Gerd Pfeifer

...des Lied ich sing'


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Bruder, war sich aber wohl bewusst, dass er nicht die Absicht hatte, sich auf Dauer mit dieser Rolle abzufinden. Was dann geschehen würde – darüber waren sich beide nicht im Klaren. Feststand, dass sie fast sechs Jahre älter war als Georg. Aber nicht selten benahm er sich erwachsener als sie. Dann fühlte sie sich in seiner Gegenwart plötzlich jung und unerfahren, und er wurde vorübergehend ihrem Vater ähnlicher als es seinem Alter zustand. Jedenfalls fand sie es schmeichelhaft, von ihm bewundert zu werden – und alle anderen Entscheidungen schob sie vor sich her, auch wenn ihre Mutter ihr unmissverständlich zu verstehen gab, dass sie das geschwisterliche Verhältnis, in das sie ihn gedrängt hatte, nicht endlos fortsetzen konnte.

      "Sieh' ihn an! Er ist ein Mann und eines Tages wird er sich dessen bewusst werden!", warnte sie ihre Tochter.

      Diese Gefahr allerdings war geringer als ihre Mutter fürchtete. Er hatte längst gelernt, mit seiner Männlichkeit umzugehen und lebte mit Marie auf eine recht unkomplizierte Art zusammen. Mit ihren Hotelbesuchen verdiente sie mehr Geld als er. Es hatte sich ein Kreis von Stammkunden gebildet, die Maries Dienste ziemlich regelmäßig in Anspruch nahmen. Neue Bekanntschaften schloss sie mehr aus Neugier als aus Notwendigkeit, und wenn jemand glaubte, so etwas wie Besitzansprüche geltend machen zu können, brach sie die Verbindung rundheraus ab. Auf eine gewisse Weise blieb sie ihrem nächtlichen Beschützer ein Rätsel.

      Sie war selten misslaunig oder ihrer Freier überdrüssig. Wenn sie ihn bat, sie zu einer neuen Bekanntschaft zu begleiten – nur dann sprach sie über ihre Eindrücke, die sie von dem Mann besaß, später schwieg sie sich aus, auch wenn Georg das eine oder andere Mal fragte, ob sich ihre Erwartungen erfüllt hätten –, war sie voller Vermutungen und einer gewissen Vorfreude, die er nicht verstand, wohl auch nicht verstehen wollte. Und was ihn mehr noch als alles andere wunderte, war ihr ungetrübtes Verlangen, ihre Lust und ein beinahe kindliches Begehren nach immer mehr Zuwendung, wenn sie später mit ihm schlief.

      Aber im Grunde machte er sich nicht viel Gedanken über Maries Seelenleben. Sie verlangte nicht mehr von ihm als er zu geben bereit war. Das machte ihr Zusammenleben unkompliziert. Für ein bisschen Sicherheit, die er ihr garantierte, wurde er ordnungsgemäß bezahlt und alles Weitere würde sich zur rechten Zeit finden. Denn dass sie nicht auf Dauer so würden weiterleben können, war beiden bewusst.

      Natürlich wusste Ellen nichts von Maries Existenz. Und Marie ahnte allenfalls, dass Georg gelegentlich eine andere Welt besuchte, die sicher nicht ohne Frauen war. Aber selbst wenn sie Ellen und Georgs Gespräche mit ihr gekannt hätte – als Gefahr würde sie die gerade noch im heiratsfähigen Alter und in ihren Augen vertrocknete alte Jungfer Ellen nicht wahrgenommen haben.

      Seine Berliner Zeit betrachtete Georg als Lehrjahre. Nicht erst im Nachhinein. Jede Minute, die er auf dem verfetteten Holzrost hinter dem Ausgabetresen verbrachte, erinnerte ihn daran, dass er mehr wollte als die Kontrolle über eine Handvoll serviler Kellner. Fremdbestimmte Arbeit war ihm suspekt. Es war Sklavenarbeit. Und er wollte kein Sklave sein. Natürlich gibt es keine völlige Unabhängigkeit. Seine fast schon illusionären Zukunftspläne verschlossen ihm nicht die Augen vor der Erkenntnis, dass er wie alle anderen in einer Welt von gegenseitigen Abhängigkeiten gefangen war. Aber in dieser Welt der Repressionen war er gewillt, um jeden Fußbreit persönlicher Freiheit zu kämpfen. Das erzählte er Marie während der seltenen Augenblicke, in denen er seinen postkoitalen Offenbarungsbedürfnissen nachgab. Darüber diskutierte er mit Doktor Max, wenn sie nach dem Training ein Bier miteinander tranken, weil alle anderen Getränke, die eigentlich beide bevorzugten, im Vereinsheim als unmännlich galten. Und natürlich breitete er seine Wunschvorstellungen auch aus, wenn er zusammen mit Ellen ihre Arbeitspausen in dem kleinen Café wie einen geheimen Schatz genoss.

      Weitere Vertraute besaß er nicht. Er war kein geselliger Mensch. Zwangloses Beieinander war ihm in der Schankstube seines Vaters zu einem Vorwand für Trinker geworden. Extrovertiert war er nur im Beruf. Seine scheinbare Offenheit war professionell, auf ein Trinkgeld oder andere Vorteile gerichtet. Insoweit war er ein einfacher Charakter.

