Gerd Pfeifer

...des Lied ich sing'


Скачать книгу

gingen sie den gleichen Weg gemächlich zurück und nachdem sie im Laden verschwunden war, sprang er auf die nächste Bahn und fuhr zurück hinter seinen Tresen und die Spieße mit den Ausgabebons.

      Ihn verlangte nicht nach mehr. Es schien, als ob Doktor Max, wie der egomanische Assistenzarzt ein wenig spöttisch im Preußischen Verein für Kraftsport e.V. genannt wurde, Unrecht hatte, als er behauptete, dass es Freundschaft zwischen Männern und Frauen nicht geben könne.

      Allerdings war es für Georg einfach, wenn er sich mit Ellen auf Gespräche über Bücher und seine Gedanken über die Welt und sein Leben beschränkte – bis vor Kurzem hätte er nicht geglaubt, dergleichen überhaupt führen zu können –, denn für die mehr körperliche Kommunikation gab es ja Marie. Mit ihr hatte er stillschweigend ein Arrangement getroffen, das beide zufriedenstellte. Er war liebenswürdig zu ihr und gab ihr ein wenig Sicherheit in ihrem unsteten Leben. Vielleicht hielt sie seine Höflichkeit sogar für eine Art Liebe, auch wenn er den kompromittierenden Satz nie ausgesprochen hatte. Auch nicht in den intimsten Augenblicken. Jedenfalls erhielt sie, wofür sie ihn bezahlte: Schutz. Und auch er bekam, was er wollte: etwas Zweisamkeit, Geld, ein wenig Abwechslung und eine Menge Lust. Es war ein brauchbares Übereinkommen.

      Seine Zusammenkünfte mit Ellen dagegen schienen wie von einem anderen Stern. Und auch ihre Gespräche handelten selten von ganz alltäglichen Dingen. Manchmal glaubte Georg, da sei ein Band zwischen ihnen. Sie verstanden sich. Auch ohne Worte. Dann schauten sie schweigend aus dem mit gerafften Tüllgardinen verhängten Fenster des kleinen Cafés, und wenn ihre Blicke sich trafen, lächelten sie einander zu, ohne sich verpflichtet zu fühlen, etwas zu sagen.

      Ellen ging jeden zweiten Tag in der Woche zu einem Gesangslehrer. Singen war ihre große Leidenschaft. Aber man sah es ihr nicht an, fand er. Sie trug keine langen Schals, trällerte nicht ständig bekannte Melodien vor sich hin, redete nicht über absolutes Gehör oder Stimmschonung – kurz, sie benahm sich wie ein normales Mädchen.

      Die Künstler, die er kannte – wenn sie nach Vorstellungsschluss noch auf ein Bier mit großem Getöse den halben Gastraum in Altona unterhielten und Wilhelm wie einen alten Freund behandelten –, waren alle ein wenig verrückt. Jedenfalls taten sie so. Er berichtete ihr von den lärmenden Leuten mit den weiten Abendmänteln und ihren Gepflogenheiten. Ellen hatte gelacht und gemeint, dass sie keine Künstlerin sei.

      "Ich bin Buchhändlerin. Singen ist Freizeitvergnügen."

      Er glaubte ihr nicht.

      "Niemand geht drei Mal in der Woche zum Gesangsunterricht nur zum Zeitvertreib."

      Da gab sie zu, dass sie ein Abkommen mit ihrem Vater getroffen habe. Sie hatte ihm versprochen, zunächst einen ordentlichen Beruf zu erlernen, weil eine moderne junge Frau auch allein im Leben stehen können muss. Danach dürfe sie eine künstlerische Laufbahn einschlagen.

      "Nun habe ich einen ordentlichen Beruf. Glücklicherweise. Aber die Wirtschaftskrise lässt es nicht zu, dass ich ihn aufgebe und ein Konservatorium besuche. Die Geschäfte meines Vaters gehen nicht so gut. Ich muss meinen Beitrag zum Familieneinkommen leisten."

      Sie lächelte bedauernd und ein wenig hilflos.

      Ihr Vater, berichtete sie weiter, sei Apotheker, der wie die meisten berufstätigen Menschen unter der Wirtschaftskrise zu leiden habe.

      "Wir sind wahrscheinlich nicht arm", meinte sie, "aber es ist auch nicht so, dass wir im Wohlstand schwelgen. Vater will sich nicht an den Leiden der Kranken bereichern. Er steht in dem Ruf, Arzneimittel auch kostenlos abzugeben, wenn es ihm notwendig erscheint. Entsprechend hat sich seine Kundschaft entwickelt."

      Sie vertieften das Thema nicht. Alle litten unter dem Niedergang der Wirtschaft. Über Deutschland, den Versailler Vertrag, die Reparationszahlungen, Innen- oder Außenpolitik sprachen sie nicht. Es wäre lachhaft gewesen, mit Ellen die Weltlage zu erörtern. Darüber hinaus besaß er keinerlei politische Überzeugung. Richtig war, was der jeweilige Gast meinte.

