Gerd Pfeifer

...des Lied ich sing'


Скачать книгу

Augen und vermied danach jeden persönlichen Kontakt mit Georg.

      Georgs Bemerkung blieb ohne erkennbare Folgen. Dass seine Partei den Minister, der Zinsen nicht von Annuitäten zu unterscheiden wusste, wenige Wochen nach der Einweihung der Wohnmaschine tatsächlich zur Abdankung zwang und ihn durch einen noch weniger geeigneten Parteifreund ersetzte, wollte Georg nicht auf seine Fahnen schreiben. Später wurde der ohne besondere Ehren entlassene Ressortchef neben einer Reihe anderer abgehalfterter Politiker in den Aufsichtsrat einer staatlichen Mittelstandsbank berufen, die während einer kleineren Börsenturbulenz mit Milliardenbeträgen aus Steuermitteln saniert werden musste. Keiner der Verantwortlichen wurde zur Rechenschaft gezogen. Die vor der politischen Macht sich fügende Presse nannte nicht einmal Namen.

      Das alles ist lange her. Der entmachtete Minister lebt nicht mehr. Wahrscheinlich hatte er Georgs Einwurf nach ein paar Tagen vergessen. Politiker müssen belastbar sein.

      Der alte Mann seufzt. Heute enthält er sich solcher Eskapaden. Nicht weil ihm der Mut fehlte oder die eher kindische Freude an der Provokation. Aber es ist so sinnlos, die Dummheit in der Politik bekämpfen zu wollen. Nicht einmal Lächerlichkeit kann ihre absurde Selbstverliebtheit beeinträchtigen. Politiker sind nicht von diesem Stern. Sie leben in einer virtuellen Welt, die mit dem Leben ihrer Wähler, die sie wie unmündige Kinder zu gängeln belieben, nichts gemein hat.

      Der alte Mann ruft sich zur Ordnung. Er ist zu alt, um sich derart gehen zu lassen. Andererseits sind diese Momente, da er sich ärgert und sein Herz schneller schlägt, die wenigen Augenblicke, in denen er spürt, dass er noch lebt – allen Ärzten zum Trotz. Er lächelt breit und zufrieden vor sich hin. Wie im Schlaf nach einem schönen Traum.

      An den Inhalt seiner nächtlichen Träume kann er sich selten erinnern. Meistens durchlebt er in ihnen immer wieder einander ähnelnde Situationen: Er befindet sich auf einer verzweifelten Suche – nach seinem Auto, einem Hotel, einer fremden Haustür, nach seinem Büro oder einer Verabredung. Er hat es eilig, möchte pünktlich sein. Äußerlich ruhig überlegt er methodisch, warum er den rechten Ort nicht findet. Befremdliche Hindernisse geraten ihm in den Weg. Er steigt über Zäune und Hecken, befreit sich aus schmerzhaftem Dornengestrüpp, überwindet Sumpf- und schmutzige Wasserflächen, steht vor verschlossenen Türen, leidet unter zäher Bewegungsunfähigkeit, kommt trotz quälender Anstrengung nicht voran, seine Höhenangst macht ihm zu schaffen. Niemals kommt er an, und wenn er resigniert die Suche abbricht, erwacht er. Und hin und wieder überfällt ihn auch sein Kriegstraum.

      Vor Jahren hat er versucht, den ständig wiederkehrenden Traumthemen und ihren unbefriedigenden Abläufen einen Sinn abzutrotzen. Er hat Bücher gekauft und über manifeste und latente Trauminhalte, über Verdichtung, Verschiebung und symbolische Darstellung der Traumarbeit und über die Zensur des Ich gelesen. Für eine auch nur annähernd fassbare Traumdeutung hat die Lektüre nicht gereicht. Sie hat nur sein Vorurteil bestärkt, dass Psychologie aus kabbalistisch verbrämten Binsenwahrheiten besteht, die mit einer kryptischen Terminologie einen unhaltbaren Wissenschaftsanspruch erhebt. Er hält sie für Scharlatanerie.

      Inzwischen hat er eine Sitzposition in der Wanne gefunden, die seinen schmerzenden Rücken entlastet. Noch ein letztes Mal lässt er heißes Wasser nachlaufen. Entspannt schließt er die Augen, verweilt behaglich an der Schwelle zwischen Schlaf und Wirklichkeit, auf seinen Lippen immer noch das gelassene Lächeln.

      Es ist erstaunlich, wie genügsam die Wonnen des Alters werden. Noch in seiner Jugend fürchteten die Leute, in einer gefüllten Badewanne einzuschlafen. Er entsinnt sich der Mahnungen seiner Mutter, er könne träumend ertrinken. Es fasziniert ihn, wie schnell scheinbar gesichertes Wissen veraltet. Worüber die heutigen Generationen wohl in fünfzig Jahren belustigt lächeln werden? Vielleicht über das schwafelnde Gerede der gegenwärtig regierenden Politiker? Kein junger Mensch, der heute lebt, kann begreifen, wie halbwegs vernünftige Leute in den dreißiger und vierziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts die geifernden Hetztiraden eines Adolf Hitler ernst nehmen konnten. Zugegeben, heute klingt das alles schwülstig, antiquiert und unglaubwürdig. Aber damals trafen begnadete Redner wie Goebbels oder der Führer aller Deutschen den Geist der Zeit. Die Leute waren begeistert. Und der leichtgläubige Pöbel ließ sich gern aufhetzen. Georg erlebte ihn hautnah.

