Gerd Pfeifer

...des Lied ich sing'


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dir vor, es gibt noch einmal eine Inflation", stritt sie weiter, "dann tilgen wir den gesamten Bankkredit mit einer Tageseinnahme und haben ein schuldenfreies Haus ohne Brauereibindung und andere Wertminderungen."

      Georg wunderte sich. Seine Mutter hatte die Verträge tatsächlich gelesen und die wichtigen Teile offenbar auch verstanden. Zum ersten Mal fand er die Idee, ein Café unter der Leitung seiner Mutter zu betreiben, nicht mehr völlig abwegig.

      Und seine Mutter setzte sich durch.

      Vor allem ein Argument überzeugte Wilhelm: "Wenn es wirklich Schwierigkeiten geben sollte, können wir den Bankkredit immer noch mit einem Brauereidarlehen ablösen."

      Das überzeugte seinen Vater, und insbesondere versetzte es ihn in die Lage, seinen Vertrauten aus der Brauerei die Ablehnung des Angebots ohne Gesichtsverlust zu begründen.

      Georg war mit der Entwicklung und dem Ende der Diskussionen zufrieden. Allerdings hatte er damit gerechnet, dass die alten Herrschaften ihn bitten würden, zurückzukommen und wenigstens während der Eröffnungsphase Hilfe zu leisten. Aber offenbar hielten es seine Eltern für selbstverständlich, dass er inzwischen ohne sie auskam, auch wenn er erst in nunmehr einem halben Jahr volljährig sein würde. Ebenso wenig bedurften sie seiner Hilfe. Er war freiwillig nach Altona gekommen, um ihre Pläne zu begutachten. Sie hatten ihn nicht gerufen. Aber ein wenig enttäuscht war er doch.

      Seine Mutter, die das Gastzimmer der Eckkneipe seines Vaters kaum noch betrat – als ob es der zukünftigen Inhaberin eines bürgerlichen Cafés unwürdig sei, Trinker und Taugenichtse, aus denen Wilhelms Kundschaft nach ihrer Meinung vorwiegend bestand, freundlich zu bedienen –, fragte ihn beiläufig nach seinem Liebesleben. Er empfand die überraschende Einmischung in sein Privatleben als ungehörig, gab aber nach kurzem Zögern bereitwillig Auskunft über beide, Marie und Ellen. Er verschwieg die Rolle, die er in Maries Dienstleistungsgewerbe übernommen hatte. Vielleicht hätte seine Mutter moralische Bedenken geäußert. Aber sonst redete er ziemlich frei über sein Leben mit Marie.

      "Hauptsache, du bindest dich nicht zu früh", sagte seine Mutter nur.

      Und dann berichtete er in einem Augenblick familiärer Vertrauensseligkeit auch noch von seinen Ausflügen ins Berliner Kulturleben mit Ellen. Er war der Meinung, es müsse sie freuen, wenn er gleichsam zwei Stufen der gesellschaftlichen Hierarchie auf einmal erklomm. Aber er hatte sich getäuscht. Seine Mutter war eher entsetzt als begeistert:

      "Das muss ein Ende haben", meinte sie finsteren Blicks. "Ihr passt nicht zusammen. So hoch hinaus – das kann kein gutes Ende nehmen. Du musst immer daran denken, woher du kommst."

      Er wollte widersprechen, sie auslachen, ihr sagen, dass zum Glück das gesellschaftliche Kastenwesen der modernen Welt bedeutungslos, wenigstens aber durchlässig geworden sei. Aber seine Mutter hörte nicht mehr zu. Sie schüttelte verständnislos ihren Kopf und murmelte empört vor sich hin:

      "... Gesangsunterricht - - lächerlich ..."

      Sie wusste schon immer: Bildung macht unzufrieden. Und Bücher verderben den Charakter. Sie sprachen nie wieder über seine Frauen.

      Georg kehrte nach Berlin zurück. Es war fast wie eine Heimkehr. Sein Elternhaus war ihm fremd geworden. Während der Eisenbahnfahrt dachte er über seine Eltern nach. Er konnte nicht leugnen, dass er sie auf eine gewisse Art beneidete. Sie hatten es geschafft. Ihr Ziel, den sozialen Aufstieg zu Kaffeehausbesitzern hatten sie erreicht. Er wusste nicht, ob sie nun glücklicher waren als zuvor; aber er spürte, dass sie – wäre der Umbau erst einmal fertiggestellt und das Café eingerichtet – ihr Leben als vollendet betrachten würden. Der Kreis hatte sich für sie geschlossen. Sie würden sich berechtigt fühlen, in Würde abzutreten, wenn die Zeit gekommen war. Er musste sich um sie keine Sorgen machen.

      Aber Ellen beunruhigte ihn. Auf dem Weg zu dem kleinen Café – gleich sein erster Weg in Berlin hatte ihn in die Buchhandlung geführt – war sie fahrig, und als sie an ihrem gewohnten Tisch saßen und ihren Kaffee tranken, schaute sie an ihm vorbei. Offenbar verbarg sie etwas vor ihm. Ihre Hände wollten nicht zur Ruhe kommen. Sie spielte mit dem Kaffeelöffel, nahm die Zange aus der Zuckerdose, rückte ihre Tasse zurecht und antwortete geistesabwesend auf seine Fragen.