      Der alte Mann liegt in seiner Badewanne

      Er hält die Augen geschlossen und denkt über seine Jugend nach. Das heiße Wasser besänftigt seinen schmerzenden Rücken. Aber ganz durchdringt die Wärme seinen gebrechlichen Körper nicht mehr. Auf seiner Stirn stehen Schweißperlen, dennoch ist ihm kalt. Hin und wieder schreckt er aus dem Sekundenschlaf alter Leute, dem er sich willig überlässt, öffnet den Wasserzulauf und mischt heißes Wasser unter den Schaum, der gnädig seinen faltigen Körper verhüllt.

      Er leidet nicht unter Schlaflosigkeit. Wenn er gegen elf oder zwölf Uhr abends sein Bett aufsucht, schläft er sofort ein. Am nächsten Morgen erwacht er zwischen fünf und sechs Uhr. Dann liegt er zwischen den warmen Laken und führt gemächlich seine Gedanken spazieren. Bis er rund zwei Stunden später ins Bad geht, um sich für sein einsames Frühstück anzukleiden. Er liebt diese Zeitspanne zwischen Wachen und Träumen. Für ihn ist sie die produktivste Zeit des Tages. Zwar sind die meisten Gedanken, denen er während dieser Wachträume nachhängt, praktisch wertlos. Es geschieht selten, dass er sie für das tägliche Einerlei nutzen kann. Aber sie beweisen ihm, dass er noch nicht völlig senil ist.

      In diesen zwei Stunden spricht er mit den Geistern seiner Vergangenheit. Öfter noch diskutiert er politische Alltagsfragen, soweit sie ihn interessieren. mit imaginären Kontrahenten. Er versucht, seine Überzeugungen dezidiert zu formulieren, entwirft diffamierende Äußerungen und polemisiert gegen Politiker im Allgemeinen und ihre Steuerpolitik im Besonderen. Hier entstehen die einstudierten Texte seiner verbalen Ausfälle gegen das Zeitgeschehen, dem er sich mehr und mehr entzieht, gegen die Agitatoren der öffentlichen Meinung, gegen die Protagonisten der political correctness und die Beschränkung persönlicher Freiheiten durch den Staat zu Gunsten einer versprochenen, aber nicht realisierbaren Sicherheit, gegen die Diffamierung seiner Generation durch die aktuelle Geschichtsschreibung, gegen das Weltgeschehen in Vergangenheit und Gegenwart und gegen die deutschen und alle anderen Politiker.

      Vor Utas Tod stritt er in diesen frühen Morgenstunden stumm mit ihr über das Scheitern ihrer Ehe. Er rekapitulierte, was sie ihm vorgeworfen hatte. Schlagfertig war er noch nie gewesen. Aber hier im Morgengrauen fielen ihm die richtigen Antworten ein. Er stellte sich vor, wie er hätte argumentieren können, wenn ihm die eloquenten Erwiderungen rechtzeitig über die Lippen gekommen wären.

      Diese im Geiste geführten Auseinandersetzungen enthoben ihn der Mühe, tatsächlich mit ihr zu streiten. Er hatte bereits alle Argumente in seiner Fantasie mit ihr ausgetauscht. Es gab nichts mehr zu sagen. Sie waren sich in seiner virtuellen Welt nicht einig geworden; in der Realität würden sie ebenso ergebnislos streiten. Der Aufwand, die Diskussionen mit ihr tatsächlich zu führen, lohnte nicht. Und so unterblieben die Gespräche, die ihre Ehe vielleicht gerettet hätten.

      Ein Mal nur hatte er der Versuchung nicht widerstehen können, einen morgens im Geiste formulierten Zynismus tatsächlich anzubringen. Das war anlässlich der offiziellen Einweihung einer damals dem letzten Schrei moderner Architektur entsprechenden Wohnmaschine. Zusammen mit dem bekannten Kaffeeröster und einer gräflichen Vermögensverwaltung hatte er eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts gegründet, die als Bauherrin aufgetreten war.

      Die publikumswirksamen Namen hatten den damaligen Bundeswohnungsbauminister – eine Charge, die es wegen der allgemeinen Wohnungsnot zu der Zeit noch gab – angelockt. Er kam mit seinen Beschützern, die angestellt waren, ihr Leben für ihn zu opfern, und großer Entourage angerauscht, um sich vor dem scheußlichen, fand Georg, Betonbau filmen und fotografieren zu lassen.

      Leutselig unterhielt er sich vor den Kameras mit den Bauherren, als Georg ihn mit scheinheiliger Verwunderung fragte, ob er sich denn für derart unersetzlich und wichtig halte, dass er selbst in der politischen Provinz ein mit Steuern der kleinen Leute finanziertes, schusssicher gepanzertes Auto benutzen müsse. Minister seien doch beliebig austauschbar, wie man aus der Prozedur der Regierungsbildung wisse, in deren Verlauf die Ministrablen wahllos und ohne Eignungsnachweis die Ministerien unter sich aufteilen. Da sei der Aufwand für vorsorgliche Lebensrettungsmaßnahmen doch eigentlich nutzlos verschwendet, vielleicht sogar Missbrauch von Steuermitteln.

      Der Minister