, seine Erlebnisse neu, die Erwartungen unbekümmert und das Leben eine Fundgrube glücklicher Umstände.

      Heute liest er überall, dass die Zeiten damals einen Umbruch ankündigten, dass die Republik verspielt wurde und der Beginn einer neuen, schlimmeren Ära bevorstand. Er war sich dessen nicht bewusst. Zwar gab es Schlägereien auf den Straßen, Uniformen, Halstücher, Abzeichen und Armbinden in den verschiedensten Farben, Kundgebungen, Demonstrationen, Aufmärsche und Reden von vielerlei Leuten, auch in der Bierschwemme.

      Aber das war nicht seine Welt. Mochten die Leute sich wegen einer dummen Idee, eines Glaubens, einer politischen Überzeugung, aus Rache oder anderen Gründen gegenseitig die Köpfe einschlagen. Ihn betraf das nicht. Er hatte keine Zeit für solchen Unsinn. Und ohnehin war Politik damals schon ein schmutziges Geschäft, mit dem er nichts zu tun haben wollte. Ebenso wenig wie heute.

      Und er will nicht an gestern denken. Er muss seine Rede für die Einweihung der Georg-Schäfer-Allee vorbereiten.

      Die Peters hat ihm gesagt, dass der Bürgermeister, diese politische Schlafmütze, eine Laudatio zu halten gedenke. Er wird sich einmal mehr eine ermüdende Ansprache mit einer Anhäufung platter Redensarten anhören müssen. Der Langweiler von der falschen Partei – obgleich eigentlich alle Parteien falsch sind – wird langatmig seine eigenen bürgermeisterlichen Meriten preisen und dann – gnädig – seine, des Georg Schäfers Verdienste um die Stadt etwas weniger euphorisch würdigen, das heißt, er wird die wohllöbliche Vergangenheit beschwören.

      "Aber der alte Mann wird nicht mitspielen", hat er gestern zu der Peters gesagt. "Ich werde eine optimistische Rede über die Zukunft halten. Aufrührerisch und anklagend. Die verkalkten Krämerseelen der Lokalpolitiker müssen aufgeschreckt werden."

      Und dann hat er ihr aufgegeben, einen frechen, aufrüttelnden Text zu entwerfen: "Genau das Gegenteil dessen, was sie von einem alten Mann erwarten."

      Aber als sie den Auftrag, eine Rede vorzubereiten, an den jungen Mann weitergibt, den Georg vor ein paar Monaten eingestellt hat, 'um nicht nur alte Gesichter zu sehen', wie er ihr auf ihre verwunderte Frage nach dem Sinn eines weiteren Mitarbeiters erläuterte, dämpft sie dessen begeisterten Elan mit der simplen Feststellung:

      "Lassen Sie sich nicht von seinen Frechheiten täuschen, die er hier im kleinen Kreis zum Besten gibt. Zwar kann er Politiker nicht leiden, aber er hat noch nie in der Öffentlichkeit etwas Abfälliges über sie gesagt."

      Dabei würde es ihm wirklich Spaß machen, die gewählten Besserwisser der Politikerkaste zu provozieren, zu erschrecken, bloßzustellen und zu schockieren. Er weiß, dass man von ihm behauptet, er finanziere anonym Prozesse gegen die Stadt vor den Verwaltungsgerichten. Soviel ist von seiner Abneigung gegen die Gängelung durch die neidzerfressenen Kommunalpolitiker doch an die Öffentlichkeit gelangt.

      Aber niemand weiß wirklich etwas darüber. Auch seine engsten Mitarbeiter nicht. Und er macht sich ein Vergnügen daraus, den Gerüchten nicht ernsthaft entgegenzutreten. Seine öffentlichen Dementis sind halbherzig. Er ist ein seniler alter Mann, vermögend, kaum verwundbar, dem seine verqueren Ansichten nachgesehen werden. Es gibt wenig Freuden im Alter. Diese gönnt er sich.

      Er nimmt den Hörer seines Nostalgie-Telefons und lässt sich mit der Peters verbinden:

      "Haben Sie den Text fertig?"

      Die Peters ist wie vieles aus seiner engeren Umgebung ein Relikt aus der Vergangenheit. Im buchstäblichen Sinn ein Überbleibsel. Fast zwanzig Jahre ist sie jünger als er. Seit einunddreißig Jahren arbeitet sie für ihn. Über die Hälfte dieser Zeit hatten sie ein Verhältnis miteinander. Eine Zeitlang haben sie so gut wie jede Mittagspause gemeinsam in seinem Bett verbracht. Irgendwo in dem großen Bürohaus, das der Grundstein seines Vermögens ist und das ihm noch gehört, war immer ein Zimmer frei, das er sich möblieren ließ, 'um allein sein zu können', wie er behauptete. Dorthin zog er sich mittags zu einer Ruhepause zurück. Sie folgte ihm nach einer Weile.

      Es war eine seltsame Beziehung. Beide waren sie verheiratet. Sie mit einem sehr viel älteren Mann; fast so bejahrt wie er. Und er mit Uta, die er praktisch seit Wilhelm juniors Geburt nicht mehr angefasst hatte.

      Sie hatten beide nicht das Gefühl, Ehebruch zu begehen. Wahrscheinlich weil keine Liebe im Spiel war. Ihre Verbindung beschränkte sich auf den reinen Akt. Niemals verspürten sie das Bedürfnis, sich gegenseitig beim Vornamen zu nennen. Selten nur fielen private Worte. Meistens ging sie ins Büro zurück, bevor ihm die Augen zufielen. Es wäre ihm peinlich gewesen, in ihrer Gegenwart zu schlafen.

      Nach fast siebzehn Jahren endete der sexuelle Part ihrer Beziehung. Die gemeinsamen Mittagspausen waren zur Routine