      Erst als er sich über den schmalen Tisch lehnte, ihre Hände festhielt – es war die erste gesellschaftlich nicht unbedingt sanktionierte Berührung – und ihren leeren Redefluss mit einem lauten Räuspern unterbrach, blickte sie ihn an. Mitten im Satz hörte sie auf zu sprechen, biss auf ihre Lippen, senkte den Blick und studierte das Muster des nicht mehr ganz sauberen Tischtuchs. Dann wurde sie sich seiner Berührung bewusst, zog beinahe brüsk ihre Hände zurück und sagte tonlos:

      "Wir dürfen uns nicht mehr sehen."

      Er hatte mit allerlei weiblichen Zierereien gerechnet, die er hätte belächeln können. Auch die Sorgen einer verwöhnten Tochter aus gutem Haus, die sie bei aller Intelligenz und Belesenheit – und allen Klischees eines Zeitalters der Emanzipation zum Trotz – auch war, hätte er mit seinem jungenhaften Optimismus beiseite gewischt. Aber dieser Verzweiflung, dieser stillen Resignation, mit der sie ihrer Freundschaft ein Ende bereiten wollte, hatte er nichts entgegenzusetzen. Verblüfft sah er sie an, sprachlos und überrumpelt.

      Schließlich fragte er: "Was ist geschehen?"

      Seine Stimme schwankte, und er versuchte, seine plötzliche Heiserkeit durch ein trockenes Hüsteln zu verbergen. Es klang affektiert, und später glaubte er, sie für eine Weile mit offenem Mund angestarrt zu haben. Zuerst schüttelte sie nur den Kopf als schäme sie sich, seine Frage offen zu beantworten; doch als er insistierte, erzählte sie stockend, was sie derart aufgewühlt hatte. Und zum ersten Mal seit er denken konnte trat die Politik tatsächlich in sein Leben.

      Die im April verbotenen Wehrorganisationen der Nationalsozialisten waren im Juni wieder zugelassen worden. Die Folgen waren blutige Freudenfeste der braunen Horden, wie sie von einem kleinen Teil der Presse genannt wurden. Die meisten Zeitungen und der größte Teil der Bevölkerung standen längst hinter ihnen. Sein Vater hatte ihm von Schlägereien in Altona erzählt. Er nahm solche Prügeleien, selbst wenn ein wenig Blut floss, nicht besonders wichtig. Pack schlägt sich, Pack verträgt sich, war eine stehende Redewendung in seinem Elternhaus. Wilhelm hielt seine Gaststube mit resoluter Körperkraft, einem Gummiknüppel unter der Theke und einem stählernen Totschläger neben der Kasse sauber. Wenn die Polizei eintraf – falls sich uniformierte Beamte überhaupt die Mühe machten, in das Arbeiterviertel auszurücken –, war in aller Regel schon wieder Ruhe eingekehrt. Wilhelm ließ nicht zu, dass an seinem Tresen handgreiflich über Politik oder Religion diskutiert wurde.

      "Das macht gefälligst draußen. Im Regen", sagte er und behielt seine Rechte vorsorglich unter dem kupfernen Spülbecken. Oder:

      "Bei mir ist jeder gern gesehen, der seinen Schnaps bezahlt." Und:

      "Ob du an den lieben Gott, einen Sack Zement oder daran glaubst, dass zwei Pfund Rindfleisch eine gute Suppe machen, geht mich einen Scheißdreck an. Und deinen Nachbarn auch." Und immer wieder:

      "Politik ist ein schmutziges Geschäft."

      Insoweit war Georg der Sohn seines Vaters. Religion und Politik standen auf der Liste seiner Tabuthemen. Niemals hätte er Ellen oder ihre Eltern nach ihren politischen oder religiösen Ansichten gefragt. Auch Maries Wunsch, am Sonntagmorgen in die Kirche zu gehen, hatte er nicht kommentiert. Nur mitgehen wollte er nicht.

      Aber nun wurde er plötzlich mit dem ganzen politischen Dreck der Gegenwart konfrontiert. Und am widerwärtigsten war, dass Ellen von ihm erwarten durfte, Stellung zu beziehen, Partei zu ergreifen, eine Meinung zu vertreten – Dinge, die ihm zutiefst zuwider waren. Schweigend hörte er zu:

      "Sie haben Vaters Apotheke beschmiert", erzählte sie mühsam beherrscht. Ihr tränenloses Gesicht mit den roten Flecken nervöser Anspannung auf Stirn und Wangen beschämten ihn. Lieber hätte er sie weinen sehen – eine weibliche Reaktion, die er kannte. Aber ihre tonlose Stimme, die fahrigen Bewegungen mit der flachen Handfläche über das Tischtuch, die flatternden Augenlider und das Unvermögen, ihn ruhig anzusehen - - all die äußeren Zeichen innerer Zerrissenheit machten ihn verlegen.

      Vor