      Es geschah, nachdem er von einem Besuch seiner Eltern nach Berlin zurückgekehrt war. Zu seinem zwanzigsten Geburtstag – '... und in einem Jahr bist du volljährig und kannst auf eigenen Füßen stehen ...', hatte seine Mutter geschrieben – erhielt er zusammen mit den üblichen Glückwünschen die Mitteilung, dass sie endlich die richtige Immobilie für ihr Café gefunden habe. Die Gelegenheit sei derart günstig gewesen, dass sie das Gebäude sogar fast ohne Fremdmittel habe kaufen können. 'So hat sich die Wirtschaftskrise für deinen Vater und mich doch noch zu einem Segen entwickelt', schrieb sie.

      Er war, sobald er ein paar freie Tage erhielt, nach Altona gefahren, um das Haus zu besichtigen und die Lage zu beurteilen. Er fühlte sich seinen Eltern inzwischen auch in fachlicher Hinsicht überlegen. Tatsächlich war er der Meinung, sie in letzter Minute vielleicht noch vor einem Fehlgriff bewahren zu müssen. Aber seine Befürchtungen erwiesen sich als grundlos:

      Es handelte sich um ein schönes Eckhaus, das vor elf Jahren gebaut worden war und einem jüdischen Arzt gehörte, der mit seiner Familie ins Ausland wollte. Insoweit war es ein Notverkauf und entsprechend preisgünstig. Für einen flüchtigen Augenblick versetzte sich Georg in die Lage der Auswanderer und schätzte sich glücklich, dass sein Vater kein Jude war. Tiefere Gedanken machte er sich nicht. Viele Juden gingen außer Landes. Es war nicht ihre Zeit in Deutschland. Später unter einer anderen Regierung würde sich das wieder ändern. Dann wären es vielleicht die Katholiken oder die Kommunisten, der Adel, die Polen die Schurken aus den Schurkenstaaten, die Muslime, die Heuschrecken, die Besserverdienenden oder die Gastwirte, die Leute, die fliehen müssten. Neue Regierungen brauchen neue Opfer. Und niemand weiß, wen es das nächste Mal trifft. So ungewiss ist das Leben für die Leute draußen im Land; und das war nicht nur Georgs Meinung.

      Aber das Haus, das seine Eltern gekauft hatten, versprach ein Stück sichere Zukunft. Es war beinahe ideal geeignet für die Realisierung der Pläne seiner Mutter. Das etwas erhöht liegende Erdgeschoss konnte mit einem modernen Glasvorbau in den breiten Garten zur Straße hin erweitert werden. Es würde ein attraktiver Wintergarten entstehen – etwas völlig Neues im Viertel –, der dem baulichen Ensemble eine gewisse herrschaftliche Note verliehe, meinte selbst sein Vater.

      Die Ausbaupläne waren bereits genehmigt, der notarielle Kaufvertrag geschlossen und der Kaufpreis in bar – das hatte den Ausschlag gegeben – entrichtet. Einen kleinen Kredit brauchten seine Eltern nur noch für den Umbau. Sie besaßen die Angebote mehrerer Banken, die sich vom hohen Eigenkapitalanteil des Gesamtfinanzplans beeindruckt zeigten.

      Auch die Brauerei, mit der sein Vater seit Jahren zusammenarbeitete und die Verpächterin der Bierschwemme in Berlin war, in der Georg arbeitete, zeigte sich interessiert. Sie wollte die gesamten zusätzlichen Um- und Ausbaukosten im Rahmen eines Getränkeliefervertrags finanzieren.

      Hier waren sich Georgs Eltern nicht einig. Wilhelm neigte dazu, die Offerte der Brauerei anzunehmen:

      "Ich arbeite schon lange mit ihnen zusammen", argumentierte er. "Sie haben mich noch nie im Stich gelassen, weder in guten noch in schlechten Zeiten."

      "Du hast ja auch immer pünktlich gezahlt", warf seine Mutter ein. "Für die Brauerei hat es mit uns noch nie schlechte Zeiten gegeben."

      "Das ist doch der Punkt", widersprach sein Vater. "Die Leute kennen mich, und wenn – gerade zu Anfang – das Café nicht so laufen sollte, wie du dir das vorstellst - - "

      Seine Frau wollte protestieren, aber Wilhelm hob beschwichtigend die Hand und mahnte:

      "Du steckst da auch nicht drin - - und wenn es wirklich nicht so anläuft, wie du das ausgerechnet hast, dann kann man mit den Brauereileuten sicher besser reden als mit der Bank, denn die hat doch keine Ahnung von unserem Geschäft. Die finanzieren nur das Haus."

      Georg schwieg zu dem Disput. Er hatte nicht die Absicht, sich zu exponieren und später vielleicht Vorwürfe hören zu müssen, weil er dieser oder jener Meinung zuneigte. Aber er stand Verträgen mit Brauereien grundsätzlich