      An dem gleichen Abend begleitete er Marie. In dem etwas weniger als üblich heruntergekommenen Hotel, in dem er auf sie wartete und das sogar zwei korbgeflochtene Sessel, eine echte Palme und eine Handvoll Pfauenfedern auf geschnitzten Blumenständern in jeder Etage besaß, stellte er sich vor, wie es wäre, nicht mit Marie, sondern mit Ellen zusammen zu leben, ihr Gesangstudium zu finanzieren, mit ihr zu schlafen und für sie eine Opernkarriere zu arrangieren.

      Es war eine absurde Vorstellung. Er schimpfte sich ernsthaft einen Narren. Sie sei älter als er, hatte sie behauptet, nachdem er von seinen Lebensumständen berichtet hatte. Das war nicht wichtig, fand er. Für schwerwiegender hielt er die Tatsache, dass sie aus völlig unterschiedlichen Sphären stammten. Ellens Vater war Apotheker. Zwar unterscheidet sich die Tätigkeit eines Apothekers nicht grundsätzlich von der eines Gastwirts – beide betrügen die Kunden mit dem Inhalt ihrer Flaschen und Gläser, war seine Überzeugung –, aber so ein Provisor handelt auf einer akademischen Ebene, während Georg und sein Vater ungebildete Leute mit ordinären Kunden waren. Er spürt es an jedem Satz, den sie ordentlich und druckreif zu Ende spricht, während er Halbsätze stammelt, deren Inhalt nur errät, wer weiß, was er eigentlich sagen will. Sie hat es ihm nicht so deutlich gesagt, aber unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass er seine Sprache verbessern müsse. Es ist ein Wunder, dass er nicht beleidigt war.

      Sie begann, ihm Bücher mitzubringen, die sie bereits gelesen hatte, und forderte ihn auf, sich eine Meinung zu bilden und darüber zu sprechen.

      "Sie sollten nicht nur Fachbücher lesen, sondern auch Belletristik", sagte sie.

      Er wusste nicht, wovon sie sprach. Aber er merkte sich das Wort, schlug seine Bedeutung in einem Konversationslexikon nach, das er sich in einer anderen Buchhandlung gekauft hatte, und benutzte es bei der nächstbesten Gelegenheit selbst. So lernte er, dass es unterschiedliche Literaturgebiete gibt, erweiterte seinen Wortschatz, übte sich im Argumentieren und erwarb sich eine gewisse Eloquenz. Selbst dies Wort kannte er inzwischen.

      Der alte Mann,

      wenn er jetzt, viele Jahrzehnte später, an Ellen denkt, ist voller Dankbarkeit. Was er an Bildung besitzt, hat er ihr zu verdanken. Nicht dass er alles nur von ihr gelernt hätte. Aber sie hat ihn verlockt, gierig nach Bildung zu sein. Auch wenn er immer noch überzeugt ist, dass schöngeistige Literatur seiner natürlichen Veranlagung zuwider ist. Den größten Teil seiner literarischen Kenntnisse – wenn denn seine Halbbildung, von der er kokett zu berichten weiß, überhaupt so etwas wie Wissen darstellt – verwendet er für boshafte Zynismen, die ihm wegen seines Alters und weil er nicht unvermögend ist, großmütig von den Getroffenen vergeben werden. Während der letzten Jahre hat er sich oft gefragt, wie lange ihm sein Sarkasmus als verzeihliche Altersbosheit noch vergeben wird. Wahrscheinlich nicht mehr lange; dann wird sein verstocktes Beharren auf abwegigen Standpunkten nur noch als Altersstarrsinn betrachtet und das absichtliche Fehldeuten nichtssagender Sprechblasen der Politikpriester als Altersdemenz bezeichnet werden.

      "Ich sollte damit aufhören", sagt er laut in sein leeres Arbeitszimmer. "Aber wahrscheinlich würden die Leute das für einen altersbedingten Persönlichkeitsabbau betrachten."

      Unlustig lacht er auf. Alles läuft auf eine Entmündigung hinaus. Auch die latente Angst vor dem Verlust seines Selbstbestimmungsrechts. Er seufzt. Theatralisch. Zu altern, wirklich alt zu werden, ist nicht nur lästig, es ist auch lebensgefährlich. Es müsste abgeschafft werden. Ein ebenso abgegriffener wie kindischer Wunsch.

      Er nimmt den drahtlosen Telefonhörer in die eine und den Immobilienteil der Lokalzeitung in die andere Hand und geht nach oben ins Bad. Die neue Haushälterin wird das Rauschen des einlaufenden Badewassers hören und wissen, wo er sich befindet. Je älter er wird, desto mehr genießt er das morgendliche Vollbad. Früher hat er nur geduscht. Heute braucht er die entspannende Wirkung des heißen Wassers, das seinen frierenden Körper umhüllt.

      Wie er diese Vergleiche mit der Vergangenheit hasst; ein untrügliches Zeichen zunehmenden Alters.

      Die Immobilienpreise in der Stadt stagnieren. Noch vor ein paar Jahren hätte er sich gesorgt, vielleicht geärgert. Heute